# taz.de -- Alltag im Gazastreifen: Mit Schlägen und Bomben aufwachsend | |
> Im Geflüchtetencamp, in dem er lebt, bekommt unser Autor alles mit: | |
> Gespräche der Menschen über einen möglichen Waffenstillstand und | |
> häusliche Gewalt. | |
Bild: In den Zelten ist es sehr kalt: Ein Geflüchtetenlager im zentralen Gazas… | |
Manchmal fühlt sich mein Kopf an, wie ein Topf voll kochendem Wasser. Als | |
wäre er kurz davor, zu zerschmelzen. Noch ist mein Kopf ganz, auf meinen | |
Schultern. Also ziehe ich meine Schuhe an und mache mich auf den Weg zur | |
Arbeit. Ich arbeite als Schreibcoach für Kinder, gemeinsam mit ihnen | |
schreibe ich Geschichten. | |
Vielleicht achte ich deshalb derzeit mehr auf die Kinder in meiner | |
Umgebung. Vielleicht fällt mir deswegen auf, was zwei benachbarte Kinder | |
aus unserer Reihen an Zelten immer wieder tun: Sie reiben sich – auf eine | |
ganz bestimmte Weise – aneinander. Mir ist klar, dass sie nicht verstehen, | |
was sie da tun. Vielleicht haben sie gesehen, wie ihre Eltern im Zelt | |
miteinander schliefen. Vielleicht haben sie andere Dinge gesehen, die sie | |
nicht hätten sehen sollen. | |
Ich gehe zur Arbeit, dann lade ich mein Handy auf, dann kehre ich zurück | |
ins Zelt. Ich schlafe und wache auf und höre die Leute auf der Straße über | |
ihren Glauben sprechen – und darüber, wann der Waffenstillstand eintreten | |
wird. | |
In meinem Zelt ist es sehr kalt. Wie frieren erst die Kinder? Ich höre die | |
Menschen um mich herum schwer atmen. Ein Virus breitet sich derzeit aus, | |
besonders unter Kindern. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören | |
Kurzatmigkeit und Husten. Das Flüchtlingshilfswerk UNICEF hat Wasserproben | |
in Gaza genommen und fand darin Polio, ein Virus, das das Atmen erschwert. | |
Die Menschen husten ständig, die Nasen tropfen unaufhörlich. Auf dem Markt | |
werden kleine Taschentuchpakete für 5 Dollar verkauft. Vor Kurzem wachte | |
ich auf, weil in der Nähe [1][Bomben fielen]. Es roch nach Schießpulver, | |
ich fühlte mich, als müsste ich ersticken. | |
## Im Nachbarzelt wird die Mutter gewalttätig | |
Im Nachbarszelt lebt eine Lehrerin. Ich höre, wie sie ihren Kindern und den | |
Kindern des Lagers „Moral“ beibringt. Dabei verhöhnt sie mit ihrer Art, sie | |
ihnen beizubringen, die „Moral“ selbst. Sie hat einen 15-jährigen Sohn, der | |
alles macht, was sie will. Er trägt das Wasser, reinigt das Zelt und kauft | |
ihr alles, was sie braucht. Wenn er einen nur kleinen Fehler macht, schreit | |
sie: „Möge Gott dich lebendig verbrennen.“ | |
Sie hat eine Tochter, die 13 Jahre alt ist. Sie kümmert sich um das | |
Neugeborene, kocht und macht die Wäsche. Wenn sie einen Fehler macht, wird | |
sie mit einer Peitsche geschlagen. Jede Nacht höre ich ihre Schreie, so wie | |
alle anderen im Lager auch. „Schone die Rute, verderbe das Kind“ – auf | |
diesem Glauben basiert noch immer ein Teil des Erziehungssystems in Gaza. | |
Das war auch vor dem Krieg schon so. Dabei erfordert das Lernen | |
Barmherzigkeit, denke ich. | |
Die Lehrerin hat eine Schwester. Sie lebt auch in unserem | |
Vertriebenenlager. Sie wurde in ihrer Kindheit so oft geschlagen, dass sie | |
wohl einen Teil ihres Verstandes verloren hat. Wir hören, dass ihre Mutter | |
sie nachts noch immer misshandelt. Letzte Nacht verprügelte die Lehrerin | |
ihre Tochter, und deren Mutter schlug gleichzeitig deren Schwester. [2][Sie | |
haben das Schlagen geerbt – ein Kreislauf.] Der Vater sieht schweigend zu. | |
Seine größte Sorge: Er möchte keine lauten Geräusche hören müssen, sie | |
stören ihn. Am nächsten Tag höre ich, wie der Vater zu seinem Sohn sagt: | |
„Es hat mir nicht gefallen, wie du mit deiner Mutter gesprochen hast.“ | |
Ich denke über seine Worte nach. Und über den Kreislauf der Gewalt. | |
Darüber, wie die Kinder des Gazastreifens einmal als Erwachsene sein | |
werden. Mein Kopf ist kurz davor, zu schmelzen. Wieder einmal. | |
Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und | |
Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er | |
innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen. | |
Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges | |
nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im | |
[3][„Gaza-Tagebuch“] holen wir Stimmen von vor Ort ein. | |
16 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Esam Hajjaj | |
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