# taz.de -- Internationaler Strafgerichtshof: Ein Haftbefehl und seine Folgen | |
> Der IStGH erlässt einen Haftbefehl gegen den israelischen | |
> Ministerpräsidenten Netanjahu. Käme er nach Deutschland, stünde die | |
> Bundesregierung vor einem Dilemma. | |
Bild: Außenministerin Annalena Baerbock und der israelische Ministerpräsident… | |
Der Besuch begann spät und war schnell wieder vorbei. An einem Donnerstag | |
im März, es war schon nach Mitternacht, landete Benjamin Netanjahu in | |
Berlin. Nach Sonnenaufgang absolvierte er drei Termine: Erst besuchte er | |
ein Holocaust-Mahnmal weit im Westen der Hauptstadt. Dann sprach er mit | |
Bundeskanzler Scholz im Kanzleramt, anschließend traf er Bundespräsident | |
Steinmeier. Am Abend war er dann schon wieder weg. | |
War es der letzte Deutschland-Besuch des israelischen Ministerpräsidenten | |
für lange Zeit? Der Bundesregierung wäre es sicherlich recht, wenn sich der | |
Gast so schnell nicht wieder ankündigt. Seit Donnerstag dieser Woche steht | |
fest: Neue Reisepläne würden sie vor ein Dilemma stellen. | |
In Den Haag hat eine Vorprüfungskammer des Internationalen Strafgerichtshof | |
(IstGH) [1][Haftbefehle gegen Netanjahu], ebenso wie gegen seinen | |
Ex-Verteidigungsminister Joav Galant und den Hamas-Militärchef Mohammed | |
Deif erlassen. Letzteren hat Israel für tot erklärt. Die Haftbefehle gegen | |
die beiden Israelis stützen sich auf zwei Vorwürfe, für die auf Grundlage | |
des vom Ankläger vorgelegten Materials ein [2][ausreichender Tatverdacht | |
bestehe]. | |
Zum einen seien die israelischen Politiker für Kriegsverbrechen im | |
Gazakrieg verantwortlich. Vorgeworfen wird ihnen, dass Israel die | |
Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, [3][Wasser], Energie und | |
Medizin behindere. Es gebe keine militärischen Gründe, warum internationale | |
Hilfsorganisationen bei der Versorgung der palästinensischen | |
Zivilbevölkerung beeinträchtigt werden. | |
Zum anderen werden Netanjahu und Galant Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
vorgeworfen. Die Unterernährung der Bevölkerung führe zum Tod von Menschen, | |
einschließlich Kindern, was als Mord zu bewerten sei. Dass Ärzte wegen des | |
Energiemangels ohne Narkose operieren und amputieren müssen, könne als | |
unmenschlicher Akt bewertet werden. Für den Vorwurf, dass die Bevölkerung | |
Gazas „ausgelöscht“ werden soll, sahen die Richter allerdings [4][nicht | |
genügend Indizien]. | |
## Orbán lädt Netanjahu demonstrativ nach Budapest ein | |
Die Vertragsstaaten des Gerichts, inklusive Deutschland, sind nun | |
grundsätzlich verpflichtet, Netanjahu, Galant und Deif zu verhaften, wenn | |
sie das jeweilige Staatsgebiet betreten. Das wäre auch Voraussetzung für | |
eine mündliche Verhandlung vor dem IStGH und für eine mögliche | |
Verurteilung. Aber wäre die Bundesregierung im Falle der Israelis zu | |
solchen Verhaftungen bereit? | |
Fast 24 Stunden benötigte sie allein schon bis zu einer ersten öffentlichen | |
Reaktion auf die Entscheidung aus Den Haag. Andere waren schneller. Ungarns | |
rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orbán zum Beispiel kritisierte | |
die Entscheidung scharf und lud Netanjahu demonstrativ nach Budapest ein. | |
„Wir werden den Haftbefehl ablehnen, wenn er die Einladung annimmt“, sagte | |
er. Komplett anders will es unter anderem die niederländische Regierung | |
handhaben. Sie kündigte an: Wenn Netanjahu niederländischen Boden betritt, | |
wird er verhaftet. | |
Für Deutschland ist die Situation besonders heikel. Einerseits gilt die | |
Unterstützung Israels als deutsche Staatsräson, also als eine fundamentale | |
politische Verpflichtung. Andererseits war Deutschland stets einer der | |
wichtigsten Unterstützer des IStGH und kann daher dessen Entscheidungen | |
nicht einfach ignorieren. | |
Sinngemäß steht das auch in einer Erklärung, die Regierungssprecher Steffen | |
Hebestreit am Freitagvormittag veröffentlichte. Und weiter: „Die | |
innerstaatlichen Schritte werden wir gewissenhaft prüfen.“ | |
Eine halbe Stunde später, auf der turnusmäßig stattfindenden | |
Regierungspressekonferenz in Berlin, gab Hebestreit auf Nachfrage nur einen | |
knappen Ausblick darauf, wie diese Prüfung ausgehen könnte. „Es fällt mir | |
schwer, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen in | |
Deutschland durchführen“, sagte er mit Blick auf die Haftbefehle. Ansonsten | |
hielten er und seine Kollegen aus den übrigen betroffenen Ministerien sich | |
bedeckt. | |
Ob Netanjahu weiter in Deutschland willkommen ist? „Über Reisepläne des | |
israelischen Ministerpräsidenten ist mir nichts bekannt.“ Ob deutsche | |
Regierungsvertreter*innen ihn weiterhin in Israel besuchen? „Da kann | |
ich hier keine generelle Aussage treffen.“ Und was genau will die | |
Bundesregierung jetzt eigentlich prüfen? „Das kann ich hier nicht genauer | |
ausführen. Aber es ist natürlich etwas, das unter Juristen in Deutschland | |
nicht unumstritten ist.“ | |
## Den Haftbefehl gegen Putin begrüßte Deutschland | |
Um die Zuständigkeit des IStGH geht es wohl nicht. Israel selbst stellt sie | |
zwar grundsätzlich infrage, weil es dem zugrundeliegenden völkerrechtlichen | |
Vertrag, dem Römischen Statut, nicht beigetreten ist. Palästina hat das | |
Statut aber 2016 ratifiziert und der Gerichtshof entschied deshalb schon | |
2021, dass er für Straftaten auf palästinensischem Boden oder durch | |
Palästinenser zuständig ist. | |
Umstritten ist allerdings, ob dies auch für Staatsoberhäupter, | |
Regierungschefs und Außenminister gilt. Grundsätzlich genießen diese | |
völkerrechtliche Immunität – das heißt, sie können von anderen Staaten | |
grundsätzlich nicht festgenommen werden. Damit soll der diplomatische | |
Verkehr geschützt werden. | |
Im Römischen Statut ist zwar geregelt, dass die Immunität nicht gilt, wenn | |
einem Staatsoberhaupt oder Regierungschef Kriegsverbrechen, Völkermord oder | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden. | |
Es ist aber immer noch umstritten, ob diese Durchbrechung der Immunität nur | |
für Politiker der 124 Vertragsstaaten gilt oder für alle Staats- und | |
Regierungschefs weltweit. Nach Auffassung des IStGH gilt Letzteres. Das | |
Gericht argumentiert mit dem Völkergewohnheitsrecht. Nur deshalb war es ihm | |
auch möglich, 2023 gegen Wladimir Putin einen Haftbefehl wegen | |
verschleppter ukrainischer Kinder zu erlassen – eine Entscheidung, die die | |
Bundesregierung begrüßte. | |
Manche Völkerrechtler wie der Wiesbadener Rechtsprofessor Matthias Friehe | |
halten diese Argumentation allerdings für falsch. Da noch nie ein | |
amtierendes Staatsoberhaupt nach Den Haag ausgeliefert wurde, könne es gar | |
kein Völkergewohnheitsrecht geben. | |
Welcher Argumentation sich die Bundesregierung diesmal anschließt, könnte | |
Gegenstand der laufenden Prüfung sein. Wie lange sie dafür noch braucht, | |
nachdem die Haftbefehle doch schon vor Monaten in Den Haag beantragt worden | |
waren? „Das wird sicherlich nicht innerhalb von wenigen Tagen passieren, | |
aber es wird auch nicht ewig dauern“, sagte Regierungssprecher Hebestreit | |
am Freitag. „Und dazwischen werden wir uns dann äußern müssen und äußern | |
wollen.“ | |
23 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /IStGH-erlaesst-Haftbefehl-gegen-Netanjahu/!6048927 | |
[2] /Haftbefehl-gegen-Netanjahu/!6048843 | |
[3] /Umweltfolgen-des-Kriegs-in-Gaza/!6050596 | |
[4] /Palaestinenserinnen-auf-der-Flucht/!6049211 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
Christian Rath | |
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