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# taz.de -- Historiker über Wege zum Frieden: „Wann ist Krieg reif für Frie…
> An vielen Orten auf der Welt herrscht Krieg. Wie kann hier nachhaltiger
> Frieden geschlossen werden? Ein Gespräch mit dem Historiker Jörn
> Leonhard.
Bild: Britische und deutsche Soldaten schließen an Weihnachten 1914 an mehrere…
wochentaz: Herr Leonhard, kann man aus der Geschichte lernen, wie man
Kriege beendet?
Jörn Leonhard: Die Geschichte liefert keine Blaupause für die Gegenwart.
Man kann Entscheidungen, die man jetzt treffen muss, nicht an sie
delegieren. Sie hilft aber, genau hinzuschauen: Mit welchen Konstellationen
muss man am Ausgang eines Krieges rechnen? Welche Hürden gibt es, welche
Handlungsmöglichkeiten? Man sieht in der Gegenwart mehr, wenn man diese
Spannbreite von Möglichkeiten kennt.
Zurzeit beschäftigen uns zwei Kriege besonders, die sehr unterschiedlich
sind: [1][im Nahen Osten] und [2][in der Ukraine]. Wie würden Sie diese
charakterisieren?
In der Ukraine haben wir es – wie bei den meisten Kriegen – mit einem
Hybrid aus verschiedenen Kriegsarten zu tun. [3][Es ist aus russischer
Sicht ein Krieg, der sehr viel mit imperialen Geschichtsbildern zu tun
hat.] Aus Putins Sicht ist es aber auch ein Krieg um eine Werteordnung. In
praktisch jeder Rede greift er die angebliche moralische Dekadenz des
Westens an. Aus Sicht der Ukraine ist es dagegen ein Abwehrkrieg zur
Verteidigung des souveränen Territoriums und ein Krieg um die eigene
Nationsbildung. Es geht in diesem Krieg aber auch um die Chancen einer
regelbasierten internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert. Denn wenn
Russland Erfolg hat, wird das andere ermutigen, ähnlich vorzugehen.
Und im Nahen Osten?
[4][Dieser Krieg hat eine längere Vorgeschichte]. Ein wesentlicher
Unterschied zur Ukraine besteht darin, dass es im Nahen Osten etablierte
Vermittler gibt, mit den USA gegenüber Israel, mit Saudi-Arabien, Katar,
vielleicht auch Ägypten gegenüber den Palästinensern. Der Krieg in Gaza ist
sehr viel kleinräumiger. Auch die Verbindung von Krieg und Terror hat hier
eine neue Qualität, denn [5][die Hamas ist kein Staat, sondern eine
Terrororganisation]. Sie besitzt kein politisches Mandat, das Israel für
ernsthafte Verhandlungen akzeptieren könnte. Hier zeigt sich exemplarisch,
dass der Charakter des Krieges bestimmt, welche politischen Akteure Frieden
schaffen könnten.
In Ihrem Buch über das Ende von Kriegen unterscheiden Sie vier Szenarien.
Können Sie diese kurz skizzieren?
Das erste Szenario, mit dem zu Beginn oft kalkuliert wird, ist der schnelle
Sieg durch eine Entscheidungsschlacht. Militärs geben vor, dass sie mit
ausgefeilten Plänen und Waffentechnologien eine schnelle Entscheidung
erzwingen könnten. Der Erste Weltkrieg begann mit der Erwartung, dass die
Soldaten in drei Monaten wieder zu Hause seien. Ebenso der deutsche
Überfall auf die Sowjetunion 1941. Und auch bei dem großflächigen Angriff
Russlands auf die Ukraine waren sich viele Experten sicher, dass die
Ukraine keine 72 Stunden überleben könne. Schnelle Entscheidungen sind aber
eher die Ausnahme, und im 20. Jahrhundert entwickelten sich die meisten
größeren Konflikte zu langen Kriegen. Deshalb ist der Blick auf die anderen
Szenarien aufschlussreicher.
Wie sehen die aus?
Das zweite Szenario ist das militärische Patt. Allerdings wird auch das oft
von der Hoffnung geprägt, doch noch eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld
erzwingen zu können. Wo das nicht geschieht, entsteht aus dem Patt häufig
ein langwieriger Abnutzungskrieg. In ihm spielen Ressourcen eine zentrale
Rolle – dabei geht es nicht allein um die Zahl von Granaten oder Panzern,
sondern auch um Finanzmittel und [6][die Deutungshoheit über Bilder und
Nachrichten]. All das, was wir im Ukrainekrieg im Augenblick erleben. Die
westliche Meinungsbildung und die US-Präsidentschaftswahlen werden zu
Kriegsressourcen, genauso wie während des Vietnamkriegs die Nordvietnamesen
genau auf die Friedensbewegung in den USA achteten.
Gibt es einen Ausweg aus dem Abnutzungskrieg, außer bis zur totalen
Erschöpfung weiterzukämpfen?
Das wäre mein drittes Szenario. Wenn bei den Akteuren die Einsicht wächst,
dass der Krieg nicht militärisch entschieden werden kann und sie von einer
Fortsetzung der Kämpfe weniger zu erwarten haben als von einem politischen
Ausweg, kann der Moment für eine Vermittlung gekommen sein. Dann kann ein
glaubwürdiger Vermittler einen Ausweg in kleinen Schritten skizzieren – sei
es über eine Waffenpause, einen Waffenstillstand, eine international
abgesicherte Sicherheitszone. Das vierte Szenario verweist auf das Ende von
Kriegen, das nach 1945 immer häufiger eintrat: Der Krieg endet nicht mit
einem klassischen Friedensvertrag, sondern als verlängerter
Waffenstillstand, der den Konflikt einfriert, aber Spielräume für
Eskalationen auf niedrigerem Gewaltniveau erlaubt.
Haben Sie ein Beispiel?
Der Koreakrieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, der seitdem über
100.000 Mal verletzt wurde – [7][wenn man alle Grenzzwischenfälle
zusammenzählt]. Das könnte für die Ukraine leider auch ein realistisches
Szenario sein. Damit endet zwar zunächst die große militärische Eskalation,
aber es entwickelt sich eine blutende Grenze, an der es immer wieder zu
lokalen Konflikten kommt. Ein solcher Waffenstillstand kann immer auch von
einer Seite als taktische Pause genutzt werden, um aufzurüsten und bei
nächster Gelegenheit wieder zuzuschlagen.
Sehen Sie in der Ukraine im Moment einen Abnutzungskrieg?
Ein Abnutzungskrieg würde voraussetzen, dass die Ukraine vom Westen
weiterhin stark unterstützt wird, weil sie sonst ihre
Verteidigungsfähigkeit verliert und den russischen Angreifern nichts
entgegenzusetzen hätte. Im Moment setzt Putin auf die Ressource Zeit, die
für ihn arbeitet. Dass in den USA [8][die Republikaner unter Trumps
Einfluss von der Ukrainehilfe abrücken], ist ein verheerendes Zeichen. In
Europa sehen wir in Ungarn, der Slowakei und [9][in den Niederlanden mit
dem Wahlerfolg von Geert Wilders] Risse in der Unterstützung für Kyjiw. Und
es fehlt in Paris und Berlin eine strategische Antwort auf einen möglichen
Wechsel im Weißen Haus.
Besitzen Autokratien in Kriegen Vorteile gegenüber Demokratien, weil sie
zum Beispiel einfacher auf eine Kriegswirtschaft umstellen können und es
keine Öffentlichkeit gibt, die Entscheidungen kritisch hinterfragt?
Sie nutzen jedenfalls zunächst taktische Vorteile aus, aber langfristig
können sie auf Glaubwürdigkeitskrisen zusteuern. Demokratien sind in der
Regel besser gewappnet, um Kriegslasten langfristig zu verteilen, sie
agieren auch in Krisen transparenter in der Kommunikation. Im Ersten
Weltkrieg gingen die Regierungen in Paris und London früh auf die
Gewerkschaften zu, um die Arbeiter zu integrieren. Angesichts der
autokratischen Militärmonarchie wurde in Deutschland im Verlauf des Krieges
die fehlende Parlamentarisierung des Regimes immer schärfer kritisiert. Ab
1917 erodierte bei den Mittelmächten das Vertrauen in die politischen
Führungen. In langen und verlustreichen Kriegen können sich plötzlich
Kipppunkte für die Glaubwürdigkeit eines politischen Systems entwickeln –
und es ist kein Zufall, dass sich 1917/18 in den Autokratien Russland und
Deutschland Revolutionen entwickelten, während die Demokratien überlebten.
„Ein erstes Zeichen zur Friedensbereitschaft auszusenden, erweist sich oft
als besonders schwierig“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Weshalb ist das so?
Eine der schwierigsten Fragen lautet: Wann ist ein Krieg wirklich reif für
den Frieden? Für diesen Moment müssten alle am Konflikt beteiligten Akteure
von einer politischen Lösung mehr erwarten als von der Fortsetzung der
Kämpfe. Signalisiert nur eine Partei Konzessionsbereitschaft, kann das zur
Eskalation der Gewalt führen. Denn die andere Seite schließt von solchen
Zeichen auf Erschöpfung und wird ihre militärischen Anstrengungen steigern,
um die eigenen Ziele doch noch zu erreichen. Gerade die Endphase von
Kriegen war häufig besonders blutig. Für die Ukraine bin ich skeptisch, ob
bereits der Moment für glaubwürdige Verhandlungen gekommen ist.
Sie warnen in Ihrem Buch auch vor der Gefahr eines faulen Friedens.
Ein sehr häufiges Phänomen in der Geschichte. Das bekannteste Beispiel im
20. Jahrhundert waren die Konzessionen der westlichen Alliierten gegenüber
dem Aggressionskurs Hitlers nach 1936. Als Großbritannien und Frankreich im
Münchner Abkommen von 1938 die Tschechoslowakei preisgaben, glaubte der
britische Premier Neville Chamberlain daran, er habe den Frieden in Europa
bewahrt. Faktisch aber verstärkte diese Politik bei Hitler die Überzeugung,
dass die Demokratien auch die Übertretung weiterer roter Linien akzeptieren
würden.
Im Blick zurück kann man den faulen Frieden erkennen, aber wie ist das in
der Gegenwart, wenn man noch nicht weiß, wie es ausgeht? Auf was müsste man
da achten, um zu erkennen, dass ein angebotener Ausweg aus dem Krieg nicht
ernst gemeint ist?
Das Sondieren möglicher Konzessionen ist nicht per se etwas Falsches. Es
ist wichtig, um keine einzige Chance eines Auswegs zu verpassen, um
Handlungsoptionen auszutesten, um die Kommunikationskanäle offen zu halten.
Aber die Diplomatie muss eine Antwort darauf haben, wie man mit einem
Aggressor umgeht, der sich auf die angedeuteten Zugeständnisse nicht
glaubwürdig einlässt. Etwa wenn er sich gegen internationale
Sicherheitsgarantien oder ein starkes Mandat für einen Vermittler wehrt.
Putin will territoriale Zugeständnisse und einen demilitarisierten und
neutralen Status der Ukraine, die dann in einer neuen Krise in einer sehr
schwachen Position wäre.
Was viele historische Beispiele auch zeigen: Der Weg zum Frieden ist oft
sehr langwierig.
Frieden ist kein Moment, sondern ein langer, oft widersprüchlicher Prozess.
Der erste Schritt ist häufig eine Waffenpause, in der sich testen lässt, ob
Kommunikation und ein Minimum an Vertrauen funktionieren. Der zweite
Schritt kann dann ein stärker formalisierter Waffenstillstand sein. Auf der
Basis einer so stabilisierten Situation wäre der nächste Schritt der
Versuch einer politischen Lösung. Waffenpausen werden häufig von
militärischen Kommandeuren ausgehandelt. Bei einem Waffenstillstand und
anschließenden Friedensverhandlungen kommt die Politik ins Spiel. Als
Historiker interessiert mich besonders die langfristige Gestaltung des
Friedens, wenn die Tinte unter den Dokumenten trocken ist. Anders als in
früheren Phasen der Geschichte gehört für uns zum Frieden ja nicht allein
die Vorstellung der Abwesenheit kriegerischer Gewalt. Wir verbinden damit
Gerechtigkeit, etwa die Verfolgung von Kriegsverbrechern und die
Anerkennung von Opfern, egal wie lange das dauert. Zu einem gelingenden
Frieden, der den Krieg und die Feindbilder in den Köpfen der Menschen
beendet, gehört eine Perspektive für Gesellschaften, also ökonomische
Sicherheit, politische Partizipation, Vertrauen in eine bessere Zukunft.
Ohne den amerikanischen Marshallplan wäre der europäische Nachkrieg nach
1945 anders verlaufen.
Im Ersten Weltkrieg gab es Weihnachten 1914 an manchen Stellen der Front
eine spontane Waffenruhe. Deutsche und britische Soldaten kamen aus ihren
Gräben und begegneten sich im Niemandsland.
Das ist eine im Dezember häufig erzählte Episode – und es ist völlig
nachvollziehbar, dass Menschen nach diesen Erzählungen hungern, auf die ich
als Historiker eher nüchtern blicke. Das Phänomen kennen wir aus vielen
Stellungskriegen: Soldaten in den Gräben sprechen sich spontan ab,
vereinbaren Gefechtspausen, auch um im Niemandsland zwischen den Fronten
Tote und Verletzte zu bergen. Dort trifft man sich, tauscht Lebensmittel
und Zigaretten aus. Das passierte auch an Teilen der Westfront. Als die
Kommandeure davon erfuhren, fürchtete man um die Disziplin, und Truppen der
betroffenen Frontabschnitte wurden ausgewechselt. Diese Begegnungen zu
Weihnachten 1914 blieben jedenfalls sehr lokale Ereignisse. Sie sind leider
keine Antwort auf die Frage, wie man aus einem Krieg herauskommt und
dauerhaft Frieden schließt.
25 Dec 2023
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Jan Pfaff
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