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# taz.de -- Zum Gedenken an Yotam Haim: Flügel in den dunkelsten Momenten
> Er wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt und versehentlich von der
> israelischen Armee erschossen. Die Band seines Bruders gedenkt seiner mit
> einem Song.
Bild: Yotam Haim mit Drumsticks am Schlagzeug
Die Erinnerung schmerzt. „Manchmal denke ich wirklich, dass wir in der
Hölle leben und Yotam an einem besseren Ort ist“, sagt Tuval Haim über
seinen verstorbenen Bruder Yotam Haim. Schlagzeug haben sie beide gespielt.
Tuval Haim ist Drummer der israelischen Band Pulkes. Zusammen mit dem
Gitarristen Berry Sakharof haben sie gerade den Song „Kanfei Ruach“
veröffentlicht.
Er bildet den Auftakt zu einem Projekt in Gedenken an Yotam Haim, der am 7.
Oktober 2023 aus seinem Haus im Kibbutz Kfar Aza nach Gaza entführt wurde,
dort zunächst als Geisel bleiben musste, sich aber schließlich befreien
konnte und am 15. Dezember 2023 versehentlich von israelischen Soldaten im
Gazastreifen erschossen wurde.
Bald zehn Monate sind seit diesem tragischem Schicksal vergangen, als wir
Tuval Haim in einem Jerusalemer Café treffen. Lange Monate, in denen der
Krieg in Gaza mit vielen Toten und die Angriffe auf Israel anhalten. Lange
Monate, in denen es kaum gute Nachrichten gibt, in denen die Proteste gegen
die israelische Regierung und für einen Deal zur Befreiung der Geiseln und
ein Ende des Krieges lauter werden. So wie auch an diesem Tag, nicht weit
von uns entfernt.
## Heilende Kraft
Einen Tag zuvor spielte Tuval mit seiner Band Pulkes erstmals wieder live.
„Nach monatelangem Schmerz ist mir bewusst geworden, dass Musik eine
heilende Kraft hat“, beginnt Tuval Haim. „In der Zeit der Ungewissheit war
die Musik unsere Stärke. Sie spendete Hoffnung und half uns durchzuhalten,
genauso wie sie Yotam die Kraft gab, während der Geiselhaft nicht
aufzugeben“, erzählt er weiter.
Berichten anderer Geiseln zufolge trommelte Yotam mit den Fingern auf den
Boden, während andere zu seinem Rhythmus sangen. Auf diese Weise versuchten
sie sich gegenseitig Mut zu machen und die Ungewissheit zu vertreiben. „Ich
habe keine Zweifel daran, dass Musik ihm die Kraft gab, weiterzumachen und
sich zu befreien“, betont Tuval.
Gemeinsam mit zwei weiteren Geiseln, Samer al-Talalka und Alon Shamriz, war
Yotam Haim der Hamas bei Shujaiyeh im Gazastreifen entkommen, sie konnten
fliehen. Fünf Tage überlebten sie, haben „SOS“ auf ein Gebäude und die
Wörter „Help“ und „3 Hostages“ auf Stoffreste geschrieben, was von der
israelischen Armee als Falle vermutet wurde.
## Feuer zu spät eingestellt
Als sie am 15. Dezember entdeckt wurden, wurden sie irrtümlich für
Hamas-Kämpfer gehalten. Ein Kommandeur erkannte Haim noch als Geisel und
befahl den schießenden Soldaten, das Feuer einzustellen. Doch da war es
bereits zu spät. Yotam Haim starb im Alter von 28 Jahren.
Yotam sollte mit seiner Band Persephore am 7. Oktober 2023 beim
Psycho-Ward-Festival in Tel Aviv auftreten. Es sollte ihr bis dato größter
Gig werden. Am 6. Oktober trafen sie sich ein letztes Mal, um zu proben.
Ihren melodischen und von Refrains geprägten Stil beschreiben Persephore
als Modern Emo-Metalcore. Seit 2022 spielten sie fest zusammen, in dieser
Zeit wurde die Band zur Ersatzfamilie.
Am 18. Dezember 2023 wurde Yotam im Kibbutz Gvulot in der Negev-Wüste im
Süden Israels beerdigt. Die Straße nach Gvulot führt an den zerstörten
Kibbutzim Kfar Aza, Be’eri, Re’im und Nir Oz vorbei. Es ist auch die
Straße, auf der viele Besucher*innen des Supernova-Festivals vergeblich
zu fliehen versuchten. Dort, wo er aufgewachsen ist, spielten verschiedene
Musiker*innen seine Lieblingssongs.
## Ein Haus voller Musik
Etwa die Band The BackYard, die Arik Einsteins „Whistling in the Dark“
spielte, und die israelische ESC-Gewinnerin Netta Barzilai, die „Nothing
Else Matters“ von Metallica darbot. In seiner Rede beschrieb Tuval, wie sie
als Brüder in einem Haus voller Musik groß geworden sind und gemeinsam das
Trommeln entdeckten, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Auf den Grabstein ist [1][ein Vers des Songs „À tout le monde“ von der
US-Metalband Megadeth] eingraviert, in dem es heißt: „Das sind die letzten
Worte, die ich je sprechen werde, und sie werden mich befreien.“ Zwischen
den Steinen, die traditionell auf jüdische Gräber gelegt werden, sind
persönliche Gegenstände drapiert, eine Perlenkette aus Holz und orange
bemalte Herzen in verschiedenen Größen. Orangerot ist die Erkennungsfarbe
für Yotam, der in Israel wegen seiner rötlichen Haare häufig als „Gingi“…
Rotschopf – bezeichnet wird.
In Solidarität posteten Menschen orangene Herzen auf ihren
Social-Media-Accounts, wenn sie Nachrichten über ihn teilten. Neben den
Herzen liegt eine Anstecknadel, eine gelbe Schleife, in Erinnerung an die
aktuell noch verbleibenden Geiseln. Am Ende des Grabsteins liegt eine
Snaredrum neben einem Ständer mit Halterungen für Drumsticks und einem
Becken obenauf. Yotams Vater Raviv möchte damit einen Baum für die
Kontinuität des Lebens symbolisieren.
## Bringt ihn nach Hause
Die Hoffnung, dass Yotam Haim lebend zurückkehre, war groß. [2][Um den
Druck zur Freilassung der Geiseln zu erhöhen, starteten die Familie und
Freund*innen die Kampagne „Bring Yotam Back]“. Drummer sollten
Coverversionen von Songs seiner Lieblingsbands aufnehmen und der Kampagne
zur Verfügung stellen.
Nur wenig internationale Musiker*innen beteiligten sich daran, weil sie
Angst vor den Reaktionen hatten, sich für eine jüdisch-israelische Geisel
einzusetzen. In Deutschland unterstützten Bands wie ZSK und die
Antilopengang die Kampagne.
Yotam Haim liebte Hunde, Katzen, Basketball und Crossfit und war gern in
der Natur. Sein Trommelstil war energetisch, er liebte es, stundenlang zu
proben, ob allein oder mit der Band. Über die Musik baute er besondere
Verbindungen zu anderen Menschen auf.
## Yotam ist ein Held
Musik hören und selbst zu spielen war für ihn eine inspirierende, aber
zugleich auch beruhigende und heilsame Praxis. „Immer wieder stellte er
sich seinen Ängsten und der Depression, kämpfte mit sich selbst. Er wollte
normal sein und dazugehören. Und jetzt ist er ein Kämpfer gegen die Hamas
geworden, er ist ein Held“, erzählt Tuval.
Ihm ist es wichtig, dass sein Bruder als der Mensch erinnert wird, der er
war, und nicht als passives Opfer. Darum geht es auch in dem Song „Kanfei
Ruach“. Als wir uns wenige Tage später in einem Tel Aviver Tonstudio
treffen, spricht Tuval zusammen mit der Band, dem Sänger Berry Sakharof und
dem Produzenten Beno Hendler über die Motivation für das
Erinnerungsprojekt.
## Mutig in der Gefangenschaft
„Yotam ist nicht gefallen, er ist über sich hinausgewachsen, weil es ihm in
seiner unmöglichen Situation gelungen ist, mutig zu sein und nach vorne zu
schauen – trotz immenser Risiken, die diese Flucht aus der Gefangenschaft
mit sich brachte. Diese Botschaft gibt mir die Stärke, weiterzumachen.“
Die Schlagzeugspur ist bereits abgemischt, heute geht es um die Aufnahme
von Berry Sakharofs Gesang, seinen Gitarrenpart und das Arrangement der
Pulkes-Bläsersektion. Wie in so vielen Situationen im jüdischen
Alltagsleben liegen Freude und Traue nah beieinander. Bei Gesprächen wird
geweint und gelacht, zwischendurch ruft Tuval seinen Partner und seine
Schwester Noya per Videochat an, um ihnen eine Hörprobe zu geben. Berrys
Gesang, seine Gitarre, das Tenor- und Alto-Saxofon und die Klarinette
tragen all diese Emotionen und uns durch den langen Aufnahmetag.
„Der Song symbolisiert die Kraft, selbst in düstersten Momenten Flügel zu
finden“, fasst Tuval die Musik als heilende Kraft in der Essenz des Lieds
zusammen. „Kanfei Ruach“ ist hebräisch und bedeutet wörtlich übersetzt so
viel wie „Flügel des Geistes“. „Ruach“ kann je nach Zusammenhang als
„Geist“, „Seele“, „Atem“ oder „Wind“ übersetzt werden.
Der Songtext stammt aus einem Gedicht des Rabbiners Abraham Isaak Kook. Er
war dafür bekannt, Philosophie, Mystik, jüdische Traditionen und
rabbinisches Recht miteinander in Beziehung und ins Verhältnis zur Idee des
Zionismus zu setzen. Im Text geht es um Selbstvertrauen, Vertrauen zu Gott
und die Kraft, sich zu erheben und die eigene Situation zu verändern.
## Flügel des Geistes
Wörtlich übersetzt heißt es in dem Gedicht: „Mensch, steh auf, denn du hast
große Kraft. Du hast Flügel des Geistes, die Flügel der großen Adler.
Verleugne sie nicht, damit sie dich nicht verleugnen. Suche nach ihnen,
Mensch, und sie werden sich dir sofort zeigen.“
Das Gedicht wurde bekannter, als es in Gedenken an acht Getötete vertont
wurde, die bei einem Terroranschlag durch einen palästinensischen
Attentäter am 6. März 2008 in Jerusalem ums Leben kamen. Der Anschlag traf
eine Jeschiwa, eine jüdische Hochschule, die Rabbiner Kook 1924 gegründet
hatte. Heute wird das Gedicht immer wieder als Gebet oder Meditation
verwendet. Es wird musikalisch neu interpretiert und hat fast schon den
Status eines Volkslieds in Israel.
Die sechs Musiker*innen aus Jerusalem spielen seit 2018 bei Pulkes. Sie
beschreiben ihren Stil als Balkan-Klezmer, gepaart mit Einflüssen diverser
Genres. Gerade den jüngeren Generationen wollen sie verschiedene Stile
traditioneller jüdischer Musikkulturen vermitteln. Pulkes sind auf
israelischen und internationalen Festivals unterwegs – oder waren es
zumindest. Seit dem 7. Oktober gibt es keine internationalen Anfragen mehr.
## Israelische Musiklegende Minimal Compact
Berry Sakharof gehört zu den erfolgreichsten israelischen Rockmusikern, in
Israel wird er manchmal als „Prinz des israelischen Rock“ bezeichnet. Er
wurde 1957 in İzmir geboren, drei Jahre später wanderte seine Familie nach
Israel aus. [3][Bekannt wurde er mit seiner Postpunk-Band Minimal Compact,
die in den 1980ern auch internationale Erfolge feierte].
In unserem Gespräch beschreibt er, wie er nach dem 7. Oktober über Monate
keine Musik spielen oder hören konnte. Erst Auftritte vor Soldat*innen
im Einsatz gaben ihm wieder eine Bestimmung, die Gitarre in die Hand zu
nehmen. Er wollte anderen die Kraft geben, die er in sich selbst lange
nicht finden konnte.
Über die Zusammenarbeit mit Pulkes sagt er: [4][„Ich hoffe, dieses Lied
ermöglicht den Leuten, was es mir gibt. Die Musik spendet mir Trost in sehr
schweren Zeiten und gibt mir ein Stück Energie zurück.“] Dann fügt er
hinzu: „Mir ist es wichtig, dass an Yotam erinnert wird und Menschen sein
Leben und seine Geschichte kennenlernen.“ Es bedeute ihm viel, dass ich
nach Israel gekommen sei, das Gespräch suche und zuhöre, sagte er mir am
Ende unserer Unterhaltung in einem kleinen Aufnahmeraum, in dem wir von
vier surrenden Ventilatoren umgeben sind.
## Verschiedene Einflüsse, treibende Refrains
„Kanfei Ruach“ wird vor allem vom rockigen Schlagzeug und dem treibenden
Refrain von Berrys Gesang getragen. Klassische Rockinstrumentierung
unterstreicht seinen Gesang, steht durch die Soloparts auch für sich und
bringt verschiedene musikalische Einflüsse zusammen.
Die Atmosphäre verkörpert zugleich Trauer über den Verlust und die
Aufforderung, Kraft zu finden und weiterzumachen. Vermittelt wird so ein
Gefühl von Sehnsucht nach besseren Zeiten und der Hoffnung, dass es diese
geben wird. In Israel ist der Song ein großer Erfolg, er wird von allen
Radiostationen gespielt.
Noya Haim, Schwester von Tuval und Yotam, zeichnete die Illustration für
das Cover der Single. Sie zeigt zwei Welten, die durch ein großes Tor
getrennt sind. Die Band auf der einen, Yotam als Engel mit Flügeln auf der
anderen Seite. Die Farben Rosa, Blau und Gelb sollen an traditionelle
Farben ihrer verschiedenen Kulturen und Herkünfte erinnern.
Für den Dreh des Musikvideos sind Pulkes in den Süden Israels gefahren. Der
Clip zeigt Yotam – dargestellt durch einen Schauspieler – auf der Arbeit in
den Feldern, beim Crossfit in Sderot und in Situationen, in denen er immer
wieder neuen Mut fasste.
Es sind Szenen zu sehen, wie Tuval Schlagzeug in Yotams niedergebranntem
Haus in Kfar Aza spielt. „Es kam mir vor wie ein Tag in Yotams Leben. Es
war sehr schwer, aber es bedeutet mir viel. Ich hatte das Gefühl, dass er
ständig bei uns war“, beschreibt Tuval die Dreharbeiten.
Das Video endet mit Originalaufnahmen von Yotam beim Trommeln. Die Arbeit
an weiteren Songs für das Album ist bereits im Gange. Es soll im Frühjahr
2025 erscheinen.
6 Oct 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Rachel Spicker
## TAGS
Geisel
Gaza
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Punk
Hamas
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Gaza-Krieg
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Gaza
Postpunk
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