# taz.de -- Debatte um Berliner Sonnenallee: Hausgemachte Probleme | |
> Jahrzehntelang wurden Palästinenser in Berlin gezielt von Arbeit und | |
> Teilhabe ausgeschlossen. Linke und arabische Stimmen warnten früh vor den | |
> Folgen. | |
Bild: 7 Menschen auf 25 Quadratmetern: eine geflüchtete palästinensische Fami… | |
Reden wir nicht um den heißen Brei. Immer wenn wir über #Palästinenser, | |
#Neukölln, [1][#Sonnenallee], [2][#Silvesternacht], | |
#Integrationsverweigerer und #Baklava diskutieren, dann sprechen wir auch | |
über Langzeitfolgen eines grandiosen Versagens der Westberliner Politik. | |
Bis zu 45.000 Menschen mit palästinensisch-libanesischem Hintergrund leben | |
in Berlin. Niemand weiß so genau, wie viele es tatsächlich sind. Die | |
überwiegende Mehrheit der Familien kam [3][im Zuge des libanesischen | |
Bürgerkriegs] und der Konflikte im Nahen Osten zwischen 1975 und 1990 nach | |
Berlin. Viele westeuropäische Länder verweigerten den | |
Bürgerkriegsflüchtlingen damals noch die Einreise, da sie in der Regel | |
keine politisch Verfolgten waren. Westberlin wurde für sie zum Nadelöhr. | |
Und so verlief die Einreise: Die Asylsuchenden stiegen in Beirut in eine | |
Maschine von Interflug, der staatlichen Fluggesellschaft der DDR, und | |
landeten vier Stunden später sicher und wohlbehalten auf dem Flughafen | |
Berlin-Schönefeld. Da nur PLO-Funktionäre in der DDR Asyl erhielten, wurde | |
das einfache Volk mit einem Transferbus für fünf DDR-Mark vom Flughafen zum | |
S-Bahnhof Friedrichstraße gebracht, dem Grenzübergang im Herzen Ostberlins. | |
Im Tiefgeschoss der Friedrichstraße gab es eine Haltestation der | |
Westberliner U-Bahnlinie 6, mit der man in wenigen Minuten nach Westberlin | |
gelangte. Da Westberlin aus politischen Gründen auf jede Kontrolle der | |
Einreisenden verzichtete – dies hätte eine faktische Anerkennung der | |
innerdeutschen Grenze bedeutet – konnten die Flüchtlinge ungehindert in | |
Kreuzberg oder dem Wedding aussteigen und einen Asylantrag stellen. Nach | |
dem damals gültigen Asylgesetz waren sie damit vor sofortiger Abschiebung | |
geschützt. | |
## Geflüchtet vor Massakern | |
Jede Eskalationsstufe des Bürgerkriegs im Libanon, in dessen Verlauf rund | |
90.000 Menschen getötet und rund 800.000 vertrieben wurden, löste einen | |
Flüchtlingsstrom nach Westberlin aus. Im August 1976 griffen | |
christlich-maronitische Falangisten gemeinsam mit der syrischen Armee das | |
palästinensische Flüchtlingslager Tel al-Zaatar im Norden Beiruts an und | |
zerstörten es. Bis zu 3.000 Palästinenser, darunter viele Zivilisten, | |
wurden getötet. Viele der Überlebenden sind nach Berlin geflüchtet. Das | |
Massaker in Tel al-Zaatar war eine Rache für das Massaker im christlichen | |
Dorf Damur am 20. Januar 1976, bei dem palästinensische und muslimische | |
Milizen Hunderte von Christen töteten. Jenes Massaker von Damur war | |
wiederum eine Reaktion auf das an Palästinensern verübte Massaker von | |
Krantina, als am 18. Januar mehr als 1.000 Zivilisten getötet wurden. | |
1978 marschierte die israelische Armee in den Libanon ein, um im Süden des | |
Landes eine Sicherheitszone einzurichten. Viele der vertriebenen Libanesen | |
und Palästinenser flüchteten nach Berlin. Im September 1982 verübten | |
Falangisten nach dem Abzug der PLO aus dem Libanon [4][erneut ein Massaker | |
in Beirut – diesmal in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila]. Auch bei | |
diesem Massaker wurden zwischen 1.500 und 2.000 Menschen getötet. Erneut | |
flüchteten Menschen nach Westberlin. | |
## „Zumeist die Ärmsten“ | |
Es waren nicht die Privilegierten und Gebildeten, die sich aus dem Libanon | |
nach Westberlin aufmachten. „Es waren zumeist die Ärmsten, die wegen der | |
Sozialhilfe und der leichten Einreise über die DDR in die Bundesrepublik | |
kamen; Menschen, die weder Verwandte im Ausland hatten, noch reich genug | |
waren, um zu wählen, wohin sie gingen“, schreibt Ralph Ghadban, der 2000 | |
seine Dissertation zu „Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration | |
ethnischer Flüchtlinge“ im Verlag Das Arabische Buch veröffentlichte. | |
Einmal auf diesem Weg in Westberlin angekommen, erhielten die Geflüchteten | |
keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Anspruch auf Asyl hatten sie in der | |
Regel nicht, da sie keine politisch Verfolgten waren. Aufgrund der Genfer | |
Flüchtlingskonvention, die auch in Westberlin bindend war, durften sie aber | |
auch nicht in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben werde. Eine auf wenige Monate | |
begrenzte Duldung reihte sich so an nächste. Auch erhielten sie in der | |
Regel keine Arbeitserlaubnis und wurden in ein System reduzierter | |
Sozialhilfe gepresst. Einer Sozialhilfe, die zum Teil nicht als Bargeld, | |
sondern in Form von Lebensmittelgutscheinen ausgezahlt wurde. | |
## Erzwungenes Nichtstun | |
Die Menschen reagierten auf das erzwungene Nichtstun und richteten sich in | |
der Schattenökonomie ein. Diese hatte viele Facetten. Zwei Beispiele von | |
vielen: In den achtziger Jahren durchstöberten am Fruchthof Beusselstraße | |
jeden Tag um vier, fünf Uhr in der Früh Dutzende von Geflüchteten das | |
weggeworfene Obst und Gemüse nach Verwertbaren. Sie boten dieses in ihren | |
Kiezen und Nachbarschaften zum Kauf an. Es war eine Möglichkeit, an Bargeld | |
zu kommen. | |
Eine andere waren Kurierdienste. Mitte der 80er Jahre transportierte | |
Interflug nicht nur Menschen von Beirut nach Westberlin, sondern auch | |
Mangelprodukte wie Sesamsoße, die Gewürzmischung Zatar und unverzollte | |
Zigaretten. Die Waren nahmen den gleichen Weg wie die Menschen. Die | |
Zigaretten wurden von Frauen aus den Flüchtlingswohnheimen auf dem | |
unterirdischen U-Bahnhof Friedrichstraße in Empfang genommen und in | |
Handtaschen und unter den Röcken versteckt in den Westteil der Stadt | |
transportiert. Dort klapperten die Auftraggeber die Wohnheime ab und | |
sammelten die Ware wieder ein. | |
## Marginalisierung | |
Die Berliner Politik der siebziger und achtziger Jahre setzte gegenüber den | |
Geflüchteten nicht auf Integration, sondern auf Marginalisierung. Anders | |
als die Arbeitsmigranten sollten die Palästinenser nicht Teil der | |
Stadtgesellschaft werden. Sie wurden bewusst wirtschaftlich, sozial und | |
kulturell an den Rand gedrängt. Weder der Schulbesuch der Kinder noch der | |
Spracherwerb wurden gefördert. Manche Kindertagesstätten und Schulen | |
verweigerten gar die Aufnahme palästinensischer Schüler*innen. Das war | |
legal, denn es gab in Berlin für Kinder aus geduldeten Familien keine | |
Schulpflicht. Die Folge: Viele palästinensische Kinder, heute sind es | |
Erwachsene im Alter von vierzig, fünfzig, sechzig Jahren, haben nur | |
sporadisch eine Schule besucht. | |
Auch als der rot-grüne Senat 1990 die Schulpflicht einführte, änderte sich | |
an der Bildungsmisere nur wenig. Weder wurden die Kitas und Schulen in | |
Nordneukölln dem Bedarf entsprechend ausgestattet, noch wurden die | |
Erzieher*innen und Lehrer*innen befähigt, Deutsch als Zweitsprache | |
erfolgreich zu vermitteln. Es war auch ein pädagogisches Scheitern. Nach | |
der Wende kam es dann zu einer bizarren Entwicklung. Der „Überhang“ von | |
Lehrer*innen aus den Schulen Ostberlins wurde nach Nordneukölln an | |
Brennpunktschulen umgesetzt, an denen kaum jemand unterrichten wollte. Wie | |
nicht anders zu erwarten, waren sie den sozialen und pädagogischen | |
Herausforderungen in dem ihnen völlig fremden Umfeld auch aufgrund ihrer | |
Ausbildung nicht gewachsen. Das Ergebnis: Viele Schüler*innen verließen | |
weiterhin die Schule ohne Abschluss. Das war ein bildungspolitisches | |
Scheitern. | |
## Unterstützung für Religiöse | |
Zurück in die achtziger Jahre. Zur Politik der Ausgrenzung gehörte, dass | |
der CDU-Senat lieber religiös-konservative palästinensische Gruppen | |
unterstützte und nicht die säkularen, die in den achtziger Jahren wohl die | |
Mehrheit der Palästinenser repräsentierten. Das Kalkül: Die Religiösen | |
würden die kulturelle Identität der Geflüchteten und ihrer Kinder stärken | |
und würden so deren Rückkehrbereitschaft fördern. Es gab bereits damals | |
viele Stimmen, die vor den Langzeitfolgen dieser [5][Politik der | |
Marginalisierung] und vor dem damit einhergehenden wachsenden Einfluss der | |
Islamisten warnten. Sie kamen von links – aus den Gewerkschaften, der | |
Sozialarbeit, aus der Pädagogik und aus libanesischen und palästinensischen | |
Kreisen. | |
Als [6][Heinz Buschkowsky], der Neuköllner Bürgermeister, 2004 „MultiKulti | |
ist gescheitert!“ rief und in der Folge „Islamkritiker“ und der | |
gesellschaftliche Mainstream sich dem Thema zuwandten, war es bereits zwei | |
Stunden nach zwölf. Und der Presse blieb im Zuge dieser Neukölln-Debatten | |
nicht mehr viel anderes übrig, als wie Regina Mönch in der Frankfurter | |
Allgemeinen Zeitung 2007 überrascht festzustellen: „Etwas läuft | |
grundsätzlich schief.“ Am auffälligsten unter den jungen kriminellen Tätern | |
Berlins seien die arabisch-libanesischen Jugendlichen: „Mit oder ohne | |
deutschen Pass stellen sie inzwischen 44 Prozent der so genannten | |
Intensivtäter.“ Rund 90 Prozent der einstigen arabischen Flüchtlinge | |
arbeiteten zu dieser Zeit gar nicht oder in der Schattenwirtschaft. Rund 60 | |
Prozent der Kinder verließen die Schule ohne Abschluss. | |
## Für viele zu spät | |
Häufig werden der Islam und vorgebliche Besonderheiten der arabischen | |
Mentalität für dieses sozial- und bildungspolitische Desaster | |
verantwortlich gemacht. Diese Argumentation wird der Geschichte nicht | |
gerecht. Vielmehr gilt: Als die Politik nach Jahrzehnten endlich den Weg | |
zur Integration der Geduldeten ebnete, war es für viele zu spät. Alles, was | |
wir heute unter den Chiffren Parallelgesellschaft, [7][Clankriminalität], | |
Intensivtäter und Islamismus diskutieren, sind Spätfolgen der Politik der | |
Marginalisierung. | |
Diese Zusammenhänge zu benennen, ist keine Entschuldigung der | |
Sympathiebekundungen für das Morden der Hamas in Neukölln und auch nicht | |
für den grassierenden Antisemitismus. Aber sie sind ein Hinweis, dass die | |
Berliner Palästinenser seit bald 50 Jahren hier leben, inzwischen | |
mehrheitlich Deutsche sind, es sich um keine importierten Probleme handelt, | |
sondern um hausgemachte. | |
26 Oct 2023 | |
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