| # taz.de -- Auf dem Weg nach Nordgaza: Auf der Suche nach einem neuem Leben in … | |
| > Unser Autor kehrt zu Fuß in seine Heimat Nordgaza zurück, durch eine | |
| > zerstörte Landschaft. Und fühlt sich fremd an dem Ort, der einmal sein | |
| > Zuhause war. | |
| Bild: Rückkehr in ein völlig zerstörtes Gaza Stadt, 9. Februar 2025 | |
| Eine knappe Woche nach dem [1][Beginn des Waffenstillstands] greife ich | |
| morgens in Nuseirat nach meiner Tasche und beginne zu laufen. Die | |
| Al-Rashid-Straße gen Norden ist die einzige für Fußgänger geöffnete Straß… | |
| Ich laufe zunächst bis zum Al-Nabulsi-Kreisverkehr in Gaza-Stadt – das sind | |
| rund 7 Kilometer. Es fällt mir schwer. | |
| Der Arzt hat bei mir vor zwei Tagen ein Darmgeschwür diagnostiziert, es ist | |
| wohl auf die ungesunde Ernährung während des Krieges zurückzuführen. Jetzt | |
| warte ich auf einen Termin für einen Eingriff, der helfen soll, meinen | |
| Zustand zu beurteilen. Doch angesichts des Zusammenbruchs des | |
| Gesundheitssystems wird wohl kaum etwas unternommen werden. | |
| Der Staub ist überall. Immer wieder wird mir übel. Mein Kopf schmerzt. Die | |
| Asche der zerstörten Häuser vermischt sich mit der Seeluft, die Asche ist | |
| stärker. Sie macht uns krank und vergiftet unsere Zellen. | |
| Gaza-Stadt fühlt sich seelenlos an. Oft wissen wir nicht, wo wir sind, wir | |
| verirren uns, und unser Blick wandert durch die verwüsteten Landschaften. | |
| Eine Frage lässt mich nicht los: „Wann wird alles wieder so sein, wie es | |
| war?“ | |
| ## „Dort gibt es überhaupt kein Leben“ | |
| Auf dem Heimweg sehe ich an die Wände gekritzelte Botschaften – Worte, die | |
| Menschen geschrieben haben, die während ihrer Vertreibung von Ort zu Ort | |
| zogen. Was mich am meisten beeindruckt, sind ihre Worte über den | |
| Widerstand: Ihre bloße Anwesenheit im Norden sehen sie als einen Akt des | |
| Widerstands; sie betrachten ihre Weigerung, ihr Land zu verlassen, als | |
| Trotz. | |
| Als ich das Stadtzentrum durchquere, höre ich einen Mann sagen, es würde | |
| Jahre dauern, bis der Gazastreifen wieder so sei wie früher. „Sehen Sie | |
| diese Zerstörung hier?“, erwiderte ein anderer: „Das ist nichts im | |
| Vergleich zu den Zerstörungen in Jabalia und Beit Lahia. Hier kann man noch | |
| ein bisschen Leben spüren. Dort gibt es überhaupt kein Leben.“ | |
| Als ich ankomme, überwältigt mich der Kummer. Ich seufze zweimal – einmal, | |
| als ich unser Viertel Al-Shejaija erreiche (und ich glaube, dieser Seufzer | |
| kommt von der Erschöpfung von der Reise). Das zweite Mal, als ich meine | |
| Tante Nadia umarme. Ich habe sie seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen. | |
| Die ganze Zeit über haben wir nur telefoniert, ohne zu wissen, ob wir uns | |
| jemals wiedersehen würden. Aber das Schicksal macht, was es will. | |
| Vom Haus meiner Tante gehe ich zu unserem Haus, mit einer | |
| 2-Kilogramm-Gasflasche unterm Arm. Sie ist für meine Mutter, sie hatte mich | |
| darum geben, um ihr die Last zu erleichtern. Meine Mutter, mein Vater und | |
| mein Bruder Ahmed waren schon vor mir in den nördlichen Gazastreifen | |
| aufgebrochen. Und dort gibt es derzeit kein Gas zum Kochen; die Menschen | |
| benutzen Brennholz. | |
| ## Das ganze Viertel ist verwüstet | |
| Ich betrete unser Haus und suche nach meinen Habseligkeiten – meine | |
| Kleidung, meine Bücher. Mein Zimmer ist zerstört. Ein Teil der Hauswand | |
| fehlt. Die Fensterscheiben sind zerborsten, die Möbel kaputt. Als ich im | |
| Oktober 2023 geflohen bin, ließ ich eine Sammlung von Büchern zurück, die | |
| aus Jordanien gekommen waren. Mein Herz hängt an ihnen. Einige von ihnen | |
| finde ich, andere nicht. | |
| Ein Gefühl kommt auf, das ich noch nie zuvor empfunden habe: Wie kann ich | |
| mich in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Nachbarschaft wie ein | |
| Fremder fühlen? Wie kann ich mich sicher fühlen, wenn die Besatzung all | |
| unsere Erinnerungen zerstört hat? Das ganze Viertel ist verwüstet, es gibt | |
| kein Wasser, keinen Strom – [2][und jeder dort hat sich verändert.] | |
| Die Besatzung hat unser Leben zerstört. Dieser Krieg hat alles erreicht. | |
| Sie wussten genau, dass uns nicht der Tod selbst am meisten schmerzt, | |
| sondern unsere verlorenen Erinnerungen. Sie zerstörten Häuser, obwohl sie | |
| die Macht hatten, es nicht zu tun. Sie brauchten es nicht zu tun. Aber sie | |
| wollten das Leben aus unserem Gedächtnis löschen. | |
| Mich schwindelt. Ich habe Angst. Aber ich fühle auch Erleichterung und ein | |
| flüchtiges Gefühl der Sicherheit. Es fühlt sich an, als wäre ich gar nicht | |
| lange von zu Hause weg gewesen. Manchmal während des Krieges habe ich tief | |
| getrauert, manchmal nichts mehr gespürt. Aber jetzt will ich nur Weinen. Um | |
| alles, was vergangen ist. Ich will ein neues Leben beginnen, eines, in dem | |
| ich nicht mehr daran denken muss, durch eine Bombe oder eine Rakete zu | |
| sterben. | |
| Aber der Krieg hat einen großen Teil meiner Seele geraubt. | |
| Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt, ist Schriftsteller und Dozent | |
| für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb | |
| des Gazastreifens mehrfach geflohen. | |
| Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges | |
| nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ | |
| holen wir Stimmen von vor Ort ein. Die Texte geben ausschließlich die | |
| persönlichen Meinungen der Autoren wieder. | |
| 11 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Esam Hajjaj | |
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