# taz.de -- Antisemitismus und Nahost-Konflikt: Unser aller Verantwortung | |
> Als Erbe des 20. Jahrhunderts obliegt es allen, auch den Palästinensern | |
> und Deutschen, gegen Antisemitismus und für Menschenrechte zu kämpfen. | |
Bild: Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas besucht Dschenin im israel… | |
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Äußerungen von Mahmoud Abbas, in seiner | |
Rede vor dem Fatah-Regionalrat über Juden und den Holocaust sind | |
unverschämt. Der Holocaust ist durch nichts anderes als durch | |
Antisemitismus und Rassismus verursacht worden. | |
Abbas hatte sich im vergangenen Jahr auf einer Pressekonferenz mit | |
Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin bereits in ähnlicher Weise geäußert, | |
als er behauptete, Israel habe „50 Holocausts“ an den Palästinensern | |
verübt. Er wurde dafür verurteilt, auch von Scholz, und dieses Mal zu Recht | |
von der deutschen Vertretung in Ramallah. | |
Zugegeben: Wir als Angehörige des palästinensischen Volkes haben ein großes | |
Problem damit, den Schrecken des Holocaust zu verinnerlichen. Für Opfer ist | |
es schwierig, den Schmerz ihrer Unterdrücker anzuerkennen. So sind | |
Generationen von Palästinensern, die die Nakba (Katastrophe) von 1948, die | |
Flucht und Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet des heutigen | |
Israels und die scheinbar nicht enden wollende Besatzung seit 1967 | |
miterlebt haben, nicht geneigt, sich über das schreckliche Leid der Eltern | |
und Großeltern ihrer heutigen Unterdrücker zu informieren oder dafür | |
Verständnis aufzubringen. | |
Doch diese psychologisch-soziologische Erklärung, so stichhaltig sie auch | |
sein mag, erlaubt uns dennoch nicht, in unentschuldbarer Unwissenheit zu | |
verharren. Ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, [1][uns als Gesellschaft | |
über die Schrecken des Holocaust aufzuklären]. | |
## Realität in den besetzten Gebieten | |
Wenn ich vor einem palästinensischen Publikum spreche, dann höre ich hier | |
auf. Aber hier wende ich mich an ein deutsches Publikum, deshalb sind ein | |
paar weitere Worte notwendig. Es ist klar, dass Deutschland eine direkte | |
historische Verantwortung für den Holocaust trägt und sich immer noch mit | |
seiner Geschichte auseinandersetzt; es ist auch klar, dass es universelle | |
Pflichten gibt, die uns allen durch den Holocaust auferlegt wurden. | |
Wir müssen für eine globale, regelbasierte Ordnung eintreten, die auf den | |
Prinzipien des Völkerrechts beruht, die aus der Asche des Holocausts | |
entstanden sind. Als Erbe des 20. Jahrhunderts obliegt es uns allen, | |
natürlich auch uns Palästinensern, Demokratie und Menschenrechte zu | |
schützen und den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aller Art | |
aufzunehmen. | |
Dieselben Pflichten sollten die Deutschen zwingen, sich der Realität in den | |
besetzten palästinensischen Gebieten zu stellen: Wir leben unter Apartheid. | |
Das Zentrum meiner Heimatstadt Hebron wurde in eine segregierte | |
Geisterstadt verwandelt. [2][Nach Angaben der israelischen | |
Menschenrechtsorganisation B’Tselem] wurden in den letzten 25 Jahren mehr | |
als 1.000 Familien aus der Innenstadt vertrieben, 1.500 Geschäfte | |
geschlossen, um die Anwesenheit von 850 Siedlern zu ermöglichen. Das | |
verstößt gegen internationales Recht. Mir und anderen Palästinensern ist es | |
verboten, durch einige der Hauptstraßen zu gehen, die von den israelischen | |
Militärbehörden als „steril“ bezeichnet werden. | |
## Deutsches Engagement für Menschenrechte | |
Hebron ist ein Mikrokosmos für das zweistufige Rechtssystem, das im | |
gesamten Westjordanland gilt. Während israelische Siedler den vollen Schutz | |
des Zivilrechts genießen, sind wir als staatenlose Palästinenser der | |
Rechtsprechung der Militärgerichte unterworfen. Diese Gerichte haben mich | |
wegen meines gewaltlosen Engagements gegen die Besatzung zu drei Monaten | |
Haft und zwei Jahren Bewährung verurteilt. Ich galt als Wiederholungstäter, | |
weil ich, wie der Richter es ausdrückte, weiterhin an Protesten teilnahm, | |
für die es keine Genehmigung gab. In einem militärischen Besatzungsregime, | |
das es verbietet, sich mit 10 oder mehr Personen zu einem politischen Zweck | |
zu versammeln, macht einen die Teilnahme an gewaltlosen Protesten offenbar | |
zu einem Verbrecher. | |
Warum würden Sie das nicht Apartheid nennen? Das ist unsere tägliche | |
Realität. Doch Deutschland lässt sein Engagement für die Menschenrechte vor | |
der Tür der besetzten Gebiete stehen. | |
Der Kampf gegen den Antisemitismus ist für unsere Menschlichkeit | |
unerlässlich. Aber dieser Kampf darf nicht dazu missbraucht werden, | |
[3][Kritik an der israelischen Apartheidspolitik als antisemitisch | |
abzustempeln]. Jede Regierung, die dies tut, stellt Israel einen | |
Blankoscheck aus, mit dem es seine Unterdrückung meines Volkes ungestraft | |
fortsetzen kann. | |
Die Unzulänglichkeit des deutschen Engagements für die Menschenrechte macht | |
aber nicht bei der Behandlung Israels halt, sondern zeigt sich auch in der | |
Haltung gegenüber Abbas. Um der Stabilität und Sicherheit Israels und | |
seiner illegalen Siedler willen hält Deutschland den Status quo aufrecht | |
und verschließt die Augen vor dem autoritären Verhalten der | |
Palästinensischen Autonomiebehörde. | |
Wie lange wird Deutschland noch eine Behörde finanzieren, in der | |
Journalisten allzu oft für das „Verbrechen“ verhaftet werden, ihre Meinung | |
zu sagen? Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist kein Wert, den die | |
Palästinensische Autonomiebehörde unter Abbas mit ihren europäischen | |
Geldgebern teilt. | |
## Autoritärer Abbas | |
Ich selbst wurde von der Palästinensischen Autonomiebehörde wegen meines | |
Aktivismus inhaftiert – ähnlich wie von den israelischen Behörden. Und | |
vielen meiner Mitstreiter ist es noch schlechter ergangen. Mein Freund, der | |
Aktivist Nizar Banat wurde 2021 wegen seiner Ehrlichkeit in PA-Gewahrsam | |
getötet. | |
Abbas hat seine Wahlperiode um 14 Jahre überschritten. Angesichts der | |
Tatsache, dass etwa zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung in den | |
besetzten Gebieten unter 30 Jahre alt sind und die letzten Wahlen mehr als | |
fünfzehn Jahre zurückliegen, hatte etwa die Hälfte der heutigen | |
Wählerschaft noch nie die Möglichkeit, überhaupt zu wählen. Denn Abbas hat | |
die autoritäre Angewohnheit, sich Wahlen zu entziehen oder sie zu | |
annullieren. | |
Ich riskiere, von Abbas’ Sicherheitsapparat (erneut) verhört und | |
eingesperrt zu werden, weil ich dies schreibe. Dennoch habe ich den Mut und | |
den Willen aufgebracht, die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen, mich gegen | |
Unterdrückung und Heuchelei zu stellen und mich für Demokratie und | |
Menschenrechte für alle einzusetzen. Gestatten Sie mir, Sie, die Bürger | |
eines freien Landes, aufzufordern, dasselbe zu tun. | |
28 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/moralisch-und-politisch-verwe… | |
[2] https://www.btselem.org/sites/default/files/publications/201909_playing_the… | |
[3] https://www.haaretz.com/world-news/europe/2023-08-07/ty-article/.premium/ge… | |
## AUTOREN | |
Issa Amro | |
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