# taz.de -- Israelis wandern nach Italien aus: Das Tal, wo Frieden wohnt | |
> Immer mehr Israelis verlassen ihr Heimatland. Einige von ihnen suchen in | |
> Italien ein neues Zuhause – trotz postfaschistischer Regierung. Warum? | |
Bild: Das Dorf Varallo in Valsesia, Piemont, Italien, 2024 | |
Wenn man schon emigriert, ist Ugo Luzzatis Büro ein guter Hafen, um | |
anzukommen. Draußen regnet es im Dorf Varallo am Fuße der italienischen | |
Alpen, der Herbst hat begonnen. Im Büro ist es warm. Die Holzmöbel, der | |
massive Schreibtisch, der Schrank mit den bunten Glasfenstern – all das | |
vermittelt Geborgenheit. Eine Glocke klingelt hell, als ein junges Paar aus | |
dem Innenhof in Luzzatis Büro tritt. Ihr Baby schläft vor der Brust des | |
Mannes in der Trage. Die beiden ziehen ihre vom Regen feuchten Mützen ab, | |
begrüßen den Mann hinter dem Schreibtisch, setzen sich auf die Holzbank, | |
reiben ihre Hände und sehen sich um. | |
Ugo Luzzati schlägt die Beine übereinander und lächelt sie an. „Wir suchen | |
ein Haus“, bricht es aus der jungen Frau hervor. Als sei sie endlich bei | |
einem Therapeuten angekommen, bei dem sie sich fallen lassen kann. Der | |
schon verstehen wird. Der helfen kann. Doch Luzzati ist kein Therapeut. Er | |
ist eher der Manager eines ungewöhnlichen Projekts: Exodus 2.0 könnte man | |
es nennen und ihn einen Visionär. So reden zumindest einige über ihn. Etwas | |
scherzhaft nennen sie ihn auch den [1][Theodor Herzl] von Italien. | |
So wie Herzl einst die Jüd*innen ins historische Palästina geführt hat, | |
führt Luzzati sie nun nach und nach wieder hinaus – und zwar nach Italien. | |
Genauer gesagt: ins Tal Valsesia, einhundert Kilometer westlich von | |
Mailand. Dabei hat er wenig Exzentrisches an sich, keinen langen | |
Herzl-Bart, keine Intellektuellen-Allüren. Stattdessen trägt er eine | |
Schirmmütze aus Filz und ein dunkles Vlies gegen die Kälte. Pragmatiker ist | |
die wohl treffendere Beschreibung. | |
Die Zahl der Israelis, die aktuell ihr Land verlassen, wächst. Sie gehen | |
nach Portugal, in die USA, nach Zypern oder Griechenland. Und eben auch | |
hierhin: nach Valsesia in Italien. Wie viele es sind, weiß keiner genau. | |
Auf die offiziellen Zahlen ist wenig Verlass. Eines der Probleme: Gezählt | |
wurden bis vor Kurzem nur diejenigen Emigrant*innen, die für ein Jahr | |
ununterbrochen außer Landes waren. Wer zwischendurch für einen | |
Familienbesuch nach Israel kam, fiel aus der Statistik. Doch spricht man | |
mit Luzzati, bekommt man ein Gespür für die massive Auswanderung, die | |
derzeit stattfindet: Jeden Tag empfängt er in diesen Monaten mindestens | |
eine neue israelische Familie in seinem Büro. | |
„Progetto Baita“ steht auf einem Blatt an der Tür zum Büro. „Baita“ �… | |
Luzatti diesen Namen ersinnen konnte, liegt an einem glücklichen | |
Zusammenspiel von italienischer und hebräischer Sprache. „Nach Hause“ hei�… | |
„HaBaita“ auf Hebräisch. Auf Italienisch heißt „Baita“: Berghütte. W… | |
Luzzatis Büro kommt, sucht beides: Ein neues Zuhause – und eine Zuflucht | |
vor dem Weltgestürm. | |
Rund eine Dreiviertelstunde dauert es, mit dem Auto das Tal zu durchqueren, | |
von Borgosesia [2][unweit von Mailand] bis hinauf in den Skiort Alagna | |
Valsesia. Im Tal leuchten gelbe Schilder von Häuserwänden, „Vende“ steht | |
darauf, „zu verkaufen“. Besonders groß ist der Leerstand in den Dörfern | |
abseits der Landstraße, die kleinen Serpentinen hinauf. Wer hier wohnt, hat | |
eine Aussicht, von der Urlauber*innen träumen. Doch schon lange werden | |
in Italien weniger Menschen geboren als sterben. Auch in Valsesia, dieser | |
Sackgasse in den Alpen, gibt es wenig Babys. Und die, die doch geboren | |
werden, zieht es für gewöhnlich spätestens mit dem Schulabschluss nach | |
Mailand, Turin oder in andere Großstädte. | |
Auch das junge israelische Paar ist mit seinem Camper diese Straße | |
entlanggefahren, auf dem Weg zu Luzzatis Büro in Varallo, dem zentralen Ort | |
im Valsesia. Rund 7.000 Menschen wohnen hier, es herrscht ein anderer Vibe | |
als in den umliegenden Gemeinden. In einer Rockerkneipe im Zentrum trinken | |
die langhaarigen Männer des Ortes Keilerbier aus Bayern. In der Pinakothek | |
hängen Werke von Tanzio da Varallo aus dem 17. Jahrhundert, einige nennen | |
ihn den „Caravaggio der Alpen“. Es gibt Espressobars, Eisdielen und eine | |
gut besuchte Stadtbibliothek. | |
„Ma Hainjanim?“ – Wie geht’s? Diese Begrüßung hört man immer öfter … | |
Straßen des Ortes. In einem Schuhladen diskutieren einige auf Hebräisch, | |
welche Stiefel besser geeignet für den Winter sind. Jeden Tag, sagt ein | |
Immobilienmakler im Zentrum des Ortes, erkundigen sich mindestens zwei neue | |
israelische Familien nach Häusern im Tal. Längst nicht alle kaufen am | |
nächsten Tag ein Haus. Aber Valsesia ist beliebt bei Israelis. | |
„Was ist die Agenda von ‚Baita‘?“, fragt die junge Frau in Luzzatis Bü… | |
„Denjenigen, die nicht in einer Diktatur leben wollen, zu helfen, ein neues | |
Zuhause zu finden.“ | |
Die junge Frau nickt. „Klingt vernünftig.“ | |
## Italienische Linke war kein Ort für einen jungen Juden | |
Luzzati hat verschiedene Antworten auf die Frage. Eine für Israelis, eine | |
für Italiener*innen. Denn das Projekt richtet sich an zwei Seiten. So wie | |
Luzzati zwei Nationalitäten hat. | |
Luzzati ist in den 1960er und 1970er Jahren in Norditalien groß geworden. | |
Schon früh verstand er sich als Linker, doch die italienische Linke war | |
kein Ort, in der der junge Jude sich besonders wohl fühlte. Viele Linke | |
versammelten sich nicht nur hinter der palästinensischen Sache, sondern oft | |
auch hinter Gruppen, die Terror gegen Israelis ausübten. 1982 begann der | |
Libanonkrieg. Immer öfter sah Luzzati Hakenkreuze an den Hauswänden und | |
Schriftzüge wie „Tod den Juden“. | |
Im selben Jahr verübten palästinensische Terroristen einen Anschlag auf die | |
Große Synagoge in Rom. „Es waren schwere Jahre“, sagt Luzzati. Seine | |
Zukunft, davon wurde er immer überzeugter, läge in Israel. 1986 – er war 24 | |
Jahre alt – wanderte er aus und ging nach Jerusalem. | |
„Welche Pässe habt ihr?“, fragt Luzzati das junge Paar in seinem Büro. | |
„Ich habe einen rumänischen.“ | |
„Prima.“ Luzzati nickt. | |
Ohne europäischen Pass ist es komplizierter, sich dauerhaft in Italien | |
niederzulassen. Möglich wäre es unter Umständen. Seit dem Ukrainekrieg | |
gewährt Italien Ukrainer*innen, die vor dem Krieg fliehen, subsidiären | |
Schutz. Luzzati versucht, diese Aufenthaltsgenehmigung auch für Israelis | |
gültig zu machen. Doch die italienische Regierung hat noch nicht darüber | |
entschieden. | |
Der Weg nach Valsesia ist also mit einigen Hindernissen gepflastert. Ein | |
europäischer Pass erleichtert die Sache. Etwas Geld auch. Nicht alle können | |
sich einen solchen Schritt leisten. | |
„Wir würden gerne wieder mehr als Künstler arbeiten“, sagt der junge Mann | |
und wippt das Baby in der Trage auf und ab: „und daneben Geld verdienen. | |
Aber die Löhne sind hier recht niedrig, richtig?“ | |
Luzzati nickt. „Aber die Lebenshaltungskosten sind es auch.“ | |
## Unübersehbare Warnungen | |
Vor 40 Jahren hätte Luzzati sich wohl kaum vorstellen können, Israel wieder | |
zu verlassen. Er war glücklich dort. Mit seinem eigenen kleinen Laden für | |
Schilder verdiente der Grafikdesigner in Jerusalem seinen Unterhalt. Später | |
eröffnete er einen Schmuckladen in Ein Kerem, einem Ausflugsziel in den | |
Bergen vor der Stadt. Er verliebte sich, seine Frau und er bekamen fünf | |
Kinder und zogen in den Norden, wo sie am Wochenende mit der ganzen Familie | |
wandern gingen. | |
Und doch: Er sah das schleichende Sterben der israelischen Friedensbewegung | |
nach der Ermordnung Jitzchak Rabins im Jahr 1995, seine Kinder zog er im | |
zweiten Libanonkrieg Mitte der nuller Jahre groß. Es folgte ein Gaza-Krieg | |
nach dem anderen, und Luzzati sah, wie das ganze Land immer weiter nach | |
rechts driftete. | |
Schon vor Netanjahus extrem rechter Regierung konnte er die Warnungen nicht | |
mehr übersehen. Vor fünf Jahren riefen er und seine Frau ihre Kinder im | |
Wohnzimmer zusammen, einige von ihnen sollten bald anfangen zu studieren. | |
Dort gab er ihnen unter Tränen einen Rat fürs Leben. „Ihr habt keine | |
Zukunft in Israel“, sagte er. „Bitte denkt darüber nach, etwas zu | |
studieren, was euch erlaubt, ein Leben woanders aufzubauen.“ | |
So tat auch er es. Er verliebte sich in das italienische Tal, in dem er | |
heute lebt. Eine Lehrerin erzählte ihm vom dortigen Bevölkerungsschwund. In | |
Dörfern, wo früher über 1.000 Menschen lebten, seien es heute nur noch | |
einige Hundert. Immer weniger Kinder würden eingeschult, sagte die | |
Lehrerin. Bald müssten sie auch Krankenhäuser schließen. In diesem Moment | |
hatte Luzzati eine Idee. Vor zwei Jahren, im Oktober 2022, gründete er das | |
Projekt „Baita“, um zwei Probleme gleichzeitig zu lösen. Er würde junge | |
Menschen aus dem Ausland ins überalterte Tal bringen – und Israelis ein | |
neues Zuhause geben. | |
Seitdem kann Luzzati die politischen Entwicklungen in Israel an dem | |
Facebook-Account des Projekts ablesen. Als Benjamin Netanjahu Ende 2022, | |
einen Monat nach der Gründung von „Baita“, ein weiteres Mal die Wahlen | |
gewann und die rechteste Regierung in der Geschichte Israels einsetzte, | |
hagelte es Anfragen. Als die Debatte um den autoritären Staatsumbau | |
begann, flogen immer mehr Israelis ein, um sich das Tal anzusehen. „Für den | |
Fall“, hörte man sie sagen. Man wisse nie, wie es weitergeht. | |
Und dann kam [3][der 7. Oktober]. Innerhalb weniger Tage trafen 30 | |
Familien, die bereits Mitglied von „Baita“ geworden waren, in Valsesia ein, | |
suchten sich eine Unterkunft und schickten ihre Kinder in die dortigen | |
Schulen. Für die allermeisten von ihnen war klar: Es gibt kein Zurück. | |
Tamar Zekbach, 45, ist eine von ihnen, eine der ersten Generation, könnte | |
man sagen. Sie trägt einen roten Wollpullover und Ohrringe, helle Steine, | |
die von goldenen Blüten umrankt sind. Ihr ältester Sohn schläft auf dem | |
Sofa im Wohnzimmer den Schlaf eines Teenagers, der Lärm seiner Geschwister | |
stört ihn nicht. Nicht das Aufprallen des Fußballs, mit dem der Jüngste vor | |
der Garage spielt. Und auch nicht die Gespräche seiner Schwester Naomi. | |
Im vergangenen Jahr, erzählt die Teenagerin, war sie noch das einzige | |
israelische Kind in ihrer Klasse. Das war schwer am Anfang, sagt sie, ohne | |
ein Wort Italienisch. Heute, ein Jahr später, spricht sie die neue Sprache | |
fließend; ihre neuen Freundinnen heißen Alice und Giorgia. Seitdem das neue | |
Schuljahr angefangen hat, fühlt sie sich verpflichtet, den anderen | |
israelischen Neuankömmlingen den Start in der Schule zu erleichtern. Nicht | |
immer einfach, sagt Naomi und zuckt mit den Achseln. Mittlerweile sitzen | |
vier weitere israelische Kinder mit ihr in der Klasse. | |
Naomi steht mit ihrer Mutter auf dem Balkon. Der zieht sich vorne und | |
seitlich ums Haus und gibt den Blick frei auf eine Postkartenaussicht: | |
Schäfchenwolken, die vielleicht nirgendwo so wattig aussehen wie hier, | |
Häuserdächer, deren Dachziegel mit Flechten bewachsen sind. Dazu der | |
gestochene Kontrast zwischen dem Grün der Berge und dem Blau des Himmels. | |
Zekbach zeigt auf das Nachbarhaus. | |
„Hier lebt nun eine israelische Familie. Und hier, auf der anderen | |
Straßenseite, wohnt Ronit. Sie war die erste Israelin hier im Tal.“ | |
In der Garage dreht ihr Mann Ohad Zekbach Schrauben in dunkelbraun | |
lackierte, gebogene Holzteile. Sie gehören zu zwei Sesseln, die vor wenigen | |
Wochen auf einem Containerschiff den Weg von Israel zu ihnen fanden. „Etwas | |
Sentimentales“, sagt er und lacht, als würde er sich dafür schämen. Die | |
Sessel wurden ihnen von den Eltern seiner Frau vermacht. Seitdem haben sie | |
sie in jede neue Wohnung mitgenommen, bei ihren Umzügen innerhalb von | |
Jerusalem und später, als sie nach Kerem Maharal, in der Nähe von Haifa, | |
zogen. „Sie waren einfach zu schön, um sie nicht auch hierherzuholen“, sagt | |
er. | |
## Sich meistens zu Hause fühlen | |
Unter dem Haus fließt ein Quellbach, das Haus ist als Brücke darüber | |
gebaut. Das Wasser fällt über mit Moos bewachsene Felsen in die Tiefe und | |
zieht dann unter ihrem Haus weiter zum Fluss. Eine Wandergruppe kommt den | |
Berg herunter, lacht und plaudert auf Italienisch. | |
Ein Haus in Italien. Pittoresker geht es kaum. Fühlen sie sich zu Hause | |
hier? | |
„Ja“, sagt Tamar Zekbach, „meistens. Irgendwie.“ | |
Sie meditiert jeden Tag. Seit Jahren. Sie kann mit Ambivalenzen umgehen. | |
Schon einmal hatte sie sich mit ihrer Familie aufgemacht, um zu erkunden, | |
ob sie ein Zuhause außerhalb von Israel finden könnten. 2019 nahmen sie | |
eine Auszeit in Indien. Dann kam Covid. Sie wollten eigentlich nur kurz | |
Israel besuchen, aber blieben dann pandemiebedingt dort hängen. Als sie | |
2022 von Luzzatis „Baita“-Projekt hörte, wurde sie Mitglied. Sie reisten | |
nach Valsesia, es gefiel ihnen. Aber sollten sie tatsächlich umziehen, | |
Freund*innen, Familie, Arbeit hinter sich lassen? Die Idee blieb abstrakt – | |
bis zum 7. Oktober. | |
Ohad Zekbach hatte die Nacht im Süden des Landes in der Negev-Wüste | |
verbracht, wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. | |
Gemeinsam mit anderen Organisator*innen des Midburn, der israelischen | |
Variante des Burning-Man-Festivals, hatte er die Gegend als potenziellen | |
Austragungsort für das Festival erkundet. | |
Dann kamen die Sirenen. Nach und nach verstanden die Zekbachs, dass die | |
Ereignisse größer und grauenvoller waren, als sie dachten. Ohad Zekbach | |
hing in seinem Camp fest, wusste nicht, in welche Richtung er fliehen | |
sollte, also blieb er mit den anderen, wo sie waren. Irgendwann rief er | |
seine Frau an und sagte: „Es ist so merkwürdig, es ist so ein heißer Tag, | |
aber hier laufen Leute wie verrückt die Straße herunter, und ich verstehe | |
nicht, warum.“ Es dauerte eine Weile, bis den beiden klar wurde, wer diese | |
Menschen waren: die Festivalbesucher vom nahegelegenen [4][Nova-Festiva]l. | |
Die radikalislamische Hamas hatte allein dort am 7. Oktober 364 Menschen | |
getötet. | |
Ohad Zekbachs Geschichte ging gut aus. Gegen sieben Uhr abends war er | |
zurück zu Hause. Doch dem Paar wurde an diesem Tag klar, dass jegliche | |
Hoffnung auf Frieden verloren gegangen war, für sehr lange Zeit. Der Krieg, | |
davon waren sie überzeugt, würde lange dauern. Und sie sorgten sich, dass | |
die vom Iran gelenkte Hisbollah im Libanon in den Krieg mit einsteigen | |
könnte. Am 10. Oktober warfen sie die wichtigsten Sachen in einen Koffer | |
und flogen nach Italien. | |
Tamar Zekbach läuft die Treppe hinunter zur Garage. Dort legt ihr Mann den | |
Akkuschrauber zur Seite, dreht den Sessel um und stellt ihn auf die Beine. | |
„So“, sagt er und nickt zufrieden: „Jetzt haben wir dieses Stück Zuhause | |
wieder bei uns.“ Dann klopft er auf die Lehne. So wie man einem alten | |
Freund auf die Schulter klopft, den man lang nicht gesehen und sehr | |
vermisst hat. Seine Frau sieht ihm dabei zu, wie er den Stoff des zweiten | |
Sessels durch die Laschen zieht. | |
Kann sie ganz zu Hause sein, wenn sie die Sprache nicht spricht? Wenn sie | |
nicht spontan am Abend ins Theater gehen kann und alles versteht? Wird sie | |
sich je zugehörig fühlen? | |
Wenn niemand spricht, hört man nur den Bach unter dem Haus | |
entlangrauschen, Vogelgezwitscher. Manchmal Rufe vom Wanderweg. | |
„Das Ganze hier erinnert mich an das Jerusalem meiner Kindheit“, sagt Tamar | |
Zekbach. An das Jerusalem der 1980er Jahre. An die Zeit, in der es nur eine | |
Sorte Mayonnaise gab und man in den Bussen mit Papiertickets zahlte. | |
## „Ära der prägenden Ereignisse“ | |
Tamar Zekbach hatte eine idyllische Kindheit, den politischen Konflikt mit | |
den Palästinenser*innen spürte sie nicht. Sie spielte mit | |
Freund*innen in den Straßen der Nachbarschaft, manchmal gingen sie auf | |
den arabischen Markt in Ostjerusalem, um Hummus zu essen. Sie wusste, sie | |
lebte in einer besonderen Stadt, im Zentrum von drei Religionen. Und war | |
stolz darauf. | |
Doch dann begann das, was sie als „Ära der prägenden Ereignisse“ | |
bezeichnet: die erste Intifada ab 1987, später die Busse, die explodierten. | |
Es war die Zeit des Misstrauens und der Angst. Doch es war auch die Zeit | |
der Friedensbewegung. Ihre Großmutter hatte 1939 hatte einem der letzten | |
Schiffe der Jugend-Alijah gerade noch aus Österreich fliehen können; nun | |
stand sie in den ersten Reihen, um für den Frieden zu demonstrieren, ihre | |
Enkelin nahm sie mit. Bald wurden die Demonstrationen ihr zweites Zuhause, | |
Tamar Zekbach wurde Mitglied in der sozialistischen Pfadfinderorganisation | |
Hashomer Hatzair und später in der Jugendorganisation der linken Partei | |
Meretz. „Die Möglichkeit von Frieden wachzuhalten“, das wurde ihre Mission. | |
Tamar Zekbach kann viel akzeptieren. Dass Zuhause ein kompliziertes Konzept | |
ist. Dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit hier genießt und doch immer | |
wieder auch die Rauheit und Quirligkeit Israels vermisst. Dass sie sich | |
manchmal zu Hause fühlt und manchmal ins Zweifeln gerät. | |
Doch eines, sagt sie, kann sie nicht hinnehmen: ein Leben auf fauligem | |
Boden zu führen. So nennt sie es. Sie meint die faschistischen Tendenzen in | |
Israel, den unverblümten Rassismus, die inhärente Gewalt. All das war schon | |
lange da, sagt sie, nun ist es für alle sichtbar. Ihr ist bewusst, dass in | |
Italien eine postfaschistische Regierung an der Macht ist, aber es ist | |
nicht ihre, sagt sie. Für sie macht das einen Unterschied. Der Grad der | |
Gewalt sei in Israel um ein Vielfaches höher. „Im Übrigen“, sagt sie, „… | |
ich nicht nach Italien gezogen, sondern ins ‚Baita‘-Projekt.“ | |
Ebenso inakzeptabel ist für Tamar Zekbach, das Leben ihrer Familie aufs | |
Spiel zu setzen. Ihr ältester Sohn ist 17 Jahre alt. Wären sie nur wenige | |
Monate später gegangen, wäre er dem Militärdienst nur schwer entkommen. | |
Sie hat gekämpft. Auch später, im Erwachsenenalter, als sie | |
Projektmanagerin bei der NGO New Israel Fund war und sich für soziale | |
Gleichheit und gegen die Besatzung eingesetzt hat. Manchmal ist sie zornig | |
und verzweifelt, und manchmal sitzt sie in der Küche in Varallo und weint. | |
Darüber, dass sie gezwungen wurden, das Land zu verlassen. | |
„Wir wurden überstimmt“, sagt sie. „Die anderen haben gewonnen.“ | |
Ohad Zekbach stellt den zweiten Sessel auf die Füße und klopft zufrieden | |
auch auf dessen Lehne. Tamar Zekbach trägt ihn die Treppen hinauf ins | |
Wohnzimmer. Manchmal kommen ihr Zweifel, aber La Baita, die Berghütte, ist | |
ihr Haus geworden. | |
Die israelische Migration ist auch unter den Italiener*innen des Tals | |
Thema. Das Wort „Israel“ fällt in den Bars, in denen sie ihren | |
Morgenespresso trinken, man hört es an den Straßenecken vor | |
Zeitungsständen. Es geht nicht um den Krieg im Gazastreifen, um den | |
Konflikt mit den Palästinenser*innen – auch wenn die italienische | |
Bevölkerung im Großen und Ganzen bekannt dafür ist, für Palästina Partei zu | |
ergreifen. Es geht um die israelischen Kinder, die in den Schulen lernen, | |
Vanille-Eis in den Cafés kaufen, und um die Hoffnung, die Valsesia in die | |
Israelis setzt. „Ärzte und Krankenschwestern aus Israel für das Krankenhaus | |
von Borgo“, titelte die Lokalzeitung Notizia Oggi vor einigen Tagen. Rund | |
ein Dutzend Stellen, darunter auch in der Kardiologie, sind seit Langem | |
unbesetzt. Zum vergangenen Stichtag war nicht eine einzige Bewerbung | |
eingegangen. | |
Dass nun israelische Ärzte für das Krankenhaus Borgosesia angeheuert werden | |
sollen, geht natürlich auf Luzzati und sein Projekt zurück. Dafür arbeitet | |
er mit dem Bürgermeister der Stadt Borgosesia, Fabrizio Bonaccio, zusammen. | |
## Kein Antisemitismus, nirgends? | |
„Für uns ist es völlig selbstverständlich, die Israelis mit offenen Armen | |
zu empfangen“, sagt der. Er sitzt in seinem Büro vor einem gerahmten | |
Madonnenbild und drückt einen Anruf nach dem nächsten weg, um nicht | |
unterbrochen zu werden. | |
„Es ist doch gut, wenn Menschen hier arbeiten wollen. Hier, wo es schön | |
ist, aber doch sehr abgelegen.“ | |
Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass in einem Dorf in Deutschland | |
ein großer Schwung Israelis so offen empfangen würde wie hier. Nicht bei | |
den jüngsten Wahlergebnissen und derzeitigen Trends. Allerdings: Italien | |
wählt noch rechter. Weit über die Hälfte der Wahlberechtigten in Borgosesia | |
haben bei den Europawahlen ihr Kreuz bei rechten und extrem rechten | |
Parteien gesetzt. | |
Hat Bonaccio keine Angst vor einem antisemitischen Backlash? | |
„Das ist Netanjahus Schuld“, grätscht er in die Frage: „Bis vor Kurzem g… | |
es keinen Antisemitismus. Der Genozid in Gaza mit tausenden toten Kindern | |
hat dieses Gefühl hervorgerufen, und ich würde es nicht Antisemitismus | |
nennen, sondern Antipathie gegenüber der israelischen Regierung.“ | |
Kein Antisemitismus, nirgends? In dieser Absolutheit schwer vorzustellen. | |
Doch zumindest auf Valsesia bezogen sagt auch Luzzati, dass er dort keinen | |
Antisemitismus spüre. | |
Woran das liegt, ist schwer zu beantworten. Die politische Gemengelage ist | |
komplex. Auf der einen Seite gibt es die eher propalästinensische Stimmung | |
in der Bevölkerung, auf der anderen Seite steht Meloni Netanjahus | |
rechtsextremer Koalition durchaus nahe. Sie bemüht sich seit Langem, ihr | |
Image von jeglichen Antisemitismusvorwürfen zu befreien – und einen Umgang | |
mit der Jugendorganisation ihrer Partei zu finden, aus deren Reihen | |
Antisemitismus nicht wegzudenken ist. Vielleicht ist es einfach so: Die | |
Menschen im Tal wissen, dass die Israelis, die ins Tal kommen, weder | |
Netanjahu-Befürworter*innen noch Ultraorthodoxe sind und ihre Unterstützung | |
brauchen. Die geben sie gerne. | |
An einen Backlash glaubt er dementsprechend auch nicht, trotz der | |
postfaschistischen Regierung Giorgia Melonis – und trotz der Tatsache, dass | |
Luzzati allen Grund zum Misstrauen hätte. Denn seine Familie hat unter den | |
Faschist*innen gelitten. In den 1940er Jahren, erzählt er, wollte sein | |
Großvater gemeinsam mit dessen Cousin über die Grenze in die Schweiz | |
fliehen. Als sie den Schleuser trafen, sagte sein Großvater, er traue ihm | |
nicht. Er ging zurück nach Genua und versteckte sich in den Bergen. Der | |
Cousin jedoch versuchte es, gemeinsam mit seiner Frau und seinen kleinen | |
Kindern und Eltern. Der Schleuser verriet sie an die Deutschen. Sie wurden | |
in Auschwitz vergast. Luzzatis Großvater überlebte. | |
Luzzati trägt diese Geschichte in sich, aber er glaubt an die Stärke der | |
italienischen Demokratie – und vor allem an Europa als Korrektiv. Ein | |
Italien ohne Europa würde zusammenbrechen, sagt er. „Das weiß jeder, auch | |
hier in Italien.“ | |
## „Valsesianer sind ein Volk von Emigranten“ | |
Egal, mit wem man spricht: Valsesia ist für die Menschen ein besonderer | |
Fleck Erde. Das sagt Luzzati, das sagen die Israelis, die hierherkommen. | |
Und auch Gianni Tognotti, der Vizepräsident des Projekts „Baita“, ist davon | |
überzeugt. Er hat sich zu Luzzati ins Büro gesellt und scherzt mit seinem | |
Projektpartner. | |
Wenn er von den Menschen im Tal spricht, schiebt er, der zu einer | |
alteingesessenen Familie gehört, ein Wir vor „Valsesianer“. „Wir | |
Valsesianer sind ein Volk von Emigranten“, erklärt er. In dem gebirgigen | |
Gelände war es schwer, etwas anzubauen. Also zogen die Leute aus, um Geld | |
außerhalb zu verdienen, als Kirchenbauer, Tischler, Bildhauer, | |
Restauratoren, sie gingen nach Frankreich, Deutschland, in die Schweiz und | |
kamen mit neuen Eindrücken wieder zurück nach Hause. So abgeschieden das | |
Tal in seiner Geschichte war und auch heute noch ist – die Weltoffenheit, | |
so sagen viele, stecke in der DNA der Menschen im Tal. | |
Und doch: Als würden sie kein Unheil heraufbeschwören wollen, legen die | |
Israelis eine große Vorsicht an den Tag, passen auf, immer höflich und | |
zuvorkommend zu sein, bitten ihre Kinder lieber einmal zu viel als zu | |
wenig, doch besser etwas leiser zu sein. Nicht alle von ihnen sind bereit, | |
mit mir zu sprechen. Viele sorgen sich, dass ein Zeitungsartikel mehr | |
Israelis anlocken könnte, dass sie zu viele werden könnten – zu viel für | |
die Gastfreundschaft der Menschen in Valsesia. | |
Luzzati läuft durch die Gassen Varallos zum Bürgertreff des Ortes. Zweimal | |
in der Woche mietet das „Baita“-Projekt dort einen Freizeitraum und nutzt | |
es für Aktivitäten der israelischen Community. Er zieht einen Rollladen | |
nach dem anderen hoch. „Baita“ ist ein Vollzeitjob. Luzzati hilft bei | |
Visumsanträgen und Wohnungssuche, spricht mit Lokalpolitikern, Lehrerinnen. | |
Leitet interessierte Israelis durchs Tal. Für jedes Haus, das eine der | |
Immobilienagenturen an Israelis verkauft, bekommt Luzzati Prozente. Viel | |
komme dabei jedoch nicht rum, sagt er, nicht mehr als eine kleine | |
Aufwandsentschädigung. | |
Hat er eine Vision? Luzzati winkt ab. Wirklich nicht? „Ich will einfach nur | |
helfen“, sagt er. Aber während Luzzati die Rollläden hochzieht und die | |
ersten Kinder begrüßt, fragt man sich doch, ob das wirklich alles ist. Ist | |
das Projekt nicht vielleicht auch sein Versuch, sich selbst, dem | |
binationalen Juden, ein Zuhause zu schaffen? Ein Zuhause, das seine beiden | |
Nationalitäten miteinander verbindet? | |
Eine Handvoll Kinder stürzt sich auf den Kicker, ein kleines Mädchen wirft | |
einen Schaumstoffball zu ihrem Vater und quietscht vor Lachen. Luzzati | |
führt in einen Raum im Keller und schaltet das Licht an, das grell auf ein | |
Dutzend Tische fällt, die über den Raum verteilt sind. Stühle liegen mit | |
der Stuhlfläche nach unten darauf. Hier feiern die Israelis manchmal ihre | |
Feste. Pessach. Rosch Haschana, Sukkot. | |
„Wenn jemand möchte. Wir sind ja kein Kibbuz“, sagt Luzzati und löscht das | |
Licht. | |
Aufgedrückt werden soll hier nichts. Keine Gemeinschaft, keine Feste, vor | |
allem keine religiösen. Mit Religion will fast keiner der Israelis in | |
Valsesia etwas zu tun haben. Für die meisten ist jüdische Religion | |
mittlerweile untrennbar mit Israels rechtsreligiöser Regierung verbunden. | |
Als die jüdische Gemeinde in Mailand und Turin auf Luzzati zukam und sich | |
vorstellen wollte, blockten sie ab. Sie wollen ein Leben aufbauen jenseits | |
der Netanjahu-Regierung, jenseits der Kriege und Konflikte in ihrem | |
Heimatland eine neue Heimat finden. | |
Die junge Frau, die vor einigen Stunden noch müde und durchnässt in | |
Luzzatis Büro gesessen hat, kommt aus dem Bürgertreff. Sie lächelt. | |
„Ich bin verwirrt“, sagt sie. Sie war neugierig auf das Projekt und das | |
Tal, aber ihre eigentliche Idee war nicht, Israel zu verlassen, um sich | |
dann in einer israelischen Community wiederzufinden. Doch in diesem | |
Bürgertreff in Varallo war sie innerhalb von Sekunden in persönlichen | |
Gesprächen mit anderen Israelis, die sie nie zuvor gesehen hat, erzählt | |
sie. „Es scheint so einfach hier.“ Sie schlendert mit ihrem Partner und dem | |
Baby zusammen zurück in die Innenstadt. „Aber vielleicht kann es auch | |
stören beim Versuch, sich in die lokale Bevölkerung zu integrieren?“ | |
Wohin, wenn die alte Heimat verloren ist? Ugo Luzzati und Tamar und Ohad | |
Zekbach haben ihre Antwort gefunden. Viele andere sind noch auf der Suche. | |
So wie das junge Paar, das jetzt zu seinem Camper zieht, um Pasta zu kochen | |
und darüber nachzudenken, wo es leben will. Vielleicht in Valsesia. | |
17 Nov 2024 | |
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Gaza. | |
Krieg im Libanon: „Für Wiederaufbau braucht es Frieden“ | |
Israelische Raketen treffen das Gebäude eines deutsch-libanesischen | |
Friedensprojekts, dort untergebrachte Binnenvertriebene sterben. Wie soll | |
es nun weitergehen? | |
Krieg zwischen Israel und Hisbollah: Luftangriff auf Libanons Hauptstadt | |
Israels Militär soll dabei den Hisbollah-Medienbeauftragten Muhammad Afif | |
getötet haben. Die Angriffe um Beirut nahmen jüngst zu. | |
7. Oktober – ein Jahr danach: Hoffen auf die nächste Generation | |
Leid und Hass dominieren seit Jahrzehnten den Konflikt im Nahen Osten. Gibt | |
es einen Weg raus? Wünsche, Appelle und Erwartungen an junge Menschen. | |
7. Oktober – ein Jahr danach: (K)ein neues Leben | |
Hamas-Kritiker Howidy verließ im Sommer 2023 Gaza. Er wollte den Nahen | |
Osten hinter sich lassen, dann kam der 7. Oktober. Ein persönliches | |
Protokoll. | |
Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Der schwarze Shabbat | |
Am 7. Oktober 2023 ermordete die Hamas 364 Menschen beim Nova-Festival. Ein | |
Jahr später leiden Überlebende immer noch an den Folgen dieses Tages. |