# taz.de -- Nahost-Konflikt in Berlin: Sinnbild Sonnenallee | |
> Dutzende skandieren „Free Palestine“, ein Schulhofkonflikt wird zum | |
> Politikum – doch es gibt auch andere, leisere Stimmen. Eine Woche in | |
> Neukölln. | |
Bild: Macht ihn die Palästina-Solidarität zum Hamas-Unterstützer? Demonstran… | |
BERLIN-NEUKÖLLN taz | Es knallt auf der Sonnenallee, die Schüler:innen | |
erschrecken. Knapp 40 von ihnen und einige Eltern protestieren am Mittwoch | |
vor einem Gymnasium in Neukölln. Viele tragen eine Kufija um den Hals, das | |
schwarz-weiße Palästinensertuch. Der Knall kam nur von einem Lkw-Reifen, | |
die Stimmung bleibt trotzdem geladen. | |
„Wir wollen hier stehen und unsere Meinung sagen gegen einen Lehrer, der | |
handgreiflich wird“, sagt eine 15-Jährige – d[1][er Lehrer und zwei Schül… | |
sind am Montag über eine Palästinaflagge aneinandergeraten]. Sie werfen ihm | |
Rassismus vor. Ein Schulhofkonflikt. Eigentlich. Die Fernsehkameras und die | |
vielen Polizist:innen vor dem roten Klinkerbau zeigen, dass es um mehr | |
geht. | |
Seit den jüngsten Angriffen der Hamas auf Israel nehmen in Europa die | |
Spannungen zu. Und die [2][Unsicherheit für Jüdinnen und Juden]. In London | |
skandierten Protestierende direkt nach den Attacken, Israel sei ein | |
„Terrorstaat“; in Paris kam es am Donnerstag zu Massenprotesten. In | |
Deutschland sind es weit weniger, doch auch in Duisburg, Chemnitz, Dortmund | |
und anderen Städten gingen schon Menschen in Solidarität mit Palästina auf | |
die Straße. | |
Und in Neukölln, diesem Seismografen für deutsche Befindlichkeiten mit | |
seinen 330.000 Einwohner:innen und schlechtem Ruf, wie lief die Woche | |
dort, wo neben Zurückgezogenen und Hipstern viele politisch Bewegte leben – | |
und neben einer großen Zahl Palästinastämmiger auch relativ viele Menschen | |
aus Israel? | |
## Die Jugendlichen fühlen sich unfair behandelt | |
Am Gymnasium filmen die Jugendlichen zurück, in sozialen Medien erzählen | |
sie ihre eigene Geschichte. Sie sehen sich unfair behandelt, ihre Demo | |
wurde verboten wie viele weitere in dieser Woche. Die Polizei könne „nicht | |
ausschließen, dass es möglicherweise Hamas-Sympathisanten gibt, die diese | |
Kundgebung für ihre Zwecke ausnutzen“. Nach kurzer Zeit zerstreut sich die | |
Gruppe, unter Protest. | |
Tatsächlich wurden vor der Schule Flugblätter linker Splittergruppen | |
verteilt, die die Attacken der Hamas als „Befreiungskampf“ feiern. Ein | |
wenig höher auf der Sonnenallee hatte das Feiern am vergangenen Samstag | |
begonnen. Fotos zeigen einen Mann, [3][der süßes Gebäck verteilt,] die | |
schwarz-rot-grün-weiße Fahne um die Schultern. „Zur Feier des Sieges des | |
Widerstands“, kommentierte die [4][Gruppe Samidoun] das in den sozialen | |
Medien. Drei Männer wurden angezeigt, 50 weitere skandierten wenig später | |
„Free Palestine“. Als die Polizei die Ansammlung auflöste, flogen Flaschen. | |
Neukölln gilt wieder als Problembezirk nicht nur Berlins, sondern des | |
ganzen Landes. | |
Dienstagnachmittag. In Ibrahim Saharys Konditorei gibt es süße Kunafa, | |
Baklava mit Pistazien, Milchpudding. Zwei ältere Herren trinken ihren | |
Kaffee, die Frau neben ihnen löst ein Kreuzworträtsel. Ibrahim Sahary, | |
kariertes Hemd, randlose Brille, ist 43 Jahre alt. 2004 ist er aus Syrien | |
nach Deutschland gekommen, in Hannover hat er Elektrotechnik studiert. Als | |
sein Schwager, ein Konditor, 2016 aus dem syrischen Bürgerkrieg nach | |
Deutschland floh, eröffneten sie zusammen den Laden. Genau der war auf | |
Fotos im Hintergrund der Samidoun-Feier zu sehen. | |
Sahary ist sauer. Die Sonnenallee sei ohnehin verschrien, sagt er. „Ich | |
habe ganz bewusst keine Flaggen im Laden hängen“, sagt er. Er könne es sich | |
schlicht nicht leisten, Kunden zu verlieren, ob Deutsche, Israelis oder | |
Palästinenser:innen. „Es geht mir ums Geschäft, um Geld.“ Störenfriede | |
schmeiße er raus, Kriege wolle er keine weiteren. „Die Politiker sollten | |
Kompromisse eingehen.“ Damit sich die Menschen wirtschaftlich entwickeln | |
könnten. In Syrien. In Israel und Palästina. | |
## Diaspora als Raum der Begegnung | |
Dienstag, früher Abend. Zum Nordende der Sonnenallee, dem Hermannplatz, | |
sind es nur ein paar Schritte. Zwischen den Ständen des Wochenmarkts steht | |
eine Bronzestatue. Immer wieder malen Menschen während der Woche die Flagge | |
Palästinas auf den Betonsockel darunter. Immer wieder übermalen | |
Polizeibeamte sie. Am Rand des Platzes sitzen acht Jugendliche, zerknüllte | |
Fahnen in den Händen, von Polizeibeamten umringt. „Platzverweis“, sagt eine | |
Polizistin. | |
Mati Shemoelof, 50 Jahre alt, Jackett, rote Baseballkappe, hat schlecht | |
geschlafen. „Wir stehen unter Schock, wir haben noch nie etwas Derartiges | |
erlebt“, sagt der jüdische Schriftsteller über die Hamas-Attacken. Seit | |
zehn Jahren lebt er mit seiner Familie in Neukölln, nur ein paar Hundert | |
Meter vom Hermannplatz entfernt. Auch viele andere Israelis, gerade linke, | |
zogen damals nach Berlin. | |
„Bagdad Haifa Berlin“ heißt der Gedichtband, den Shemoelof ins Café | |
mitgebracht hat. Anhand seiner Lyrik will er erklären, wie er sich gerade | |
fühlt. Shemoelofs Großeltern waren in den 1920er Jahren aus dem Irak und | |
Syrien ins damalige Palästina eingewandert. In Berlin freundete der | |
arabische Jude sich mit Menschen aus den arabischen Ländern an. Um die | |
Diaspora als Raum der Begegnung dreht sich auch seine Kunst. „Ich hoffe, | |
dass meine Tochter die Idee weiterträgt, dass wir einander anerkennen.“ | |
Shemoelof wünscht sich eine schnelle politische Lösung im Nahen Osten. „Ich | |
sage nicht, dass es zwei Seiten gibt, ich bin gegen den Terror der Hamas. | |
Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch in Gaza Menschen leben.“ Er | |
könne verstehen, wenn Palästinastämmige auf die Straße gehen, sei es aus | |
Trauer oder Wut. | |
## Wo bleibt die Pro-Israel-Demo? | |
Und die Baklava-Aktion, quasi vor seiner Haustür? „Wenn in Neukölln Leute | |
ihr Mitgefühl verlieren, ist das grauenhaft. Aber ich weiß, dass meine | |
besten Freunde in der palästinensischen Community gerade nicht feiern.“ Und | |
die Jugendlichen? „Ich denke, dass viele palästinensische Kids verwirrt | |
sind. Das deutsche Bildungssystem gibt keine Antwort auf ihre Geschichten | |
und ihren Schmerz.“ | |
Am Mittwochabend fliegen am Hermannplatz Böller, es ist der vorläufige | |
Höhepunkt der Proteste. Die Polizei spricht von „ordentlich Potenzial auf | |
der Straße“. Ab dem Nachmittag bewegen sich verschiedene Gruppen über und | |
um den Platz, teils sind es die Gesichter der vergangenen Tage. Auch | |
Samidoun-Anhänger. Einige Hundert Neuköllner:innen laufen vorbei, | |
schauen, rufen. „Free Palestine“, skandieren einige. Andere zeigen sich mit | |
dem Schild „Americans for Palestinian Liberation“. Immer wieder rhythmisch | |
zu hören: „From the river to the sea – Palestine will be free.“ | |
Eine Person, Mitte 30, raspelkurze Haare, steht mit Fahrrad und Kind am | |
Rand und ruft mit. Das Kleinkind hat eine Kufija um, schaut schweigend den | |
gepanzerten Polizist:innen zu. Ursprünglich stamme sie aus Portugal, | |
sagt die Elternperson, sie definiert sich als nichtbinär. Seit zehn Jahren | |
lebe sie hier und wolle Solidarität mit ihren palästinensischen | |
Freund:innen zeigen. Auf den Platz selbst würde sie nicht gehen, die Demo | |
sei ja verboten. | |
Feiern angesichts von ermordeten und entführten Zivilist:innen? | |
— „Die Menschen feiern ja nicht die Morde, sondern dass der Zaun | |
eingerissen wurde.“ | |
„From the river to the sea“ – wohin sollen dann die Israelis? | |
— „Es gab auch vor der Gründung Israels Juden auf dem Gebiet. Und das | |
sollte auch in Zukunft so sein.“ | |
Eine Beobachterin am Rand des Polizeikessels sagt: „Wo bleibt eigentlich | |
die große Israeldemo in Berlin? Bei der Ukraine haben sich Zehntausende | |
solidarisiert.“ | |
Die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel werde von großen Teilen der | |
Gesellschaft nicht getragen, sagt Aycan Demirel am Telefon. Und das gelte | |
ganz und gar nicht nur für arabisch- oder türkeistämmige Menschen. Vor 20 | |
Jahren hat Demirel die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus | |
gegründet, heute berät er mit IBIM Schulen, auch in Neukölln. „From the | |
river to the sea“ – für Demirel stellt der Ruf Israels Existenzrecht | |
infrage. | |
Er warnt vor politischen Gruppen wie Samidoun. „Sie missbrauchen die | |
Emotionen von Jugendlichen.“ Gerade bekomme er besonders viele Anfragen, | |
auch von Grundschulen. „Solidarität mit Palästina kommt bei den Kindern und | |
Jugendlichen oft zum Ausdruck“, sagt er. Palästinensische Geflüchtete seien | |
in Berlin oft jahrzehntelang ohne Staatsbürgerschaft und Teilhabe | |
geblieben. Das Narrativ, Opfer des Nahostkonflikts zu sein, sei über | |
mehrere Generationen weitergegeben worden. | |
„Positive Bezüge zu Palästina sind in Ordnung“, sagt Demirel. Sie dürften | |
nur nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken münden, das alle Probleme des Nahen | |
Ostens auf die Gründung Israels zurückführe. „Es braucht einen sicheren | |
Raum für die Jugendlichen, wo sie Familiennarrative artikulieren können, wo | |
man diskutieren und Fragen stellen kann.“ Den Lehrer:innen fehlten oft | |
die Kompetenzen dafür. Demirel macht sich Sorgen. „Eine solche Gewalt gegen | |
Juden gab es nach 1945 nicht mehr. Es sind umso größere Auswirkungen hier | |
zu erwarten.“ Nicht nur in Neukölln. | |
14 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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