# taz.de -- Experte über Eskalation in Nahost: „Neues Gefühl der Verwundbar… | |
> Mit dem Hamas-Terror glaubte Israel leben zu können, sagt der ehemalige | |
> Tel Aviver Bürochef der Böll-Stiftung, Steffen Hagemann. Das sei nun | |
> vorbei. | |
Bild: Emotionale Situation: Blumen und eine israelische Fahne vor der Synagoge … | |
taz: Herr Hagemann, machen Sie sich Sorgen um [1][die Region], in der Sie | |
selbst bis vor gar nicht so langer Zeit gelebt haben? | |
Steffen Hagemann: Ja, ich habe bis Ende vergangenen Jahres vor Ort gelebt. | |
Ich mache mir große Sorgen um die Menschen, die dort leben und jetzt Terror | |
und Gewalt ausgesetzt sind. Ich habe am Samstagabend, am Sonntag mit vielen | |
Freunden dort gesprochen, telefoniert. Israel ist ja ein sehr kleines Land, | |
sodass jeder und jede Personen kennt, die direkt betroffen sind. In meiner | |
Zeit als [2][Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung] war ich auch im | |
Gazastreifen, wir haben dort Partner – auch um diese Menschen mache ich mir | |
Sorgen. Insgesamt ist es eine Situation, unter der die Zivilistinnen und | |
Zivilisten leiden. | |
Eine Hamburger Tageszeitung sprach von „Israels 9/11“. Wie singulär ist die | |
jüngste Eskalation des Terrors? | |
Der Angriff fällt auf den Jahrestag [3][50 Jahre Jom-Kippur-Krieg], und da | |
gibt es schon eine Reihe von Ähnlichkeiten: Das Land ist überrascht worden | |
und befindet sich in einem Schockzustand, niemand hat mit dem gerechnet, | |
was nun passiert ist. Es gibt ja seit Jahren immer wieder Raketenangriffe | |
der Hamas, das ist den Israelis bekannt, damit konnten sie auch umgehen, so | |
schien es. Es gab das Gefühl: Wir haben [4][den „Iron Dome]“ … | |
… das Raketenabwehrsystem … | |
… und die Bedrohung im Griff, wir haben auch die Hamas ein Stück weit | |
abgeschreckt – das ist jetzt völlig verloren gegangen. Die Hamas ist | |
eingedrungen in israelische Kibuzzim und Dörfer rund um den Gazastreifen, | |
hat Menschen ermordet, Geiseln genommen, auch Armeeposten überrannt, und es | |
gab zunächst überhaupt keine Gegenwehr; auch die Armee war nicht vor Ort. | |
Und es gab [5][diesen Rave in der Nähe des Gazastreifens, da sind mehr als | |
250 Menschen ermordet und weitere entführt worden]: Dieses Vorgehen und | |
diese Brutalität haben einen tiefgehenden Schock und ein ausgeprägtes | |
Gefühl der Verwundbarkeit bewirkt. Das ist neu. Und wenn man es unbedingt | |
mit 9/11 vergleichen will: Die Opferzahlen sind in Relation zur betroffenen | |
Bevölkerung schon jetzt sehr viel höher in Israel als damals in den USA. | |
Ich glaube, das Entscheidende gerade ist: Das Gefühl, dass man stark ist, | |
es zwar immer wieder Gewalt gibt, die Armee aber letztlich für die | |
Sicherheit garantieren kann: Das ist zerstört worden. | |
Haben wir es nicht auch mit einem Versagen zu tun, und zwar dem eines | |
Sicherheitsapparats, der genau diese eine Aufgabe hatte? | |
Das wird in Israel langsam diskutiert. Im Moment geht es natürlich jetzt | |
erst einmal darum zusammenzustehen. Aber diese Debatte hat begonnen. Es | |
geht dabei nicht nur darum zu sagen, dass dies ein Versagen der | |
Sicherheitskräfte oder ein Versagen der Geheimdienste ist. Es ist letztlich | |
auch ein politisches Versagen. Nicht nur die aktuelle Regierung, sondern | |
auch jene davor, haben darauf gesetzt, den Status quo zu managen. Die | |
Regierungen haben geglaubt, dass sie den Konflikt so weit „schrumpfen“ | |
würde können, dass die palästinensische Frage nicht mehr so wichtig ist, | |
dass man eine politische Regelung ersetzen kann durch einen ökonomischen | |
Frieden und eine Normalisierung mit den arabischen Nachbarländern. Die | |
Einschätzung war, dass Hamas damit zufrieden sein werde, praktisch | |
Regierungsmacht im Gazastreifen zu sein. Und das alles, ohne dass es einen | |
Horizont für eine politische Regelung gibt. Die Politik auch der alten | |
Netanjahu-Regierung war es ja gerade, die palästinensische Spaltung zu | |
erhalten, die Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, um keinen | |
Friedensprozess führen zu müssen, und auf der anderen Seite die Hamas zu | |
stärken: Geld aus Katar wurde reingelassen, es gab ökonomische | |
Erleichterungen, Arbeitserlaubnisse für Bewohner des Gazastreifens | |
beispielsweise. Dieses Konzept ist jetzt auch gescheitert. Und dafür gibt | |
es politisch Verantwortliche. | |
Welchen Ausweg sehen Sie? | |
Letztlich braucht es eine Regelung des israelisch-palästinensischen | |
Konflikts. So etwas ist jetzt gerade natürlich nur sehr schwer vorstellbar. | |
Nimmt man den Vergleich mit dem Jom-Kippur-Krieg ernst, dann könnte man | |
sagen: Damals stand sechs Jahre nach dem Krieg der Friedensschluss mit | |
Ägypten. Aber so was ist kein Automatismus. Dafür müssen die politischen | |
Akteure auch etwas tun. Vielleicht aber entsteht doch ein Gefühl der | |
Dringlichkeit, den Konflikt regeln zu müssen. Auf der akuten Tagesordnung | |
stehen aber erstmal andere Fragen. | |
Welche Rolle kann eine Organisation wie [6][“Parents Circle“] spielen, | |
deren Arbeit Sie eigentlich [7][am Dienstag in Hamburg] hätten mit | |
vorstellen wollen? | |
Wir sind in einer total emotionalen Situation. Es gibt gerade viel Angst | |
und Wut in der israelischen Gesellschaft, und die Frage ist: Wie umgehen | |
mit diesen Emotionen? Man kann das auf der einen Seite in Gewalt | |
transformieren, in dem Wunsch, die Palästinenser bestrafen und Vergeltung | |
üben zu wollen. Parents Circle steht dafür, dass Leid aber auch dazu | |
motivieren kann, einen Ausweg zu finden, der auf Verständigung und eine | |
Friedensregelung setzt. | |
Wie viel Optimismus bringen Sie selbst auf? | |
Man braucht mehr als ein bisschen Optimismus, sich auch weiter für den | |
Frieden zu engagieren. Im Moment ist die Situation düster, auch, was in den | |
nächsten Tagen zu erwarten ist. Es werden weitere zahlreiche Opfer zu | |
beklagen sein. Es ist klar, dass Israel angegriffen worden ist, dass | |
Kriegsverbrechen begangen worden sind. Und trotzdem ist es jetzt wichtig, | |
in der Reaktion, so gut das irgend geht, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ein | |
israelischer Journalist hat geschrieben, es gibt diese Parallelen zum | |
Jom-Kippur-Krieg, aber es gibt eben auch einen großen Unterschied: Israel | |
ist jetzt nicht von Armeen angegriffen worden, Israel steht nicht vor einer | |
existenziellen Bedrohung. Und das gibt dem Land die Möglichkeit, | |
strategische Entscheidungen zu treffen, sodass es keine Eskalation in einem | |
regionalen Krieg gibt. Das ist, glaube ich, kurzfristig wichtig. Aber es | |
braucht darüber hinaus Menschen, die sich dafür engagieren, dass am Ende | |
nicht bloß Feindbilder stehen. | |
9 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999 | |
[2] https://www.boell.de/de/buero-israel-tel-aviv | |
[3] /Vor-50-Jahren-begann-Jom-Kippur-Krieg/!5963008 | |
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[5] /Angriff-auf-Israel/!5965719 | |
[6] https://www.theparentscircle.org/en/about_eng-2/ | |
[7] https://calendar.boell.de/de/event/parents-circle-eine-binationale-initiati… | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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