# taz.de -- Kulturpolitik im Nahost-Konflikt: (K)ein Raum für Diskurs | |
> Der Berliner Senat droht, dem Kulturzentrum Oyoun die Förderung zu | |
> streichen, weil es propalästinensischen Gruppen Räume zur Verfügung | |
> stellt. | |
Bild: Der Nahostkonflikt überschattet auch die Kulturpolitik von Berlin | |
BERLIN taz | Louna Sbou ist sichtlich mitgenommen. Sie ist | |
Geschäftsführerin des [1][Oyoun, einem Kulturzentrum] in Neukölln an der | |
Hasenheide. Und dem droht wegen des Nahostkonflikts die Finanzierung | |
wegzubrechen. Weil sie marginalisierten jüdischen und palästinensischen | |
Gruppen Räume zur Verfügung stellen, sagt das Oyoun. Weil sie mit Gruppen | |
zusammenarbeiten, die zum Boykott von Israel aufrufen und dessen | |
Existenzrecht infrage stellen, sagt die zuständige Senatsverwaltung für | |
Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das sei mit dem Landeskonzept | |
zur Antisemitismusprävention nicht vereinbar. | |
Konkret geht es um den Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in | |
Nahost, der am vergangenen Samstag im Oyoun eine „Trauer- und | |
Hoffnungsfeier“ zu seinem 20-jährigen Bestehen abgehalten hat. Eine | |
Sprecherin der Senatskulturverwaltung bestätigt, im Vorfeld die Leitung des | |
Oyoun „eindringlich gebeten“ zu haben, die bereits seit dem Sommer geplante | |
Veranstaltung abzusagen, da diese Gruppe „aktiv die [2][BDS-Bewegung] | |
unterstützt“. BDS ist eine internationale Kampagne, die zum Boykott und zur | |
Sanktionierung Israels aufruft. | |
„Wir sehen das als Eingriff in unsere Arbeit und in die Kunstfreiheit“, | |
sagt Oyoun-Geschäftsführerin Louna Sbou der taz. Bereits im Juni 2021 | |
hätten sie auf Drängen der Senatskulturverwaltung eine Veranstaltung mit | |
der Jüdischen Stimme, der Linken Neukölln und der Gruppe Palästina Spricht | |
abgesagt. Auch bei anderen Veranstaltungen zu palästinensischen | |
Perspektiven auf den Nahostkonflikt und teils auch bei der Arbeit mit | |
palästinensischen Künstler*innen habe der Senat Druck ausgeübt. | |
Das sei auch schon unter dem Vorgänger von Kultursenator Joe Chialo (CDU) | |
so gewesen, [3][Klaus Lederer] von den Linken. „Für uns war insbesondere | |
irritierend, dass das Veranstaltungen betraf, an denen die Linke Neukölln | |
beteiligt war“, sagt Sbou. „Bei einer linken Hausleitung waren wir davon | |
ausgegangen, dass Veranstaltungen eines Bezirksverbands der eigenen Partei | |
unstrittig sind.“ | |
## Eine Million Euro Fördergelder pro Jahr | |
Die Geschäftsführerin bezeichnet die Einmischung des Senats in das Programm | |
des Kulturzentrums als „rassistisch“. Eine solche Einflussnahme auf | |
palästinensische Stimmen stelle diese unter antisemitischen | |
Generalverdacht, sagt Sbou. „Wir verstehen uns als einen Ort der kritischen | |
Auseinandersetzung, und wir wollen auch einen Raum öffnen, in dem es um | |
antipalästinensischen Rassismus geht.“ | |
Sbou versteht das Oyoun als „Brave Space“, einen Raum, in dem in einem | |
geschützten Umfeld Dinge ausgesprochen werden können, ohne gleich bewertet | |
oder verurteilt zu werden. „Wir sind ein Ort, der Dialoge möglich macht, | |
die an anderer Stelle unbequem sind.“ | |
„Die von uns geförderten Einrichtungen müssen sich im Rahmen demokratisch | |
abgesteckter Grenzen bewegen“, sagt die Sprecherin der Kulturverwaltung auf | |
taz-Nachfrage. Darauf hätten sie das Oyoun mehrfach hingewiesen. Die | |
Verwaltung fördert das Kulturzentrum mit rund einer Million Euro im Jahr. | |
Die Fortsetzung der Förderung werde aktuell „mit Nachdruck“ geprüft, so d… | |
Sprecherin. | |
Das Oyun stellt sich dennoch [4][fest an die Seite der Jüdischen Stimme] | |
und sagte die Veranstaltung am Samstagabend nicht ab. Mehrere Gäste im | |
großen Veranstaltungssaal tragen die Kufiya, das Palästinensertuch. Einige | |
kommen mit Plakaten in der Hand direkt von der [5][propalästinensischen | |
Demonstration], die am Nachmittag mit rund 10.000 Teilnehmer*innen vom | |
Alexanderplatz zum Potsdamer Platz gezogen war und zu der die Jüdische | |
Stimme mit aufgerufen hatte. | |
## Hamas bleibt bei Jüdischer Stimme eine Leerstelle | |
„Israel spricht nicht in unserem Namen“, sagt Nirit Sommerfeld von der | |
Jüdischen Stimme bei der Begrüßung. Mit dem „Schock und Horror des | |
Hamas-Massakers“ habe sich die „grausame Gewissheit“ eingestellt, „dass | |
Israels Antwort darauf unerbittlich sein würde“. Die Welt erlebe gerade | |
einen Genozid, sagt sie, „Angriffe von Milizen aus Gaza“ seien keine | |
Rechtfertigung für Bombardierungen. „Die Ursprünge liegen weit vor dem 7. | |
Oktober. Darüber wollen wir uns austauschen.“ | |
Vom „jüdischen Mainstream“ würden sie geächtet, [6][sagt der Vorsitzende | |
der Jüdischen Stimme, Wieland Hoban]. „Aber man hört uns etwas eher zu als | |
palästinensischen Stimmen.“ Für ihn wird der deutsche Erinnerungsdiskurs | |
perfide gegen Minderheiten gewendet, aus dem Holocaust seien „falsche | |
Lehren“ gezogen worden, sagt er. Ähnlich wie bei der propalästinensischen | |
Demonstration am Nachmittag bleibt auch an diesem Abend die Verantwortung | |
der Hamas eine Leerstelle. | |
Wie sehr, das zeigt sich auch in dem Statement von Gründungsmitgliedern, | |
die nach Hoban sprechen. „Hamas sind keine Politiker, sie haben keine | |
Konventionen unterschrieben“, sagt etwa [7][Iris Hefets. „Deshalb sind | |
unsere Adressaten auch die Politiker.“] Sie weine in beide Richtungen, „ich | |
will aber nicht den Anschein erwecken, dass es eine Symmetrie gibt“, sagt | |
Fanny-Michaela Reisin. „In Israel zu leben ist eine selbstgewählte | |
Entscheidung. In Gaza ist es das nicht.“ „Wenn es so weitergeht, sehe ich | |
nicht, wie alle dort zusammenleben können“, sagt Refets am Ende. | |
Große Sorge bereiten den Teilnehmer*innen die möglichen Pläne Israels, | |
die zwei Millionen Menschen im Gazastreifen [8][nach Ägypten umzusiedeln]. | |
„Was Todeszahlen und Vertreibung betrifft, stellt das die Nakba in den | |
Schatten“, sagt Ahmed Abed, Linke-Abgeordneter aus Neukölln, der an dem | |
Abend für die palästinensische Seite auf der Bühne spricht. Er beklagt die | |
„Jagd“ auf BDS-Unterstützer*innen, dabei sei dies „die friedlichste Art … | |
Widerstands“. | |
## Willkürliche Entscheidung | |
Oyoun-Geschäftsführerin Louna Sbou und ihre Kollegin Nina Martin sagen, sie | |
wollen jüdischen Projekten einen Raum geben, unabhängig von deren | |
Positionierung zum BDS. Insgesamt hätten sie rund 600 Veranstaltungen pro | |
Jahr. „Wir setzen uns aktiv gegen Antisemitismus ein und machen bei | |
Palästina keine Ausnahme“, sagt Sbou. Sie hätten Antisemitismusbeauftragte, | |
drei von zehn Personen im Beirat seien jüdisch. „Wenn jemand das | |
Existenzrecht Israels infrage stellt, ist das auch für uns ein absolutes | |
No-Go.“ | |
Verboten ist der Verein Jüdische Stimme nicht, ebenso wenig die | |
Organisation Palästina spricht. Dass der Senat das Kulturzentrum dennoch | |
gedrängt habe, keine Veranstaltungen mehr mit ihnen durchzuführen, „weil | |
das ‚politisch zu brisant‘ sei“, findet Sbou willkürlich. Denn es gebe v… | |
Senat keine Kriterien, ab wann das gelte. | |
Die Jüdische Stimme steht aktuell allerdings nicht nur wegen ihrer Nähe zum | |
BDS in der Kritik, sondern auch [9][wegen ihrer Reaktion auf das Pogrom der | |
Hamas]. „Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die | |
Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie | |
Palästinener:innen sind“, schrieb der Verein 10. Oktober in einem | |
Statement. | |
Sbou will das nicht bewerten. „Gelebte Erfahrung steht für uns im Zentrum | |
unserer Arbeit. Es steht uns nicht zu, zu beurteilen, wie sich eine Gruppe | |
von Betroffenen ausdrückt.“ Ihre Kollegin Nina Martin ergänzt: „Gerade ei… | |
Demokratie braucht Diskurse und muss Debatten aushalten, die dazu noch in | |
Nordneukölln wichtig sind.“ Wenn tagtäglich Menschen auf der Sonnenallee | |
protestieren, sei es umso wichtiger, Räume zu öffnen, um auch zu | |
diskutieren. | |
7 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nachfolger-der-Werkstatt-der-Kulturen/!5667538 | |
[2] /BDS-Bewegung-gewinnt-Rechtsstreit/!5825904 | |
[3] /Berlins-Kultursenator-zieht-Bilanz/!5927326 | |
[4] https://oyoun.de/news/statement-israel-palestine-free-speech/ | |
[5] /Pro-Palaestinensische-Demo-in-Berlin/!5970809 | |
[6] https://www.juedische-stimme.de/20-jahre-j%C3%BCdische-stimme:-rede-unseres… | |
[7] /Nahost-Konflikt-in-Berlin/!5963572 | |
[8] /Krieg-im-Gazastreifen/!5966908 | |
[9] https://www.juedische-stimme.de/stellungnahme-zum-aktuellen-gaza-krieg-und-… | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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