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# taz.de -- Was ist „Clankriminalität“?: „Ein ganz großer Chancenraub“
> Mohammed Chahrour ist Mitherausgeber des Buchs „Generalverdacht“. Ein
> Gespräch über Razzien in Shisha-Bars und den „Mythos Clankriminalität“.
Bild: So genannte Gewerbekontrolle mit Polizeischutz gegen Shisha-Bars in Neuk�…
taz: Herr Chahrour, es gibt in Berlin einen bekannten Clan Ihres Namens.
Haben Sie manchmal Ärger deswegen?
Mohammed Ali Chahrour: Oft sogar. Kürzlich war ich im Roten Rathaus
eingeladen und kurz danach war ich im Abgeordnetenhaus. Beide Male bin ich
an der Sicherheitsschleuse auf meinen Nachnamen angesprochen worden. Auch
wenn ich reingekommen bin, waren das merkwürdige Interaktionen.
Wie haben Sie reagiert?
Ich kann das einordnen, aber junge Menschen können das nicht, für sie ist
es schwieriger, mit solchen Konfrontationen umzugehen. Gegen dieses Stigma
anzugehen, ist für mich persönlich eine große Motivation gewesen bei
unserem Buch. Ich habe eine Tochter, der ich meinen Nachnamen gegeben habe
– da fühle ich eine Verantwortung, dass ich diese deutsche Debatte
irgendwie zurechtrücke.
Sind Sie mit diesem Chahrour-Clan verwandt? Oder ist Chahrour so häufig wie
Müller?
Die Chahrours sind kein Clan. Wir sind keine homogene Gruppe von Menschen,
die einem Patriarchen unterstehen und gemeinsam Straftaten planen und
begehen.
Das habe ich nicht gemeint!
Ja, aber so ist der Clan-Begriff heute gemeint. Es gibt vielleicht irgendwo
einen geteilten Ur-Ur-Ur-Opa, es gibt sehr viele Chahrours auf der Welt.
Aber ich weiß nicht, ob ein gemeinsamer Vorfahr die Annahme rechtfertigt,
dass wir jetzt eine Großfamilie, ein „Clan“ sind. Ich kenne gerade noch
meinen Cousin zweiten Grades, den ich aber auch nur alle zwei Jahre sehe.
Das ist nicht viel anders als bei deutschen Familien.
Was haben Sie bei der Arbeit an dem Buch Neues gelernt?
Da gibt es einiges, weil wir wirklich viele starke Autor*innen aus
verschiedenen Disziplinen haben. Zum Beispiel habe ich aus dem Text von
Simin Jawabreh gelernt, wie das Polizieren in Sachen Clankriminalität
funktioniert.
Das was, bitte?
Mit Polizieren ist eine soziale Praxis gemeint, die das staatliche System
am Laufen hält. Alle Menschen werden poliziert, die einen auf eine
erdrückende und die anderen auf eine zugehörige Art und Weise. Die Polizei
poliziert im klassischen Sinne, dabei werden öffentliche Räume und
bestimmte Gruppen von der Polizei stigmatisiert und kriminalisiert. Aber
auch andere Behörden, wie etwa das Jobcenter, polizieren. Man kann auch
sagen, dass Polizei und andere Behörden eingesetzt werden, um gewissen
Gruppen zu begegnen, sie zu „bearbeiten“. Dazu sollte man wissen, dass das
in einer kolonialen Tradition steht.
Was hat das mit Kolonialismus zu tun?
Weil als Erstes Kolonialisierte poliziert wurden, bevor diese Praxis in das
koloniale Zentrum gewandert ist. Das Polizieren, wie wir es in Europa
kennen und wie es rassifizierte Gruppen erleben, ist eine Praxis, die in
den Kolonien entstand. Damit wollten die Kolonialherren die dortige
Bevölkerung in Schach halten. Heute findet das immer stärker Anwendungen in
Bezug auf Gruppen, die hier als nicht weiß gelesen werden oder in einem
national ethnischen Kontext nicht „deutsch“ sind.
Der Untertitel Ihre Buchs heißt „Wie mit dem Mythos Clankriminalität
Politik gemacht wird“. Von wem und warum wurde dieser Mythos erfunden?
Der Begriff ist in der Polizeiarbeit entwickelt worden. Es gibt aus
Polizeikreisen und von Ausländerbehörden seit Anfang der 2000er Jahre
Bemühungen, gegen die damit beschriebenen Gruppen vorzugehen, sie
abzuschieben und so weiter. Kriminalistisch ist „Clankriminalität“ kein
großes Thema: Wenn wir uns das Phänomen kriminologisch anschauen, betrifft
es 0,1 bis 0,6 Prozent der Massenkriminalität in Deutschland. Die
Spannbreite kommt daher, weil wir von 16 Bundesländern sprechen, also 16
Landeskriminalämtern, 16 verschiedenen Polizeistatistiken. In Berlin liegt
der Wert bei 0,18 Prozent.
Also nur 0,18 Prozent aller Straftaten in Berlin haben – polizeilich
gesehen – einen Clankriminalität-Hintergrund?
Genau, und das „polizeilich gesehen“ ist wichtig. Denn es ist völlig
intransparent, wie dieser Marker „Clankriminalität“ vergeben, was genau
darunter subsummiert wird. Die Berliner Polizei behauptet ja immer, dass
sie das nicht unter rassistischen Kriterien tun würde. Aber wir wissen, es
gibt diese namensbasierten Ansätze, wo alle Vorkommnisse mit Menschen, die
einen bestimmten Nachnamen haben, als „Clankriminalität“ gezählt werden �…
auch, wenn es nur ums Falschparken geht.
Warum wurde der Mythos erfunden, wenn er real fast keine Rolle spielt?
Ich würde es nicht eine Erfindung nennen. Es ist etwas Altes, ein subtiler
und latenter Rassismus, den es in der Gesellschaft einfach gibt. Wir merken
das ja jetzt auch in unserem aktuellen Diskurs, dass verschiedenste
Problemlagen – Mangel an Kitaplätzen, an Wohnraum etwa – auf die
Geflüchteten zurückgeführt werden. Ebenso ist die Idee, dass Menschen
aufgrund ihrer ethnischen Herkunft in besonderer Art und Weise kriminell
sind. Ein alter rassistischer Hut, der zwar schon oft wissenschaftlich
widerlegt wurde, aber dennoch immer wieder recycelt wird. Wir sprechen
jetzt nicht mehr von den „kriminellen Ausländern“ sondern von „kriminell…
Clans“ – deswegen sprechen wir von einem Mythos. Gemeint sind mehrheitlich
muslimisch gelesene Gruppen und Roma.
Bei Clans denkt man nicht unbedingt an Roma, oder?
Ja, das war auch mir neu – auch so eine Sache, die ich durch unser Buch
gelernt habe, durch den Text von Guillermo Ruiz, der mittlerweile
Geschäftsführer der neuen Melde- und Informationsstelle für Antiziganismus
(MIA) ist. Im Allgemeinen meint man mit „Clankriminalität“ vor allem
bestimmte muslimisch und kurdisch gelesene Gruppen aus dem Libanon. Man
schreibt ihnen eine gewisse Kriminalitätsaffinität, mangelnde
Integrationsbereitschaft und anderes zu. Besonders problematisch ist, dass
dieser Begriff aus der Polizeiarbeit völlig ohne entsprechende Einordnung
in den öffentlichen Diskurs geraten ist. Niemand stellt die Frage: Unter
welchen Bedingungen sind diese Menschen hergekommen? Was für Startchancen
hatten sie? Was ist der Anteil institutioneller Diskriminierung?
Sie selbst haben ein Kapitel geschrieben namens „Identität unter
Generalverdacht“, in dem es um einen Zusammenhang von „Clankriminalität“
mit Kettenduldungen und anderen aufenthaltsrechtlichen Problemen gibt. Wie
sehen Sie den Zusammenhang? Weil eine Gruppe von Geflüchteten über Jahre
nicht arbeiten durfte, sind Teile von ihnen kriminell geworden?
Ja und nein. Das ist gar nicht so falsch beschrieben. Das hat diese
Entwicklung auf jeden Fall befördert. Für mich steht die sogenannte
Clankriminalität in einer rassistischen Kontinuität mit den Hürden und der
Kriminalisierung, die diese Gruppen bereits mit ihrer Ankunft in
Deutschland erfahren haben. Diese Gruppen bekamen kein Asyl, sondern nur
Duldungen, die immer wieder verlängert wurden, weil man sie als Staatenlose
nicht abschieben konnte, zudem war im Libanon bis 1990 Bürgerkrieg. Sie
bekamen nur Sachleistungen, also das, was heute viele wieder für
Asylbewerber fordern. Sie durften über Jahre und Jahrzehnte nicht arbeiten,
es gab keine Schulpflicht, die Wohnsitznahme war eingeschränkt. Es waren
also unglaublich schwierige Umstände.
Mit welchen Folgen?
Das war ein ganz großer Chancenraub, der politisch bewusst so entschieden
wurde in den 80er Jahren und aus meiner Sicht heute mit der sogenannten
Clankriminalität fortgesetzt wird. Man hat diese Gruppen an den
gesellschaftlichen Rand gedrängt und als „Illegale“ kriminalisiert, man
wollte sich mit ihnen nicht weiter befassen. Dass dann ein Bruchteil von
ihnen kriminell wurde, ist keine kulturelle oder ethnische Veranlagung,
sondern Folge ihrer systematischen institutionellen Diskriminierung. Heute
haben dieselben Gruppen auf Grund des Clanstigmas weiterhin Probleme auf
dem Wohn- und Arbeitsmarkt.
Im Buch werden ja auch die Verbundeinsätze kritisiert, besser bekannt als
„Großrazzien“ von Polizei, Zoll, Ordnungsämtern. Was ist das Problem?
Für die Betroffenen ist es unglaublich stigmatisierend – ganze Straßenzüge
kommen in Verruf. Und viele Geschäfte, die immer wieder kontrolliert
werden, haben dadurch krasse Umsatzeinbußen. Zudem gibt es bei Betroffenen
ein Gefühl von Willkür, denn immer geht es gegen „migrantische“ Geschäft…
Dazu kommt: Diese Polizeirazzien sind eigentlich Gewerbekontrollen, und es
gibt die Kritik von Polizeiwissenschaftler*innen und
Strafrechtler*innen, dass es nicht rechtens ist, immer die Polizei
dazuzurufen. Das kann man mal machen, wenn man meint, man kann die
Gewerbekontrolle sonst nicht durchführen. Aber a priori in bestimmten
Gegenden wie der Sonnenallee immer mit Polizei zu kommen und dann noch
Medien einzuladen, das riecht nach Verunglimpfung. Dritter Kritikpunkt: Die
Razzien sind sehr viel Aufwand für wenig Ergebnis. Es werden ja meist nur
Ordnungswidrigkeiten festgestellt.
Warum macht man das dann?
Weil Politik gut funktioniert als „governing through crime“, das ist
wissenschaftlich gut untersucht. Es ist ein Einfaches für die Exekutive und
für Regierende zu zeigen, dass sie etwas tun, wenn sie die Polizei nutzen
und sich selber in Szene setzen als angebliche Kämpfer gegen die
organisierte Kriminalität. Damit werden vor allem Wähler im konservativen
und rechten Spektrum mobilisiert. Dabei geht es oft nur um „unversteuerten“
Shisha-Tabak – was eigentlich ziemlich lustig ist.
Wieso?
„Unversteuert“ suggeriert ja etwas Hochkriminelles. Aber das Problem ist,
dass man in Shisha-Bars lange gar nicht umhinkam, „unversteuerten“ Tabak zu
verkaufen. Shisha-Tabak wurde nämlich über Jahre nur in 500-Gramm- oder
250-Gramm-Packungen abgepackt und versteuert. Aber in einen Shisha-Kopf
passen nur 25 bis 40 Gramm. Trotzdem durften Shisha-Bars theoretisch nur
ganze Packungen verkaufen, eine kleinere Menge galt laut Tabaksteuergesetz
als „unversteuert“. Aus demselben Grund dürfen Tabakgeschäfte auch keine
einzelnen Zigaretten verkaufen.
Also begehen Shisha-Bars zwangsläufig ein Steuerdelikt?
Ja, das ist ja der große Humbug! Die Tabaksteuer wurde inzwischen
angepasst, darauf gehen wir im Buch auch ein. Seit Anfang 2023 gibt es nur
noch 25-Gramm-Packungen, die sind versteuert und können also weitergegeben
werden an die Kunden, es gibt keine Probleme mehr. Nur hat die Politik auch
dies wieder gemacht, ohne die Betroffenen einzubeziehen. Shisha-Tabak wird
nämlich in Deutschland auch viel fürs Ausland produziert. Aber dort gibt es
wieder andere Bestimmungen und fürs Ausland ist es unsinnig,
25-Gramm-Pakete zu machen. Aber jetzt sind nur noch diese erlaubt.
Das war also ein Scheingefecht gegen die Shisha-Bars?
Ja, da wurde ein ganz großes Schreckgespenst aufgebauscht und Angst in der
Bevölkerung erzeugt. Und man kann nicht oft genug betonten, dass sich die
betroffene Bevölkerungsgruppe nicht gut wehren kann, weil viele von ihnen
schlicht kein Wahlrecht haben. Sie können diese Politik nicht einfach
abwählen! Anders herum gefragt: Warum werden zum Beispiel nicht die Kneipen
in Süd-Neukölln kontrolliert, die bekanntermaßen Treffpunkte von Neonazis
sind? Meine Vermutung: Das ist deutsches Terrain.
15 Nov 2023
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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