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# taz.de -- Heimatverlust in Israel: Das gebrochene Versprechen Israel
> Schon 2003 ließ die zweite Intifada die Menschen in Israel an ihrer
> Sicherheit zweifeln. Viel stärker erschüttert ist ihr Glaube an das Land
> jetzt.
Bild: Hier wurden viele Menschen von der Hamas getötet und entführt: Festival…
Oft musste ich in den Tagen seit dem Angriff der Hamas auf Israel an die
Begegnung mit einer Frau denken, die ich auf der Terrasse einer Bar am
Toten Meer traf. 2003 war das, die zweite Intifada war noch im Gange. Immer
wieder sprengten sich palästinensische Selbstmordattentäter in israelischen
Bussen, in Straßen, in Einkaufszentren in die Luft und rissen Menschen mit
sich; wahllos, kühl, hasserfüllt.
Es war schrecklich, aber die Israelis schienen sich damit abgefunden zu
haben. Wo es nachmittags einen Anschlag gegeben hatte, fuhr man abends
wieder vorbei. Nichts war zu sehen. Wie weggewischt.
Aber das schien nur so, in Wahrheit war es anders. Die Deutsche Botschaft
in Tel Aviv etwa, in deren Nachbarschaft ich damals lebte, hatte viel damit
zu tun, Pässe für Israelis mit deutschen Vorfahren auszustellen. Wer
konnte, besorgte sich einen, um notfalls anderswo unterzukommen.
Auch diese Frau, die ich am Toten Meer traf, hatte für sich und ihre
Familie deutsche Pässe geholt. Das erzählte sie mir, beiläufig fast, als
wir über „die Situation“ sprachen – „die Situation“, das war wie ein
Codewort für alles, was diese ganze, schlimme Phase des
[1][Nahostkonfliktes] mit dem Alltag der Israelis machte. Die Frau deutete
auf ihre kleine Tochter und sagte: „Vielleicht ist es besser, einfach gehen
zu können.“
## Erschüttertes Vertrauen
Wie fragil das alles ist, dachte ich. Ein Staat, der gegründet wurde, um
seinen Menschen Schutz zu bieten, eine Reaktion auf das unvorstellbar große
Verbrechen der Deutschen an den Juden. Ein Mädchen, um dessen Zukunft der
Mutter bang war.
Die Tochter müsste jetzt in einem Alter sein, in dem man das Wochenende auf
Festivals durchtanzt. Die Feiernden des Supernova-Festivals nahe dem
[2][Gazastreifen] gehörten zu den ersten Opfern der Hamas. Oder sie ist
Reservistin und macht sich bereit für den Einmarsch in den Gazastreifen.
Das Land ist so klein, schnell kennt man jemanden, der dabei war, als etwas
passierte.
Das damals war eine Zufallsbegegnung, ich habe danach nie wieder mit der
Frau gesprochen. Ist die Familie geblieben? Und um wie vieles erschütterter
ist der Glaube an die Sicherheit – und vor allem die Wehrhaftigkeit – des
Staates Israel jetzt! Israel basiert auf einem Versprechen. Hier können wir
sicher leben. Am 7. Oktober 2023 wurde dieses Versprechen gebrochen.
Ich rede viel mit Freundinnen und Freunden in Israel. Die vergangenen
Monate waren von Verzweiflung über die rechtsreligiöse Regierung mit Bibi
Netanjahu an der Spitze geprägt. Sie dachten, ihr Land erledige sich von
selbst. Die Justizreform, das Ende der Demokratie. Das griff viele ihrer
Ideale an, dafür gingen sie auf die Straßen.
Jetzt gehen sie in Bunker und haben viele Fragen: Wo war der Staat – ihr
Staat? Wo waren die Geheimdienste – ihre Geheimdienste? Wo war Bibi – nicht
ihr Bibi, aber eben doch der Premierminister? Wie geht es weiter?
## Bleiben oder gehen?
Der Freund in Tel Aviv sagt, er sehe kaum noch den Grund dafür, weiter in
dieser Weltregion zu leben. Eine meiner Töchter sagt, er könne doch zu uns
kommen. Klar, sage ich. Aber er hat sein Leben dort, seine Familie, seine
Freunde, seine Arbeit. Es ist sein Land, sein Leben. Er kann nicht einfach
gehen.
Die Freundin in Haifa hatte schon Wochen vor dem 7. Oktober geschrieben,
ich solle bald mal wieder zu Besuch kommen. „Wer weiß, wie lange es unser
Land noch gibt. Wir, wie so viele junge Israelis, denken über eine
Alternative zu unserem Land nach, zumindest für eine Weile.“ Ihr Mann ist
Grieche, das Neugeborene soll die griechische Staatsbürgerschaft bekommen.
„Vielleicht ziehen wir auf eine griechische Insel.“
Der sehr säkulare Freund in Jerusalem beruhigt sich mit etwas, woran er
eigentlich nicht glaubt: Jerusalem ist eine heilige Stadt, sagte er am
Telefon, niemals werden sie die angreifen.
Ich weiß nicht, wie es der Frau vom Toten Meer und ihrer Tochter geht. Aber
ich ahne es, denn meine Freunde zeigen es mir. Schon damals, als die Mutter
mir von den deutschen Pässen erzählte, war die Gegend am Toten Meer
fragil. Der Wasserspiegel sank, am Ufer wurde der Boden brüchig, tiefe
Löcher entstanden. Eigentlich kein Ort zum Bleiben – wie das ganze Land.
22 Oct 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Felix Zimmermann
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