# taz.de -- Hamas-Angriff auf Israel: Bedrohte Existenz | |
> Der Schock über das Versagen von Militär und Geheimdiensten sitzt tief. | |
> Viele Israelis reagieren panisch angesichts der Gräuel. | |
Bild: Trauma vom 7. Oktober 2023: ein israelischer Soldat vor Opfern des Hamas-… | |
Tel Aviv taz | Die wenigsten dürften geahnt haben, dass dieser Tag, an dem | |
sie von Sirenen aus dem Bett gerissen wurden, das Land Israel auf radikale | |
Weise verändern würde. | |
Dass es zu einem Knall kommen würde, stand außer Frage, und trotzdem | |
rechnete niemand an diesem Samstagmorgen damit, so wie mein Partner und ich | |
in Tel Aviv, als wir uns unsere Tochter schnappten und in den Schutzbunker | |
liefen. Doch in den Raketenhagel mischten sich Nachrichten, mit denen klar | |
wurde, dass dieses Mal anders war als die letzten Runden der Eskalation | |
zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas. | |
Über soziale Medien sickerten die ersten beunruhigenden Videos durch: | |
Videos von Palästinensern, die auf Gleitfliegern, über das Meer mit Booten | |
oder durch einen durchbrochenen Zaun auf dem Landweg in israelisches Gebiet | |
eindringen. | |
Kurz darauf kommt es auch in den Nachrichten: Den gesamten Samstagmorgen | |
über wird in unregelmäßigen Abständen eine Frau aus einer Ortschaft im | |
Süden des Landes per Telefon live zugeschaltet. „Ich bin im Schutzraum. In | |
meiner Wohnung sind Terroristen“, flüstert sie: „Helft mir. Schickt Leute. | |
Hilfe.“ Doch niemand kommt. Stundenlang sitzt sie alleine in dem Bunker, in | |
ihrem Haus die Hamas. | |
## Videos voller Grauen | |
Nach und nach füllen sich die sozialen Medien mit grauenerregenden Videos: | |
Hamas-Kämpfer und palästinensische Zivilisten nehmen Israelis als Geiseln: | |
In Videos sieht man eine junge Frau, eingezwängt zwischen Palästinensern | |
auf einem Motorrad, verzweifelt schreien, als der Fahrer das Motorrad | |
anwirft und Richtung Gaza losbraust. | |
Ein palästinensischer Zivilist zieht eine blutig geschlagene Frau an den | |
Haaren in einen Jeep. Kleine Kinder und Erwachsene sitzen dicht | |
aneinandergedrängt, die Köpfe nach unten gerichtet, auf der Ladefläche | |
eines Jeeps. Um sie herum Hamas-Kämpfer mit Maschinengewehren. „Allahu | |
Akbar!“, schallt es. Der Jeep fährt ab. | |
Hunderte Besucher*innen eines Trance-Festivals in der israelischen | |
Wüste nahe der Grenze zu Gaza fliehen panisch vor den Militanten, springen | |
in ihre Autos. Einige schaffen es nicht. Auf dem Boden liegen die toten | |
Körper niedergeschossener junger Menschen. Am Sonntagabend berichten Medien | |
unter Berufung auf den Rettungsdienst Zaka, dass auf dem Festivalgelände | |
bislang mindestens 260 Leichen gefunden wurden. | |
Erst nach und nach wird das Ausmaß des Chaos deutlich. Zahlen dazu, wie | |
viele Hamas-Kämpfer und Gazaner sich in Israel aufhielten und noch immer | |
aufhalten, gibt es nicht. Nur wird schnell klar: Es sind weit mehr als eine | |
Handvoll. Wie viele Geiseln sich im Gazastreifen aufhalten, ist bis jetzt | |
nicht bekannt. Doch es sind viele. Hunderte Familien wissen seit gestern | |
nicht, wo ihre Angehörigen und Freunde geblieben sind, ob sie leben. | |
## Was ist real, was Verschwörungstheorie? | |
Sonntagfrüh heißt es, dass die meisten Ortschaften im Süden zurückgewonnen | |
worden seien. Doch die Hamas kann erneut in einen Kibbuz eindringen; die | |
Kämpfe zwischen Hamas-Kämpfern und dem Militär in südlichen Ortschaften | |
halten an. | |
Verschwörungstheorien greifen um sich – allerdings: Wer weiß gerade schon, | |
was Verschwörungstheorie ist und was nicht. Wenn doch die eigene | |
Vorstellung von dem, was real ist, so plötzlich zerbrochen ist. | |
Am Samstag im Schutzbunker, als die Sirenen rund um Tel Aviv wieder heulen, | |
heißt es, Hamas-Leute sollen ein Polizeiauto gestohlen haben und in | |
Richtung Zentrum des Landes unterwegs sein. Bislang gibt es keine | |
Bestätigung dafür. | |
Am zweiten Tag des Krieges geht mein Partner mit unserer Tochter auf den | |
Spielplatz. Er ist so nah gelegen, dass man auch bei Sirenen noch | |
rechtzeitig in den Bunker laufen kann. Doch kurz danach schreibt mir eine | |
Freundin, dass zwei Terroristen in Tel Aviv gefasst worden seien. Ich | |
stürze mich auf mein Handy und rufe Yosi an. Er beruhigt mich. | |
Falschmeldung, habe ihm ein Polizist auf dem Spielplatz gesagt. | |
## Man hielt die Hamas für lästig, aber nicht wirklich bedrohlich | |
Je klarer das Bild der Geschehnisse wird, desto mehr drängt eine andere | |
Frage in den Vordergrund: Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte die Armee | |
so versagen? In diesem Land, in dem die Vertrauensträger nicht die Politik | |
und nicht das Justizsystem sind. Sondern das Militär. | |
Die allermeisten Israelis wähnten sich bis gestern in einer relativen | |
Sicherheit. Das israelische Militär ist übermächtig, dachte man, die Hamas | |
ein zwar lästiger, aber am Ende nicht wirklich bedrohlicher Gegner. | |
Doch innerhalb von wenigen Stunden ist dieser Glaube zerstört worden. Was | |
das für die Zukunft dieses Land bedeutet, ist schwer auszumalen. | |
Angehörige von Verschwundenen demonstrieren am Samstag vor dem | |
Hauptquartier der Armee, unter ihnen auch Adva Adar. „Das ist meine | |
Großmutter, sie wurde gefangen genommen und nach Gaza gebracht“, schrieb | |
die junge Frau zuvor auf Facebook, neben einem Foto ihrer Großmutter. „Ihr | |
Name ist Yaffa Adar und sie ist 85!!“ Ein Video zeigt sie in Gaza – auf dem | |
Beifahrersitz eines kleinen Wagens aus dem Kibbuz, neben ihr ein | |
Palästinenser, vor ihr Militante mit Maschinengewehr auf einem Motorrad. | |
Die Menge auf den Straßen jubelt. Es sind Bilder, die schwer zu ertragen | |
sind. | |
## Wut auf die Regierung | |
„Meine Großmutter hat den Kibbuz mit ihren eigenen Händen gegründet, hat an | |
den Zionismus geglaubt, an dieses Land, von dem sie jetzt im Stich gelassen | |
wird. Eine Geisel“, schreibt ihre Enkelin: „Sie wird offenbar irgendwo | |
hingeworfen, leidet unter starken Schmerzen, ohne Medikamente, ohne Essen | |
und ohne Wasser, stirbt vor Angst, allein. Und niemand spricht mit uns, | |
niemand kann uns etwas sagen.“ Die Fassungslosigkeit darüber, wie kalt | |
Militär und der Geheimdienst erwischt wurden, ist riesig. | |
Zwar scheint für einen Moment die nationale Einheit wieder hergestellt, | |
[1][die Reservesoldat*innen], die ihren Dienst angesichts des | |
geplanten Staatsumbaus der Regierung verweigert hatten, haben sich | |
zurückgemeldet und kämpfen. Doch unter dieser scheinbaren Einheit liegen | |
Gräben, die sich in diesen Stunden noch weiter vertieft haben. Die Wut auf | |
die Regierung ist groß. | |
„Wo die Armee ist?“, ruft mein Partner ins Telefon, als ein Freund seines | |
Vaters aus Ungarn anruft: „Das ganze Militär ist im Westjordanland, [2][um | |
die psychotischen Siedler zu beschützen], diese radikalen messianischen | |
Siedler, all die Zvi Sukkots, Smotrichs und Ben Gvirs dieser faschistischen | |
Regierung.“ | |
Mein Partner ist nicht der Einzige, der so denkt. Doch auch diejenigen, die | |
der Besatzung und der extrem rechten Regierung weniger kritisch | |
gegenüberstehen, sind fassungslos ob des Versagens von Militär und | |
Regierung. | |
## Erinnerung an den Jom-Kippur-Krieg | |
„Die Hamas erklärte kürzlich, dass sie sich auf die Besetzung von | |
israelischen Ortschaften vorbereitete“, sagte ein Einwohner der südlichen | |
Stadt Be’er Scheva gegenüber der israelischen Tageszeitung Ma’ariv: „Ihre | |
Führung hielt ungewöhnliche Treffen mit der Hisbollah und anderen | |
Organisationen ab. Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand musste | |
verstehen, dass etwas Großes passieren würde. Der Geheimdienst hat versagt | |
und dafür muss die Regierung zu Rechenschaft gezogen werden.“ | |
An diesem Samstag, an dem der Glaube an das Militär und an die Stärke des | |
Landes erschüttert wurde, [3][jährt sich der Jom-Kippur-Krieg zum | |
fünfzigsten Mal]. „Die Überraschung ist bei diesem Mal noch größer“, sa… | |
der Vater meines Partners, während er auf den Fernseher starrt. Er war in | |
Gaza bei diesem Krieg, der als das größte militärische Versagen in der | |
Geschichte Israels gilt, als nationale Tragödie. | |
Ha’aretz-Autor Anshel Pfeffer sieht jedoch einen bedeutenden Unterschied | |
zum Jom-Kippur-Krieg: Es gehe, meint er, heute nicht um die Existenz | |
Israels. Israels Militär werde es mit seinen Gegnern aufnehmen können, auch | |
dann, wenn die von Iran gelenkte libanesische Miliz Hisbollah mit | |
einsteigen sollte. Möglicherweise geht es doch um die Existenz Israels – | |
auf andere Weise. Menschen, die an irgendwelchen Landesaußengrenzen Israels | |
leben, werden sich von jetzt an sehr genau überlegen, ob sie mit ihrer | |
Familie dorthin ziehen oder weiter dort leben werden, schreibt ein Freund | |
auf Facebook. | |
## Run auf Europa | |
Viele Israelis versuchen verzweifelt, außer Landes zu kommen. Derzeit | |
fliegt nur die israelische Fluggesellschaft El AL noch, doch die Flüge sind | |
ausgebucht. Ein Freund leitet mir die Nummer eines Reiseagenten weiter, dem | |
Wunder gelingen sollen. Ich leite die Nummer an alle weiter, die darum | |
bitten, innerhalb von zwei Stunden sind es sieben Freund*innen. „Ich will | |
nicht mehr zurückkommen“, sagt einer von ihnen. | |
Der Run von Israelis auf europäische Staatsbürgerschaften ist schon in den | |
letzten Monaten, seit dem Antritt der neuen ultrarechten Regierung, | |
sprunghaft angestiegen. Alles sieht danach aus, als würden die Bewerbungen | |
darum nun einen neuen Peak erreichen. | |
„Mein Großvater hat 1933 Deutschland verlassen“, sagt Yosi, mein Partner, | |
als würde das erklären, warum auch wir das Land verlassen wollen. „Heute | |
ist nicht 1933“, sagt eine Freundin von uns, bei der wir für die nächste | |
Nacht unterkommen. „Vielleicht doch. Wenn die Hisbollah mit einsteigt.“ In | |
dem Moment erscheint eine Push-Nachricht auf meinem Handybildschirm: Zwei | |
Israelis wurden in Ägypten erschossen. Die Bedrohung für Juden und Jüdinnen | |
beschränkt sich eben auch heute nicht nur auf ein Land. | |
9 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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