| # taz.de -- Angriff auf Israel: Das Ende der Sicherheit | |
| > Vier Jahre war Judith Poppe taz-Korrespondentin für Nahost. Nun ist sie | |
| > mit der Familie nach Berlin geflohen. Eine politische und persönliche | |
| > Bilanz. | |
| Bild: Israelische Soldaten im Kibbuz Kfar Aza, wo die Hamas-Terroristen ein Mas… | |
| Man kann sich an Sirenen gewöhnen. An das Heulen, das aus der Tiefe kommt, | |
| sich in die Höhe schraubt und dann dort verweilt. Selbst ich, die ich zu | |
| Panikreaktionen neige, konnte mich daran in den vergangenen vier Jahren, in | |
| denen ich als taz-Korrespondentin über Israel und die palästinensischen | |
| Gebiete berichtet habe, daran – irgendwie – gewöhnen. | |
| Doch die Sirene, die uns vergangenen Samstagmorgen aus dem Bett geholt hat, | |
| wird sich in meinem Körper festschreiben. [1][Das wusste ich noch nicht, | |
| als wir nach unserer Tochter griffen und in den Schutzbunker einige Hundert | |
| Meter entfernt liefen.] Aber jetzt weiß ich es. Jetzt, da die Erinnerung an | |
| die Sirene mit neuem Wissen darüber angereichert ist, was in diesem Moment | |
| begonnen hat. | |
| Vor drei Tagen sind wir in Berlin gelandet. Aber ich höre die Sirenen, wenn | |
| in der Wohnung unter uns eine Schleifmaschine angeworfen wird oder ein | |
| Motorrad startet. Normalerweise kündigen Sirenen Raketen an. Aber ich denke | |
| bei dem Sound an die Bilder, die kurz danach kamen: massakrierte Babys und | |
| Kinder, Vergewaltigungen, Geiselnahmen. Doch die Sirene taucht auch die | |
| Vergangenheit in ein anderes Licht. Denn retrospektiv wird immer klarer: | |
| Wir sind schon lange auf diesen Tag zugeschlittert. | |
| [2][Vor vier Jahren schrieb meine Vorgängerin Susanne Knaul ihren | |
| Abschiedstext.] Sie wünschte mir, viele Texte über gute Entwicklungen | |
| schreiben zu können. Ich bin mir sicher, es war nicht zynisch gemeint. | |
| „Netanjahu führt dieses wunderbare Land systematisch in den Abgrund“, | |
| schrieb sie in demselben Text. Wie tief der Abgrund sein würde, dürfte sich | |
| Susanne damals noch nicht ausgemalt haben können. | |
| ## Riesige Erschütterung | |
| Um nicht missverstanden zu werden: Verantwortlich für die grauenvollen | |
| Massaker an unschuldigen Babys und Kindern, Frauen und Männern, für die | |
| Geiselnahmen und Vergewaltigungen ist einzig die Hamas, die | |
| radikalislamische Terrororganisation, die in IS-Manier im Süden Israels | |
| gewütet hat und in deren Händen nun [3][über 100 Geiseln] im Gazastreifen | |
| festgehalten werden. Doch Netanjahu hat ermöglicht, dass es dazu kommt. So | |
| sieht es ein großer Teil der Israelis. | |
| In unserem Wohnzimmer, das sich in den vergangenen Tagen in einen | |
| Treffpunkt für ausgeflogene Israelis verwandelt hat, hängen Freund*innen | |
| über einem Video, das gerade in den sozialen Medien kursiert. „Mein | |
| geliebter Bruder wurde ermordet von hasserfüllten Terroristen“, sagt ein | |
| Mann in dem Video mit erstickter Stimme auf der Beerdigung seines Bruder, | |
| eines Soldaten: „Aber diejenigen, die ihnen die Tür geöffnet haben, sind | |
| die israelische Regierung, vom Minister für nationale Sicherheit und seinen | |
| messianischen, unverantwortlichen Clown-Freunden […] bis hin zum | |
| Ministerpräsidenten, der alles zu tun scheint, um den Staat Israel zu | |
| zerschlagen.“ | |
| So wie der Bruder des toten Soldaten fühlen sich viele. Fast jede*r kennt | |
| jemanden, der getötet oder verschleppt wurde oder sich stunden- oder | |
| tagelang allein versteckt hat. | |
| Etwa 150 Geiseln befinden sich jetzt im Gazastreifen. Die sozialen Medien | |
| laufen sich mit Aufrufen heiß, sie zu retten. Gefangenenaustausch jetzt! | |
| Heißt es dort. Derzeit laufen wohl geheime Verhandlungen, doch Israel | |
| bombardiert Gaza, als gäbe es dort keine israelischen Geiseln. | |
| Die Erschütterung über das Versagen von Militär und Geheimdienst ist | |
| riesig. | |
| Drei Tage vor dem Samstag, an dessen Morgen die Sirene losging, soll ein | |
| ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter Netanjahu gewarnt haben, dass „etwas | |
| Großes“ passieren solle. Den Berichten zufolge seien die ägyptischen | |
| Sicherheitsbeamten schockiert über Netanjahus Gleichgültigkeit angesichts | |
| der Nachricht gewesen sein. Das Militär sei in den Problemen im | |
| Westjordanland untergetaucht, soll er erwidert haben. „Sie mussten all die | |
| verrückten Siedler schützen“, sagt eine Freundin leise in unserem | |
| Wohnzimmer: „Und Netanjahu hat doch die Hamas groß gemacht.“ | |
| Jahrelang ging es Netanjahu und seinen Regierungen darum, den | |
| Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas im Westjordanland daran zu hindern, | |
| Fortschritte bei der Gründung eines palästinensischen Staates zu machen, | |
| die Spaltung zwischen Gazastreifen und Westjordanland zu vergrößern. Geld | |
| aus Katar kam als Bargeld in Koffern in den Gazastreifen, ein Versuch der | |
| Netanjahu-Regierungen, die Zeiträume brüchiger Waffenstillstände möglichst | |
| lang zu halten. | |
| Den Konflikt verwalten, lautete die Strategie der rechten | |
| Netanjahu-Regierungen. Und die Menschen glaubten ihm, dass dies der Weg | |
| war, ihnen Sicherheit zu bringen. Doch selbst diejenigen, die daran harsche | |
| Kritik übten, die Besatzung kritisierten und für Gespräche mit den | |
| Palästinenser*innen waren, richteten sich in einer zwar prekären, | |
| aber vermeintlich doch irgendwie existierenden Sicherheit ein. | |
| ## Die Lichter aus Syrien | |
| Als ich im Herbst 2019 mit meinem israelischen Partner und unserer kleinen | |
| Tochter als Korrespondentin nach Tel Aviv zog, wiegte auch ich mich in dem | |
| Gefühl relativer Sicherheit. Ich brachte unsere Tochter in den | |
| Waldkindergarten, tippte mir in den Tel Aviver Cafés meine Finger über die | |
| wiederholten israelischen Wahlen wund, fragte in Ramallah nach der | |
| palästinensischen Perspektive auf die Normalisierungsabkommen arabischer | |
| Staaten mit Israel. | |
| Manchmal fuhren wir in den Norden Israels, sprangen in den Jordan und | |
| blickten abends auf die Lichter, die von Syrien und Libanon | |
| herüberschienen. 2021 gab es gar einen Hoffnungsschimmer auf ein wenig | |
| Veränderung: Die breite Mitte-rechts-links-Regierung unter Beteiligung | |
| einer arabischen Partei wurde vereidigt. Doch alle wussten, dass sie zum | |
| Scheitern verurteilt war. Ein Jahr später zerbrach sie. | |
| In unserem Wohnzimmer sind sich alle einig: „Wir wussten es. In dem Moment, | |
| in dem Netanjahu Ben Gvir zum Minister für innere Sicherheit gemacht hat, | |
| war abzusehen, dass es furchtbar endet.“ Dass die Netanjahu-Regierung | |
| jedoch das Land in ein solches Chaos stürzen würde, dass diese Ereignisse | |
| möglich wurden, das konnte sich niemand von uns vorstellen. | |
| Die Sorge davor, dass alles in Flammen aufgeht, verfolgte mich bis in meine | |
| Träume. Wie so viele überlegten mein Partner und ich seitdem fast täglich, | |
| wo die rote Linie ist, die uns, sobald überschritten, dazu bringt, das Land | |
| zu verlassen. Wenn Ben Gvir eine Miliz kriegt, lautete mal eine. Wir haben | |
| die rote Linie vorbeiziehen lassen. | |
| An der Grenze zum Libanon landete Anfang April hundert Meter von uns eine | |
| Rakete im Asphalt, während wir in einem Restaurant unter dem Tisch hockten, | |
| als könnte uns die Tischplatte ernsthaft vor einem Raketeneinschlag | |
| schützen. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall in Berlin getötet zu | |
| werden, ist größer als bei einem Anschlag oder durch eine Rakete in Israel, | |
| rechnete mir mein Partner vor. Wir blieben. | |
| Die Nächte, bevor ich zur Recherche für eine [4][Reportage über | |
| Siedlergewalt in das palästinensische Städtchen Huwara] und in die | |
| anliegende Siedlung Yitzhar fuhr, schlief ich schlecht. Als hätte ich | |
| geahnt, dass eine Woche später eine großangelegte Militäroperation [5][in | |
| Nablus elf palästinensische Opfer fordert,] kurz darauf ein Palästinenser | |
| zwei jüdische Israelis [6][in Huwara erschießt] und in der darauffolgenden | |
| Nacht Horden von Siedlern – enge Verbündete der Ultrarechten unter den | |
| Regierungsvertreter*innen – pogromartig durch Huwara ziehen und | |
| Häuser und Autos in Flammen setzen. Allen ist klar: Sie genießen den Schutz | |
| der Regierung. | |
| „Deutschen Journalist*innen ist im Westjordanland noch nie etwas | |
| passiert“, sagte eine Freundin und Kollegin von mir: „weder durch | |
| Siedler*innen noch durch Palästinenser*innen.“ | |
| Sie hat recht. Und doch haben die jüngsten Ereignisse gezeigt: Wer zu Panik | |
| neigt, hat nicht immer unrecht. | |
| ## Wohin sollen wir zurückkehren? | |
| Den zwei konfligierenden Narrativen stand ich schon immer hilflos | |
| gegenüber. Ich verstehe die Zionist*innen, die davon überzeugt sind, dass | |
| es nach den historischen Erfahrungen und auch weiterhin heute eine | |
| Heimstätte für Jüdinnen und Juden geben muss, und fühlte mit den | |
| Palästinenser*innen, die unter Besatzung leben, deren Alltagsroutine | |
| jederzeit durch das Schließen eines Checkpoints unterbrochen werden kann, | |
| deren Häuser mitten in der Nacht von Soldat*innen gestürmt werden. Deren | |
| Familien Land und Häuser im Krieg 1948 verloren und nie mehr zurückkehren | |
| konnten. | |
| Es ist davon auszugehen, dass sich die beiden Narrative nur noch | |
| unversöhnlicher gegenüberstehen werden. | |
| Was für ein Landstrich soll es sein, in den wir zurückkehren könnten? | |
| Keiner weiß es zu diesem Zeitpunkt, während sich Israel auf eine | |
| Bodenoffensive in Gaza vorbereitet, die einerseits wohl weitere zahlreiche | |
| israelische und palästinensische Opfer fordern wird und mit der sich auch | |
| die nächste humanitäre Katastrophe für die Palästinenser*innen des | |
| Gazastreifens abzeichnet. Während die vom Iran gelenkte, hochgerüstete | |
| Hisbollah unentschieden mit den Hufen scharrt und die USA mit zwei | |
| Flugzeugträgern drohen. | |
| Möglicherweise wird es den Menschen, die zwischen Mittelmeer und Jordan | |
| leben, gelingen, irgendwann in irgendeine Form von Nahost-Normalität | |
| zurückzukehren. Ich kann es nicht mehr. | |
| Hier also ist sie, die rote Linie. Draußen heult ein Motorrad an mir | |
| vorbei. Meiner Nachfolger*in wünsche ich viele Geschichten über gute | |
| Entwicklungen, und ich meine das genauso wenig zynisch wie vor vier Jahren | |
| Susanne Knaul. | |
| Wie sehr mir der Landstrich ans Herz gewachsen ist, merke ich erst jetzt, | |
| da ich nicht zurückgehen werde. Bis auf Weiteres. | |
| 15 Oct 2023 | |
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