| # taz.de -- Angriff auf Israel: Geiseln in Gaza | |
| > Die Entführung Dutzender Menschen zwingt Israel zu bitteren | |
| > Entscheidungen. Die Notstandsregierung tendiert zur Härte, die | |
| > Bevölkerung fordert Verhandlungen. | |
| Bild: Auch vom Supernova-Festival nahe der Grenze zu Gaza wurden Menschen von d… | |
| Es fällt nicht leicht, zu schreiben, wenn einem die Wut bis in den Kopf | |
| steigt. Es ist nicht leicht, nüchtern zu analysieren, wenn uns die Bilder | |
| und Geschichten des Grauens keinen Moment in Ruhe lassen. In den | |
| israelischen Fernsehstudios sitzen Journalisten, die ihrer Arbeit in der | |
| Regel verantwortungsvoll nachgehen, sich jetzt aber kaum noch emotional | |
| zurückhalten können. Von den sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Eine | |
| komplette Nation befindet sich im Schockzustand und erlebt ein tiefes | |
| Trauma. | |
| Dieses Trauma ist nicht nur Folge des [1][unerträglichen militärischen und | |
| nachrichtendienstlichen Versagens] und der hunderten Leichen, die in den | |
| verbrannten Häusern geborgen wurden, sondern es geht um etwas Tieferes, | |
| wenn man den Menschen zuhört, die dem Morden und dem Zerstören der Hamas | |
| unmittelbar entkommen sind. Immer wieder sind Sätze zu hören wie: Das war | |
| wie ein Pogrom in Litauen. Es war wie in Chișinău. | |
| Die Schrecken dieser Woche rütteln jüdische Traumata entfernter | |
| Vergangenheit wach – Traumata der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Hintergrund | |
| und Ziel von Zionismus und der Gründung des Staates Israel war doch, dass | |
| so etwas nie wieder möglich sein würde. Im Herzen des liberalen Zionismus | |
| stand nicht, wie bei den Nationalreligiösen, der Wunsch nach Erlösung, | |
| sondern die Motivation war eine viel grundsätzlichere: Juden und Jüdinnen | |
| das Gefühl einer Heimat und Zugehörigkeit zu ermöglichen, Sicherheit, Ruhe. | |
| All das ist zutiefst erschüttert und angesichts der sich verängstigt | |
| versteckt haltenden Menschen, die Stunden über Stunden die mörderischen | |
| Stimmen, die Schreie und Zerstörung hören und auf die Armee warten, die | |
| nicht kommt, vielleicht sogar unwiederbringlich. Noch schlimmer sind die | |
| Bilder von Alten, von Frauen, Kindern und Babys, von jungen Mädchen, die | |
| auf Laster gedrängt werden und abtransportiert – erniedrigt und verängstigt | |
| als Geiseln in Gaza. | |
| ## Die ganze Nation rückt zusammen | |
| Die Israelis – [2][mit all ihren Meinungsdifferenzen] – sind noch immer ein | |
| Stamm, eine große Familie. Wenigstens erinnern sie sich daran in Zeiten der | |
| Kriege und Krisen. Wenn der Vater zweier junger Mädchen, die von der Hamas | |
| entführt wurden, im Fernsehen davon spricht, dass „vielleicht gerade jetzt | |
| meine Töchter vergewaltigt werden“, rückt die ganze Nation in Schrecken | |
| zusammen. | |
| So entsteht das erste große Dilemma dieses Krieges. Schon in den ersten | |
| Tagen: Einerseits fordert die Bevölkerung von der Regierung, den | |
| Gazastreifen zu erobern und sogar komplett zu zerstören. Der Wunsch nach | |
| Rache für die erlittene Erniedrigung ist vielleicht aus psychologischer | |
| Sicht allzu verständlich. Manche versuchen ihn auch rational zu | |
| rechtfertigen mit dem Argument, dass Israel jetzt Stärke demonstrieren muss | |
| und die Abschreckungskraft wiederherstellen. | |
| Auf der anderen Seite wird die [3][Sorge um das Schicksal der Geiseln] zur | |
| zentralen Emotion der Öffentlichkeit. Die große Mehrheit war bereit, | |
| hunderte palästinensische Häftlinge, die an Terroranschlägen beteiligt | |
| waren, für nur einen Soldaten auf freien Fuß zu setzen. Hier aber ist die | |
| Rede von Frauen, von Kindern und Alten. Die Hamas – von der Führung bis zu | |
| den jungen Männern, die in den Kibutzim mit ihren Gewehren herumrannten – | |
| hat sich als blutrünstige und mörderische Bande entlarvt. | |
| Wer jetzt noch von Freiheitskämpfern spricht, ist entweder ein Idiot oder | |
| ein Verbrecher. Den offiziellen israelischen Stellungnahmen lässt sich | |
| entnehmen, dass die Regierung nichts von Verhandlungen hören will. Doch | |
| selbst Benjamin Netanjahu muss einsehen, dass seine Regierungszeit bald | |
| vorbei sein dürfte, wenn unter den Trümmern der Häuser, die die israelische | |
| Luftwaffe bombardiert, die Leichen israelischer Geiseln gefunden werden. | |
| ## Denkbar ungünstigster Zeitpunkt | |
| Die Hamas hat Israel zu einem aus ihrer Sicht denkbar günstigen Zeitpunkt | |
| erwischt, mit der schlechtesten Regierung in der Geschichte des Staates, | |
| eine Regierung, die mitnichten in der Lage ist, mit einem Krieg dieser Art | |
| umzugehen. Von der Haltung Netanjahus abgesehen, liegen bereits | |
| verschiedene Angebote von Seiten Ägyptens, Katars und anderen auf dem | |
| Tisch. So könnten sämtliche palästinensischen Häftlinge im Gegenzug für die | |
| entführten Frauen, Alten und Kinder getauscht werden. | |
| Die Hamas signalisierte Bereitschaft, diese Möglichkeit in Erwägung zu | |
| ziehen. Die Bilder der entführten Kinder und Frauen sind auch in der | |
| arabischen Welt mit Vorsicht behandelt worden. Sogar Al Jazeera, der offen | |
| eine Hamas-freundliche Berichterstattung pflegt, vermied es, diese Bilder | |
| zu zeigen. Politische Analysten in Israel gehen davon aus, dass Netanjahu | |
| sich einem Geiselaustausch nicht in den Weg stellen könnte, wenn die Hamas | |
| dem zustimmt. | |
| Dennoch zeigt sich bereits ein Unterschied in den Positionen von | |
| Gesellschaft und Regierung. So forderte Finanzminister Bezalel Smotrich, | |
| den [4][Krieg ohne Rücksicht auf die Geiseln] zu führen. Auf der anderen | |
| Seite fordern Stimmen aus der Gesellschaft, alle palästinensische Häftlinge | |
| im Gegenzug für die Geiseln auf freien Fuß zu setzen. Die Hamas | |
| signalisierte in der Vergangenheit Bereitschaft unter der Bedingung, dass | |
| Israel die Regierung der Hamas nicht antastet. | |
| Genau darauf zielen Regierung und Sicherheitsapparat aktuell jedoch ab. | |
| Völlig klar, dass sich die Israelis [5][eine Befreiung im Stil von Entebbe] | |
| wünschen würde, was auch den nationalen Stolz ein Stück weit wieder | |
| aufrichten würde. Unter den gegebenen Umständen ist damit indes kaum zu | |
| rechnen. | |
| Die Hamas spielt ein schmutziges Spiel und übernimmt die Methoden des IS im | |
| Umgang mit den Geiseln. Wer sich in den Händen der Islamisten befindet, | |
| wird zum Verhandlungsgegenstand ohne jedes Erbarmen. Sie werden den | |
| maximalen Preis für jedes junge Mädchen, jedes israelische Kind | |
| herausholen. Das Gebot der Stunde ist, die Tränen runterzuschlucken, klug, | |
| rational, entschlossen und mit kühlem Kopf vorzugehen. | |
| Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul | |
| 13 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Angriffskrieg-der-Hamas-gegen-Israel/!5965603 | |
| [2] /Umstrittene-Justizreform-in-Israel/!5950619 | |
| [3] /Entfuehrte-im-Gazastreifen/!5962397 | |
| [4] /Hamas-Angriff-auf-Israel/!5965675 | |
| [5] https://www.deutschlandfunk.de/landung-in-uganda-100.html | |
| ## AUTOREN | |
| Hagai Dagan | |
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