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# taz.de -- Humanitäre Lage in Gaza: Gebären im Bombenhagel
> Im Gazastreifen setzen sich erschöpfte Ärzte trotz eigener Verluste für
> ihre Patienten ein. Eine schwangere Frau kämpft für ihr ungeborenes Kind.
Bild: Rana Salah hält ihre Tochter Milana in einer Notunterkunf in Deir al-Bal…
Anfang September fühlte Rawan Samih die Bewegungen des Kindes in ihrem
Bauch nicht mehr. Stunden zuvor war ihr Vater vor ihrem Haus im
Flüchtlingslager Nuseirat mit vier anderen Menschen bei einem israelischen
Luftangriff getötet worden.
„Ich habe vor Trauer nichts mehr gespürt“, sagt die 25-Jährige im siebten
Monat ihrer Schwangerschaft am Telefon. Während im Gazastreifen nach
[1][einem Jahr das Gesundheitssystem weitgehend zusammengebrochen ist] und
Menschen teils an einfachen zu behandelnden Krankheiten sterben, ist die
Angst für die Mutter von zwei Kindern ein ständiger Begleiter.
17 von einst 36 Krankenhäuser funktionieren laut der
Weltgesundheitsorganisation WHO noch teilweise. Sie sind hoffnungslos
überfüllt und schlecht erreichbar, ebenso wie 11 provisorische
Feldlazarette. Das Gleiche gilt für die Erstversorgungszentren, von denen
mehr als die Hälfte geschlossen sind.
Anfang Oktober wurden weite Teile von Nordgaza zum wiederholten Mal zu
Evakuierungszonen erklärt, darunter Teile von Gaza-Stadt. Laut WHO droht 10
der noch arbeitenden Kliniken im Norden Gefahr, in die Schusslinie zu
geraten. Im vergangenen Jahr wurden Krankenhäuser immer wieder zum Ziel von
Angriffen.
## Zum vierten Mal auf der Flucht
Einen Monat später spürt Samih, dass ihr Kind lebt und sich bewegt. Viel
mehr weiß sie nicht. Ob das Kind gesund ist? Ob ihre ständige Angst vor der
nächsten Bombe Spuren hinterlassen hat? „Ich weiß nicht mal, ob es ein
Junge oder ein Mädchen wird“, sagt Samih.
„Ich esse seit zwölf Monaten vor allem aus Konserven“, sagt sie. „Ich we…
das ist ungesund für mich und mein Kind, aber es gibt nichts anderes.“ Das
wenige Gemüse, das noch auf Märkten zu finden ist, können sich viele nicht
mehr leisten. Samih und ihre Familie kochen mit Feuerholz, der Rauch mache
ihr zu schaffen.
Zum vierten Mal musste sie mit ihrem Mann und den Kindern fliehen. Vom
Flüchtlingslager Maghazi im Zentrum des Gazastreifens nach Rafah, von dort
nach Nuseirat und schließlich wieder nach Maghazi. Heute leben sie zu
zwölft in ihrer halb zerbombten Wohnung. Den Durchgang zu einem der
vollständig eingestürzten Räume hat sie mit Ziegelsteinen verstellt, um die
Kinder zu schützen.
Ein Jahr nach dem Beginn des Krieges und vor dem Hintergrund der Kämpfe im
Libanon wird über die humanitäre Krise im Gazastreifen kaum noch berichtet,
dabei hat sich die Lage nicht verbessert. Stattdessen nehmen laut dem
UN-Nothilfebüro Ocha die spärlichen Hilfstransporte in den von Israel
abgeriegelten Küstenstreifen weiter ab. Im September fielen die Lieferungen
an Hilfsgütern „auf den niedrigsten Stand seit mindestens März“.
Während sich in gigantischen Zeltstädten Hunderttausende Menschen dicht an
dicht zusammendrängen, ist die medizinische Versorgung weitgehend
zusammengebrochen. Krankheiten breiten sich aus, von denen laut der UNO
überdurchschnittlich häufig Frauen und Kinder betroffen sind. Besonders
schwer trifft es schätzungsweise 155.000 Schwangere und stillende Mütter.
## Das Telefon als Taschenlampe
„Ich finde keine Worte“, sagt die Hebamme Flor Francisconi. „Nichts, was
ich sage, beschreibt, wie es ist, während einer Geburt in einem Kreißsaal
zu stehen, während draußen Bomben einschlagen.“ Die 37-jährige
Argentinierin arbeitet seit sechs Jahren als Hebamme für die
Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen und seit rund zwei Monaten im
Nasser-Krankenhaus in Chan Junis.
„Ich sehe die Erschöpfung der Frauen schon wenn sie ankommen in ihren
Gesichtern und an der Art, wie sie sich bewegen.“ Fast alle seien im
vergangenen Jahr mehrfach vertrieben worden, viele hätten Angehörige
verloren.
Das hat Folgen: Laut einer Erhebung der Vereinten Nationen sind die
Komplikationen während der Schwangerschaft, der Geburt und danach
gestiegen. Neun von zehn Frauen leiden an Harnwegsinfektionen, 76 Prozent
an Blutarmut, 28 Prozent hatten vorzeitige Wehen, fast die Hälfte
Bluthochdruck. Jede zehnte Schwangerschaft ende mit einer Totgeburt.
„Ich fürchte mich davor, mit Wehen in ein halb zerstörtes Krankenhaus zu
gehen“, sagt Samih. Eine Freundin in Gaza-Stadt habe zu Hause gebären
müssen. Die Nachbarinnen hätten nacheinander ihre Telefone als
Taschenlampen gehalten, bis die Akkus leer gewesen seien. Die
Stromversorgung ist in weiten Teilen des Gazastreifens ausgefallen.
## Weder Bett noch Wasser und Seife
Viele kommen zumindest für die Geburt in die Klinik, sagt Hebamme
Francisconi. Etwa 650 Kinder kämen im Nasser-Krankenhaus derzeit pro Monat
zur Welt. 80 bis 90 per Kaiserschnitt, oft ohne Betäubungsmittel.
Mindestens einen Tag sollten die Frauen danach zur Beobachtung bleiben –
theoretisch. „Die meisten kommen nur für etwa sechs Stunden“, sagt
Francisconi. „Sie haben zu viel Angst, dass ihren Familien etwas zustößt,
während sie im Krankenhaus sind.“
Danach würden viele der Mütter mit Geburtsverletzungen und
Kaiserschnittwunden zurück in Zelte ziehen. „Dort gibt es bei oft mehr als
30 Grad in der Regel kein fließendes Wasser, keine Seife und oft nicht
einmal ein Bett“, sagt Francisconi, deren Arbeitsweg regelmäßig durch die
Zeltlager führt. Ihre Babys mit Muttermilch zu füttern, sei für die oft
unterernährten und dehydrierten Mütter eine weitere Herausforderung.
Viele kämen bald nach der Geburt wieder in die Krankenhäuser. „Sie kommen
mit Gelbsucht oder Hautausschlägen, weil die Eltern die Windeln mehrmals
benutzen müssen.“ Hinzu kommen die heute noch nicht sichtbaren Folgen für
eine Generation Neugeborener. „Der Stress und die ständige Anspannung
können sich auf die psychische Gesundheit und die gesunde Entwicklung
auswirken“, sagt Francisconi.
Der Krieg im Gazastreifen geht indes weiter. Schlagzeilen ruft er
angesichts [2][der eskalierenden Kämpfe mit der Hisbollah im Libanon] und
der zynischen Gewöhnung an die Bilder aus Gaza kaum noch hervor. Seit
Wochen greift die Armee ehemalige Schulen an, die zu Unterkünften für
Zehntausende Vertriebene geworden sind. Mitte September wurden bei einem
solchen Angriff in Gaza-Stadt 22 Menschen getötet, dem Hamas-geführten
Gesundheitsministerium zufolge vor allem Frauen und Kinder. Laut der
israelischen Armee habe die Hamas aus dem geschützten Raum heraus operiert.
## Ärzte und Pfleger werden zu Zielen
Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig bestätigen, ebenso wenig der
Wahrheitsgehalt der immer gleichlautenden israelischen Rechtfertigung, man
habe ein weiteres „Kommandozentrum“ zerschlagen. Was dieser Begriff
bedeuten soll, bleibt unklar. Genauso ritualisiert und ohne Nachweise
dementiert die Hamas jeden Vorwurf, aus ziviler Infrastruktur heraus zu
operieren. Real bleiben viele Bilder die danach online auftauchen. In von
mehreren internationalen Medien verifizierten Videos waren nach dem Angriff
Ersthelfer zu sehen, die schlaffe Kinderkörper mit abgerissenen Gliedmaßen
zu Rettungswägen trugen.
Die palästinensischen Ärzte und Pfleger arbeiten weiter, obwohl sie immer
wieder selbst zum Ziel werden. Auch sie wohnen mit ihren Familien in Zelten
und Notunterkünften. Rund 1.000 im Gesundheitssystem Beschäftigte wurden
seit Kriegsbeginn getötet, meldet das Gesundheitsministerium. Viele ihrer
Kolleginnen und Kollegen hätten Angehörige verloren, sagt Francisconi.
„Trotzdem sind die meisten schon am Tag darauf wieder ins Krankenhaus
gekommen.“
Zwei von ihnen sind der Arzt Majed Jaber in Chan Junis und der
Medizinstudent Ezzedin Lulu im Norden Gazas. Lulu volontiert in der im
August wiedereröffneten Notaufnahme im größtenteils zerstörten
Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt.
„Ich habe schon im Oktober angefangen, als Freiwilliger in Al-Schifa zu
arbeiten, weil es dort zu wenig Personal gab“, sagt Lulu am Telefon. Der
Medizinstudent war plötzlich mit Amputationen, Verbrennungen und
zerschmetterten Gliedmaßen konfrontiert. „Das waren Dinge, die ich in
keinem Lehrbuch gesehen hatte.“
## Unicef fordert mehr Medikamente
Am 13. November klingelte Lulus Handy. Während die israelische Armee das
Krankenhaus belagerte, wurde das Haus seiner Familie bombardiert. „Nur
meine Mutter hat überlebt“, sagt der 23-Jährige. Sein Vater, seine
Geschwister und deren Kinder wurden getötet. „Ich finde bis heute keine
Worte für mein Gefühl in diesen Tagen“, sagt Lulu. In Erinnerung an seinen
Vater hat er eine Stiftung gegründet. Die Samir-Foundation soll
Medizinstudierende in Gaza unterstützen, „so wie mein Vater mich auf meinem
Weg unterstützt hat“.
„Als Ärzte müssen wir weitermachen“, sagt Majed Jaber am Telefon aus dem
European Hospital in Chan Junis. „Wenn wir es nicht tun, sterben noch mehr
Menschen.“ Seine fehlende Erfahrung mache dem 25-Jährigen zu schaffen.
„Menschen zu verlieren, weil ich nicht helfen konnte oder Fehler mache,
diese Verantwortung ist schwer zu ertragen.“ Für viele Patienten könne er
kaum etwas tun, sagt Jaber: „Kinder sterben wegen Hautkrankheiten, die sich
entzünden und zu Blutvergiftungen führen. Wir haben nicht die Medikamente,
ihnen zu helfen.“
Der Vizedirektor des UN-Kinderhilfswerks Unicef forderte nach einem Besuch
im September, mehr Lieferungen von Medikamenten und medizinischem Material
zu ermöglichen. Von sechs WHO-Missionen Mitte September in den Norden des
Küstenstreifens ermöglichte die israelische Armee nur eine, untersagte zwei
und behinderte drei.
## Impfkampagne und multiresistente Keime
„Gaza ist die perfekte Petrischale für infektiöse Krankheiten“, sagt Jaber
in einem seiner Onlinevideos, in denen der Arzt über seine tägliche Arbeit
spricht. Längst haben sich Durchfallerreger, Hepatitis und eine Reihe
weiterer Erkrankungen verbreitet. Im August gab es erstmals seit 25 Jahren
wieder Fälle von Polio im Gazastreifen. Das aber sei letztlich nur ein
Symptom des größeren Problems:
„Die Zerstörung der Infrastruktur, der Mangel an Hygiene angesichts
wachsender Müllberge und ungeklärter Abwässer in den Straßen. Die Kinder
leben in Flüchtlingslagern, trinken dasselbe verschmutzte Wasser, spielen
im selben Schlamm.“ Die ständigen Evakuierungsaufforderungen der Armee
würden das ihre tun, Krankheiten weiter zu verbreiten. Es gebe
Intensivpatienten mit offenbar multiresistenten Keimen, die nicht mehr auf
die verfügbaren Antibiotika reagierten. „Die Probleme, mit denen wir in
Gaza konfrontiert sind, werden sich nicht auf Gaza beschränken“, warnt
Jaber.
Das leuchtete wohl auch der israelischen Führung ein. Eine [3][UN-geführte
Impfkampagne gegen Polio] konnte während begrenzter Feuerpausen im
September 560.000 Kinder unter zehn Jahren im gesamten Gazastreifen
erreichen, rund 90 Prozent. Das UN-Palästinahilfswerk UNRWA sprach von
einem Erfolg. Am 14. Oktober soll eine zweite Impfrunde starten. Vor allem
aber zeigt die erfolgreiche Einfuhr und Verteilung von Impfstoffen im
Gazastreifen, dass die humanitäre Katastrophe dort menschengemacht ist und
jederzeit beendet werden könnte.
10 Oct 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Felix Wellisch
Aseel Mousa
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