# taz.de -- 7. Oktober – ein Jahr danach: Wohin nach dem Bruch? | |
> Der israelische Kibbuz Kfar Aza war vom Hamas-Überfall schwer betroffen. | |
> Einige Bewohner sind jetzt zurückgekehrt, andere suchen noch nach ihrem | |
> Weg zu einer neuen Heimat. | |
Bild: Als sei der Überall gerstern gewesen. Rchel Stelman vor einem niedergebr… | |
In Ilana und Arje Tzuks Küche lässt nichts mehr darauf schließen, was in | |
Kfar Aza vor einem Jahr am 7. Oktober passiert ist. „Wollt ihr Hafer- oder | |
Kuhmilch in den Eiskaffee?“, fragt der 66-jährige Arje bei einem Besuch im | |
September, in seiner Hand ein silberner Cocktail-Shaker. | |
Im August sind die Eheleute zurück in ihr Haus im Kibbuz gezogen, zwei | |
Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Kfar Aza wurde bei dem | |
Hamas-Überfall besonders schlimm getroffen: Die Hamas-Terroristen töteten | |
64 von rund 950 Bewohnern, 19 entführten sie. | |
Für die Tzuks ist die Rückkehr mehr als eine persönliche Entscheidung: „An | |
der Grenze zum Libanon wurde ein ganzer Landstrich verlassen. Unsere | |
Verantwortung als Bürger ist es, dass so etwas hier im Süden nicht | |
passiert“, sagt Illana. Ein Satz, der klingt wie aus den Anfangstagen der | |
Kibbuz-Bewegung. Die Ortschaften wurden damals bewusst an strategischen | |
Positionen entlang der Grenzen des israelischen Staatsgebietes errichtet. | |
Bisher sind nur gut 40 Bewohner dem Beispiel des Ehepaares gefolgt. Aus dem | |
Fenster fällt der Blick auf eine ausgestorbene Straße, ein platter | |
Basketball liegt unter einem Korb, ein Stück weiter ein umgestürztes | |
Fahrrad. Keine der 20 Familien aus der Straße sei zurückgekehrt, sagt | |
Ilana, obwohl dieser Teil des Kibbuz während des Massakers weitgehend | |
unbeschädigt blieb. Andernorts sind bis heute ausgebrannte Häuser, | |
Einschusslöcher und vernagelte Fenster zu sehen. | |
Bisher sind vor allem Ältere zurückgekommen. „Das fehlende Kindergeschrei | |
ist schlimmer als die Zerstörung“, sagt Arje: „Ohne die junge Generation | |
werden wir keine Zukunft haben.“ Auch die drei erwachsenen Kinder der Tzuks | |
sind nicht zurück. Stattdessen leben die eigentlich eng miteinander | |
verbundenen Kibbuz-Mitglieder in diesen Tagen an unterschiedlichen Orten. | |
Sie ringen um einen Weg in die Zukunft und fürchten das Auseinanderbrechen | |
ihrer Gemeinschaft. | |
Vier Straßen weiter steht Avichai Brodutch im Garten seines Hauses und | |
lässt aus einem Schlauch Wasser auf trockene Salbeibüsche und Zitronenbäume | |
regnen. Der 43-Jährige in Shorts und Sandalen kommt nur alle paar Wochen, | |
um nach den Pflanzen zu sehen. Er würde gerne zurückkommen. „Ich zeige dir, | |
warum“, sagt er und führt auf die Rückseite des einstöckigen Gebäudes. | |
Bedeckt von Staub und Sand steht dort ein großer Holztisch auf der Veranda. | |
„Das war der Mittelpunkt meines Lebens“, sagt Brodutch. Hier saßen morgens | |
seine Frau und die drei Kinder, und abends die Freunde aus den umliegenden | |
Häusern. Jetzt sind vier seiner engsten Freunde tot, sein Nachbar wird bis | |
heute als Geisel in Gaza festgehalten. | |
Als die Hamas am frühen Morgen des 7. Oktober eindrang, stürmte Brodutch | |
als Mitglied des Verteidigungsteams zur Waffenkammer im Zentrum des Dorfes. | |
Als er Stunden später zu seinem Haus zurückkehrte, war das | |
Wohnzimmerfenster zerstört. Hamas-Kämpfer hatten seine Frau Hagar und die | |
Kinder Ofri, Yuval und Uriah nach Gaza entführt, zusammen mit der | |
dreijährigen Tochter der ermordeten Nachbarn. | |
Brodutch pflückt mit der Hand Schnecken von den Ästen des Zitronenbaums und | |
schleudert sie in Richtung des Kibbuz-Zauns. Dahinter sind die Ruinen von | |
Gaza-Stadt zu sehen, dazwischen der israelische Grenzzaun. Es ist nicht | |
zuletzt ihm zu verdanken, dass heute bis auf fünf fast alle aus Kfar Aza | |
Verschleppten wieder frei sind. Eine Woche nach dem Überfall fuhr er mitten | |
in der Nacht nach Tel Aviv und setzte sich mit einem Schild vor das | |
Armeehauptquartier. Darauf stand: „Meine Familie ist in Gaza.“ Es war der | |
Beginn der Proteste für ein Geiselabkommen. Unter hohem öffentlichem und | |
internationalem Druck stimmte die israelische Regierung Ende November einer | |
Feuerpause und einem Gefangenenaustausch zu. Brodutch konnte seine Familie | |
nach 51 Tagen wieder in den Arm nehmen. | |
Er selbst würde am liebsten heute zurückkehren. Doch seine Frau und die | |
Kinder könnten das nicht, „zumindest noch nicht“. Brodutch schluckt. „Als | |
sie aus der Gefangenschaft zurückkamen, waren wir überglücklich. Es hat ein | |
paar Wochen gedauert, bis ich realisiert habe, dass wir nicht mehr sind wie | |
zuvor.“ Das erste halbe Jahr schliefen sie zu fünft in einem Bett. Die | |
Kinder trauten sich nicht alleine in andere Zimmer. Mittlerweile sind sie | |
zu zwei Betten übergegangen. „Gestern sagte meine Tochter, dass sie nicht | |
bei mir schlafen will. Sie fühlt sich bei mir nicht mehr sicher, weil die | |
Hamas mich zuerst erschießen würde, wenn sie nochmal kämen“, sagt er. | |
Zusammen mit etwa der Hälfte der ehemaligen Kfar-Aza-Bewohner leben die | |
Brodutchs im befreundeten Kibbuz Schefajim, eine halbe Autostunde nördlich | |
von Tel Aviv. Der Staat ließ die Bewohner von Kfar Aza kurz nach dem 7. | |
Oktober weitgehend allein. Die Bewohner von Schefajim halfen: Sie holten | |
die Traumatisierten aus Kfar Aza in ihren Kibbuz, errichteten hastig | |
Wohneinheiten, überließen ihnen leerstehende Häuser. | |
Vor den Türen des Hotels in Schefajim liegt das Mittelmeer in Laufweite, | |
große Bäume werfen Schatten auf den Rasen. Drinnen stehen auf einer Tafel | |
die Namen der Entführten aus Kfar Aza. Daneben zeigt ein Kalender die | |
Gedenkfeiern für die Getöteten ein Jahr danach. Die Termine ziehen sich von | |
Anfang September bis November. „Am Freitag ist die Zeremonie für meine | |
Schwester“, sagt Dvir Rosenfeld. Der kahlrasierte 40-Jährige mit breiten | |
Oberarmen lässt sich müde auf eine Couch in der Lobby fallen. Er kommt | |
gerade aus einer Therapiestunde. „Wirklich helfen konnten mir die | |
Therapeuten bisher nicht“, sagt er. | |
Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter hat er nach einem von der | |
Kibbuz-Verwaltung entwickelten System eine der wenigen Wohnungen bekommen: | |
Punkte gab es für verlorene Angehörige und Entführte. „Man könnte sagen, | |
wir hatten das Pech, ein Haus zu bekommen“, sagt Rosenfeld trocken. Seine | |
Schwester, sein Schwager und sein Cousin wurden am 7. Oktober ermordet. | |
Ein Jahr später und ohne Aussicht auf ein Kriegsende quält Zehntausende | |
Israelis die Frage: Wie geht es weiter? Der Krieg mit der Hisbollah im | |
Libanon eskaliert in diesen Tagen; die Hamas ist aller militärischen Härte | |
in Gaza zum Trotz weiter aktiv. Die israelische Regierung hat die | |
finanzielle Unterstützung für Vertriebene im August verlängert, allerdings | |
nur bis Ende des Jahres. | |
„In Schefajim zu bleiben ist keine Option für mich“, sagt Rosenfeld, der | |
fast sein ganzes Leben in Kfar Aza verbracht hat. Anfang des Jahres stellte | |
die Kibbuz-Verwaltung den Plan vor, kollektiv nach Ruchama umzuziehen, in | |
einen weiteren Kibbuz 15 Kilometer östlich von Kfar Aza. Die Regierung will | |
den Wiederaufbau der Region in den kommenden fünf Jahren mit rund 5 | |
Milliarden Euro unterstützen. Rosenfeld war für den Umzug, ebenso wie die | |
Hälfte der knapp 900 Überlebenden. Von Ruchama könnte in ein paar Jahren | |
die Rückkehr nach Kfar Aza kommen, für jene, die sich dafür sicher genug | |
fühlen. | |
Vielen geht das zu schnell. Brodutch und rund einhundert weitere | |
Kfar-Aza-Bewohner bleiben in Schefajim. Hunderte andere leben schon heute | |
im ganzen Land verstreut. Rosenfeld steht auf, um seine Tochter aus dem | |
Kindergarten abzuholen. „Zum Glück“, scherzt er, „sind wir im kleinen | |
Israel; egal wo du hinziehst, sind es maximal ein, zwei Stunden mit dem | |
Auto.“ Dann schaut er besorgt. Seine Schwester kommt nicht mit nach | |
Ruchama, wie so viele andere auch. „Wenn wir es gut machen, zerfällt unsere | |
Gemeinschaft nicht in zu viele Teile.“ | |
Dass eine sofortige Rückkehr nach Kfar Aza vor allem jungen Familien zu | |
gefährlich ist, lässt sich vor Ort leicht nachvollziehen. Noch immer | |
wummern in der Mittagshitze hin und wieder Artilleriegeschütze, knattern | |
Helikopter und Drohnen. Von Frieden sprechen heute die wenigsten in Kfar | |
Aza. Bei den meisten überwiegen Wut und Hass. Brodutch glaubt noch an | |
Frieden. „Ich habe nicht das Privileg, etwas anderes zu glauben, bei dem | |
Leid auf beiden Seiten“, sagt er. Doch in der Regierung säßen Leute, die | |
andere Pläne hätten. | |
Kfar Aza heißt „Dorf Gaza“. Der Kibbuz entstand nach dem israelischen | |
Unabhängigkeitskrieg in den 1950er Jahren als bewaffnete | |
Landwirtschaftssiedlung. Die Bewohner, vertriebene Juden aus Marokko und | |
Ägypten, verteidigten die Grenzen des neuen Staates gegen palästinensische | |
Angriffe aus dem Gazastreifen, wo Hunderttausende 1948 aus dem heutigen | |
Israel vertriebene Palästinenser in Flüchtlingslagern lebten. | |
Kontakte gab es trotzdem: Bewohner von Kfar Aza gingen zum Falafelessen | |
nach Gaza, Palästinenser kamen zum Arbeiten in den Kibbuz. Die erste und | |
zweite Intifada setzten vielen dieser Kontakte ein jähes Ende. Trotzdem | |
galten die Kibbuz-Siedlungen entlang der Grenze bis vergangenen Oktober als | |
Hochburg der Friedensbewegung. Viele wählten, anders als der Großteil des | |
Landes, linke Parteien. | |
Für Arje Tzuk ist vor einem Jahr etwas zerbrochen. Wenn früher sein Haus | |
bebte, wenn die Armee Gaza beschossen hat, dachte er: „Wie schrecklich muss | |
es für die Menschen dort erst sein.“ Heute denkt er: „Schade, dass sie | |
keine größeren Bomben werfen.“ Seine Frau Ilana engagierte sich früher für | |
die Organisation Road to Recovery und fuhr als Freiwillige Palästinenser | |
aus Gaza zur Behandlung in israelische Krankenhäuser. Im Oktober ist sie | |
ausgetreten. | |
Draußen treffen die Tzuks eine weitere Rückkehrerin. Rachel Stelman, die | |
Chefin des Notfallteams von Kfar Aza, inspiziert die zerstörten Bungalows. | |
Die zerschossenen Türen und verkohlten Balken wirken, als sei kaum ein Tag | |
vergangen. „Obwohl ich die Ruinen in Gaza sehe, denke ich, dass es noch | |
nicht zerstört genug ist“, sagt sie. Aber sie wisse auch, dass mit Bomben | |
nichts zu gewinnen ist. Ein kalter Frieden sei besser als gar keiner. | |
6 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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