# taz.de -- Vor 50 Jahren begann Jom-Kippur-Krieg: Am Rande einer Niederlage | |
> Potenzial zur globalen Eskalation: Am 6.10. 1973 überfielen diverse | |
> arabische Armeen im Jom-Kippur-Krieg Israel. Linke sahen darin | |
> Anti-Imperialismus. | |
Bild: Später berühmter Politiker: Ariel Sharon als Generalmajor der israelisc… | |
Vor 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, begann mit dem Angriff der von der | |
Sowjetunion aufgerüsteten syrischen und ägyptischen Armeen auf Israel der | |
Jom-Kippur-Krieg, der den Nahen Osten nachhaltig verändern sollte. Zur | |
Vorgeschichte dieses Waffengangs, in dem Israel anfänglich an den Rand | |
einer Niederlage gebracht wurde, gehören die ersten vier | |
arabisch-israelischen Kriege, von denen hierzulande am ehesten noch der | |
Sechstagekrieg von 1967 im Bewusstsein ist. | |
Nach der vernichtenden Niederlage, welche die arabischen Staaten [1][bei | |
ihrem ersten Angriffskrieg gegen den neu gegründeten israelischen Staat | |
1948] erlitten haben, änderten sie ihre Position jahrzehntelang nicht und | |
sprachen immer wieder von der Notwendigkeit einer „zweiten Runde“ zur | |
Vernichtung des „zionistischen Gebildes“. | |
1956 weitete sich der Konflikt zwischen Israel und Ägypten zur Suez-Krise | |
aus, nachdem die Monarchie von König Faruk gestürzt worden war und 1954 | |
Gamal Abdel Nasser die Macht übernommen hatte. Zur Eskalation kam es, | |
nachdem Ägypten den Golf von Akaba blockiert und den Suezkanal für die | |
israelische Schifffahrt geschlossen hatte. | |
## Vorspiel Suez-Krieg | |
Im Suez-Krieg trugen die israelischen und die mit ihnen verbündeten | |
französischen und britischen Einheiten zwar den Sieg davon, wurden aber auf | |
Druck der USA und der Sowjetunion dazu gezwungen, 1957 den Rückzug | |
anzutreten. Nasser gelang es, diesen Rückzug als ägyptischen Sieg zu | |
verkaufen, was [2][seiner panarabischen Ideologie] enormen Auftrieb | |
verschaffte. | |
Nasser und andere arabische Führer begannen schon bald nach dem Sinai-Krieg | |
ganz offen von der Notwendigkeit einer „dritten Runde“ zu sprechen, in der | |
Israel endgültig vernichtet werden müsse. Nassers diesbezügliche | |
Formulierungen lesen sich wie eine Vorwegnahme der heutigen Hasstiraden von | |
Ali Chamenei und anderen Vertretern des iranischen Mullahregimes. | |
1961 proklamierte der ägyptische Präsident: „Hinsichtlich Israel denken | |
wir, dass das Böse, das ins Herz der arabischen Welt eingeschleppt wurde, | |
ausgemerzt werden muss.“ Im Juni 1967 sah alles danach aus, als wenn die | |
arabischen Staaten einen erneuten Anlauf zur Vernichtung des jüdischen | |
Staates nehmen wollten. Im Vorlauf des Sechstagekriegs rückten ägyptische | |
Truppen im Sinai ein. | |
## Baath-Partei befehligt syrische Armee | |
An der Nordgrenze stand Israel die seit 1966 unter dem Kommando der | |
Baath-Partei befindliche syrische Armee gegenüber, die jordanische Armee | |
begab sich unter den Befehl eines ägyptischen Generals, und irakische | |
Einheiten rückten nach Jordanien ein. | |
Nach langem Zögern entschloss sich Israel zu einem Präventivschlag: Der | |
Krieg führte abermals zu einer desaströsen Niederlage für die arabischen | |
Armeen. Während der Krieg von 1948 die arabischen Monarchien diskreditiert | |
hatte, verliert nun Nassers Panarabismus an Legitimität, was die | |
Bedingungen für den Aufstieg des islamischen Dschihadismus entscheidend | |
begünstigt. | |
Nach dem Sechstagekrieg legten die arabischen Staaten auf der Konferenz von | |
Khartum ihre drei Neins für die zukünftige Politik gegenüber Israel fest: | |
kein Frieden, keine Anerkennung, keine Verhandlungen mit dem jüdischen | |
Staat. | |
## Ein Abnutzungskrieg | |
Was im Nahen Osten gemeinhin als vierter israelisch-arabischer Krieg | |
gezählt wird, ist im europäischen historischen Bewusstsein kaum präsent. | |
Der Abnutzungskrieg zwischen Ägypten und Israel von 1968 bis 1970, den | |
Nasser begonnen hatte, um den Sinai von Israel zurückzuerobern. Die | |
israelische Seite hatte in dieser Auseinandersetzung fast doppelt so viele | |
Tote wie im Sechstagekrieg zu beklagen. Am territorialen Status quo änderte | |
sich durch den Abnutzungskrieg nichts Entscheidendes. | |
In den Jahren vor dem Jom-Kippur-Krieg hatte es Israel nicht nur mit den | |
arabischen Staaten, sondern auch mit der PLO und anderen palästinensischen | |
Organisationen zu tun, die Hunderte Angriffe gegen Israel ausführten und zu | |
dieser Zeit unmissverständlich die Zerstörung Israels forderten. Nach der | |
Schwächung der arabischen Armeen im Sechstagekrieg galt der | |
palästinensische Terrorismus Anfang der 1970er Jahre in Israel als | |
dominierendes Problem. Im Vorfeld des Jom-Kippur-Kriegs vollzog sich ein | |
ähnlicher militärischer Aufmarsch an den Grenzen Israels wie vor dem | |
Sechstagekrieg. | |
## Schlecht vorbereitet | |
Das israelische Establishment war allerdings überzeugt, die arabischen | |
Staaten seien weder willens noch fähig zu einem erneuten Angriff – und | |
falls sie es doch wagen sollten, würde Israel sie innerhalb kürzester Zeit | |
zurückschlagen. Konkrete Warnungen von Teilen des Militärs und der | |
Geheimdienste wurden nicht ernst genommen. | |
Dementsprechend wurde das Land vom konzertierten Angriff der von Moskau | |
massiv aufgerüsteten syrischen und ägyptischen Armeen im Oktober 1973 an | |
einem der höchsten jüdischen Feiertage weitgehend überrascht. Anders als im | |
Sechstagekrieg hatte Israel es verpasst, auf die massive | |
Militärkonzentration an den Grenzen des jüdischen Staates mit einem | |
Präventivschlag zu reagieren oder sich zumindest angemessen auf einen | |
bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Bis heute ist in Israel umstritten, | |
ob der Krieg vermeidbar und es mit Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat nicht | |
schon vor 1973 möglich gewesen wäre, ein Friedensabkommen mit Ägypten zu | |
schließen. | |
Auch die Frage, ob Sadat und der syrische Präsident Hafis al-Assad | |
tatsächlich die mögliche Zerstörung Israels für ein realisierbares Ziel | |
hielten oder lediglich auf die Rückeroberung des im Sechstagekriegs | |
verlorenen Golan und des Sinai sowie eine nachhaltige Schwächung Israels | |
aus waren, wird bis heute kontrovers diskutiert. | |
Unabhängig davon war das öffentliche Bewusstsein in Israel während des | |
Jom-Kippur-Krieges von einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß von | |
Verzweiflung und Angst vor einer erneuten Vernichtung geprägt. Im Gegensatz | |
zum Sechstagekrieg nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der | |
politischen und militärischen Führung, die sich angesichts des unerwartet | |
schnellen Vorrückens der angreifenden Armeen mit einer drohenden Niederlage | |
konfrontiert sah. | |
## US-Waffenlieferungen leiten die Wende ein | |
Diese konnte letztlich nur durch eine massive, aber erst nach langem Zögern | |
errichtete Luftbrücke der USA zwecks Lieferung moderner Waffen abgewendet | |
werden. Am Beginn des Krieges sah sich Israel dermaßen in Bedrängnis, dass | |
es mit dem Einsatz seiner Nuklearwaffen drohte – was den Ausschlag für die | |
umfangreichen Waffenlieferungen der US-Regierung gegeben haben dürfte. | |
Israel hatte im Jom-Kippur-Krieg über 2.600 Tote zu beklagen – fast viermal | |
so viele wie im Sechstagekrieg. | |
Die Verluste der Gegenseite, die im Verlauf der Kampfhandlungen | |
Unterstützung aus Jordanien, Marokko, Libyen, Sudan und insbesondere dem | |
Irak erhalten hatte, werden auf 15.000 bis 35.000 geschätzt. Territorial | |
brachte der Jom-Kippur-Krieg, der in Ägypten in der Regel Oktober- oder | |
Ramadan-Krieg genannt wird, so gut wie keine Veränderungen. | |
Die arabische Seite wurde nach anfänglichen Erfolgen abermals deutlich | |
geschlagen. Der ägyptischen Propaganda gelang es aber, den Kriegsausgang – | |
anders als 1948 und 1967 – als großartigen Sieg zu verkaufen. Dies war eine | |
wichtige Voraussetzung für die dann folgenden Friedensgespräche, die Sadat | |
meinte, nur aus einer Position relativer Stärke wagen zu können. | |
## Erhöhte Alarmbereitschaft | |
Den Weltmächten hatte der Krieg vor Augen geführt, dass der Konflikt | |
Israels mit seinen arabischen Nachbarn das Potenzial zu einer globalen | |
Eskalation besaß. Die Sowjetunion hatte während des Krieges sieben | |
Luftlande-Divisionen in Einsatzbereitschaft versetzt, woraufhin die USA für | |
ihre Nuklearwaffeneinheiten die Alarmbereitschaft erklärten. Als Reaktion | |
darauf gibt es seither ein Interesse der Großmächte, eine Annäherung | |
zwischen Israel und Ägypten zu unterstützen. | |
Der Friedensschluss mit Ägypten 1979 war die wichtigste außenpolitische | |
Folge des fünften arabisch-israelischen Waffengangs: Erstmals erkannte ein | |
arabischer Staat den 1948 gegründeten israelischen Staat an, und Israel | |
räumte – schon damals gegen massiven Widerstand der nationalreligiösen | |
Siedlerbewegung – den 1967 eroberten Sinai. Innenpolitisch führte der | |
Jom-Kippur-Krieg zum Rücktritt der israelischen Premierministerin Golda | |
Meir. | |
Dies ebnete den Weg für den erstmaligen Wahlsieg des rechtskonservativen | |
Likud unter Menachem Begin bei den israelischen Wahlen 1977, nachdem die | |
sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien für die katastrophalen | |
Fehleinschätzungen zu Beginn des Jom-Kippur-Kriegs verantwortlich gemacht | |
wurden. Insofern markiert der Krieg von 1973 den Anfang vom Ende der | |
Vorherrschaft der zionistischen Linken in Israel, welche das Land in den | |
ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz geprägt hatte. | |
## Umorientierung in der Bündnispolitik | |
In der Bündnispolitik, insbesondere in Afrika und Lateinamerika, führte der | |
Krieg zu einer Umorientierung Israels, welches in den 1950er und 1960er | |
Jahren noch enge Beziehungen zu einer Reihe postkolonialer Staaten | |
unterhalten hatte. Im Jom-Kippur-Krieg bekam Israel einen Eindruck davon, | |
wie es mit dem emanzipatorischen Potenzial der weltweiten linken | |
„Befreiungsbewegungen“ bestellt war. | |
Zahlreiche dieser Bewegungen schickten ebenso wie die | |
autoritär-sozialistischen Regierungen im Trikont Solidaritätsadressen an | |
die arabischen Angreifer und wünschten ihnen alles Gute beim | |
antiimperialistischen Feldzug gegen den zionistischen Feind. Und das in | |
einer Situation, in der Israel sich an den Rand einer Niederlage gedrängt | |
sah, von der man annehmen musste, dass sie die Vernichtung des jüdischen | |
Staates und die Ermordung der Mehrzahl seiner Bewohner bedeutet hätte. Dass | |
der israelische Staat diese „Befreiungsbewegungen“ in den Jahrzehnten nach | |
1973 wie Todfeinde behandelt hat, ist nicht verwunderlich. | |
6 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Grigat | |
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