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# taz.de -- Die Band Aksak Maboul und ihr Label: Sie fanden ihre Stimme wieder
> Die belgische Band hat das Genre Chanson modernisiert. Ihr Label hat dazu
> beigetragen, dass die internationale Musikwelt enger zusammengewachsen
> ist.
Bild: Feinste Brüsseler Spitzen: Véronique Vincent und Marc Hollander, Master…
Dreieinhalb Jahrzehnte, 35 Jahre – das nennt man Leinwandhochzeit. 35 Jahre
– da beginnt bei manchem die Midlife-Crisis. 35 Jahre – so lange halten nur
die wenigsten Bands und Musikprojekte. Die, die eine solche Geschichte
vorweisen können, gelten als Dauerbrenner.
Bei [1][der belgischen Band Aksak Maboul] sieht es anders aus: Marc
Hollander und Véronique Vincent spielten nicht, sondern pausierten so
lange: Zwischen 1980 und 2015 erschien kein Album, keine Single, nichts.
Dennoch hatte sich die Gruppe nie aufgelöst; es war ein Arbeiten im
Stand-by. Hollander setzte keinen Rost an. Während Aksak Maboul pausierte,
baute der Brüsseler Impresario ein Label von Weltrang auf. Bei Crammed
Discs sind bis heute etwa 400 Alben und 300 Singles erschienen. Doch die
eigene Musik musste ruhen: „Die Arbeit am Label fraß meine gesamte Zeit und
Energie auf“, sagt Hollander.
Dieser Hingabe dürfen Musikfans bis heute dankbar sein. Es begann mit der
israelischen Band Minimal Compact und mit Family Fodder, zwei legendären
Postpunk-Gruppen: „Samy Birnbach, Sänger von Minimal Compact aus Tel Aviv,
war ein Freund von mir“, erinnert sich Hollander heute. „Wir hatten uns
Jahre vorher getroffen, dann aber den Kontakt verloren. Als er aber las,
dass ich ein Label gründe, meldete er sich umgehend mit dem ersten Demo
seiner Band.“
## Crammed Discs agierte global
Da schrieben wir das Jahr 1980. „Brüssel war damals relativ langweilig“,
entsinnt sich Marc Hollander heute, „was aber ein Vorteil war, weil man so
in Ruhe an seiner Kunst arbeiten konnte.“ Niedrige Mieten, eine zentrale
Lage in Europa und ohne sozialen Druck jeden Abend ausgehen zu können, das
waren die Gründe, warum die belgische Hauptstadt dann doch einige
internationale Musiker (Tuxedomoon, Minimal Compact, Colin Newman von der
New-Wave-Band Wire) anzog – was wiederum dem Programm des Labels Crammed
Discs zugutekam.
Crammed Discs veröffentlichte aber nicht nur Platten von Künstler*innen
aus den USA und Westeuropa, sondern agierte bei der Akquise global: Bei
Crammed Discs erschien Musik aus Äthiopien (Mahmoud Ahmed), Japan (Yasuaki
Shimizu), aus Norwegen, Rumänien, Argentinien, Brasilien, China und
etlichen weiteren Ländern.
Während wir heute unabdinglich feiern, dass die musikalische Welt so eng
zusammengewachsen ist wie noch nie in der Menschheitsgeschichte, ist das
nicht bloß Ergebnis technischen Fortschritts (Internet), sondern der Arbeit
von Pionieren wie Hollander zu verdanken. Die eigenen musikalischen
Ambitionen hat er derweil nie ganz begraben. Denn am Anfang seiner Karriere
steht die Band Aksak Maboul, die er 1976 mit Vincent Kenis gründete.
## Die Ära der Fourth World Music
Die beiden Alben von Aksak Maboul, „Onze danses pour combattre la migraine“
von 1977 und „Un peu de l’âme des bandits“ von 1980, galten Fans und
Postpunk-Enthusiasten lange als ikonische Platten einer untergegangen
DiY-Szene, die sich wenig um Genregrenzen scherte, sondern sich sowohl bei
heimischen als auch „exotischen“ (so nannte man das damals noch) Quellen
bediente, sie vermengte, vermischte und in Form presste.
Dieser hypereklektizistische Ansatz war Produkt der Ära; Kollegen wie der
Brite Brian Eno experimentierten zur selben Zeit mit Ambient-Sounds,
gesampelten Klangquellen, Inspirationen aus der ganzen Welt. Die Kollision
von westlichem Pop mit folkloristischen Sounds aus den damals so genannten
Dritte-Welt-Ländern führte zu einem kleinen Hype, an dem Eno genauso wie
der US-Trompeter Jon Hassell ihren Anteil hatten. Man nannte das auf Basis
einer einfachen Rechnung (Erste plus Dritte Welt) damals Fourth World
Music.
## Die Spuren von Kolonialismus und Ausbeutung
Hollander sieht diesen Begriff bis heute sehr kritisch: „Wenn man die Welt
betrachten könnte als eine, in der Kulturen immer in Bewegung sind, als
Geschichte sich gegenseitig beeinflussender Kulturen, wo gleichermaßen
Inhalte vor und zurück gehen, dann wäre das ja toll.“ Doch ebendas sieht
Hollander, der sich als Labelbetreiber mit solchen Austauschbewegungen
auseinandergesetzt hat, nicht. Zwar erkenne man die Appropriation
westlicher Stile: „Man denke an afrikanische elektronische Musik,
kambodschanischen Pop, brasilianischen HipHop – Tuareg spielen E-Gitarre
und inkorporieren Blues.“ Das sei aber nur die halbe Wahrheit, weil das
Verhältnis immer noch extrem asymmetrisch sei: „Die Spuren von Hegemonie,
Kolonialismus und Ausbeutung sind bis heute überall zu sehen.“
Crammed Discs’ Wurzeln in der Subkultur und der postpunkigen Kritik von
Machtstrukturen kann man auch heute noch deutlich erkennen. An Aksak
Maboul, der Band Hollanders, ist die lange Zeit indes nicht spurlos
vorbeigezogen. 35 Jahre Pause, das steckt man eben nicht mal einfach so weg
und setzt dort wieder an, wo man ehedem aufgehört hat. Dabei erkennt man
etwa beim Hören des aktuellen Albums „Une aventure de VV (Songspiel)“
einige Gemeinsamkeiten zu 1979. Man zitierte bereits damals Bossa Nova,
verformte Jazz, experimentierte mit elektronischer Klangerzeugung,
untersuchte das europäische und im Speziellen das französische Chanson.
## Zu poppig für die Fans
Diese künstlerische Freiheit trieb die Band gleichwohl in eine Krise: „Nach
zwei Alben hatten wir ein kreatives Loch. Wir waren nicht mehr in der Lage,
etwas zu produzieren, das nicht nach verwässerten Versionen der Songs
klang, die wir schon produziert hatten“, sagt Hollander im Rückblick. Er
habe eine „fast schon pathologische Aversion“ gegen den Stillstand
entwickelt. Er ging immer mehr in der Arbeit des Labels auf: Sorgte für die
Verbreitung des prall gefüllten Crammed-Discs-Katalogs.
Während der langen musikalischen Pause hat Marc Hollander seine Band nie
aus dem Blick verloren. Mit seiner Bandkollegin (und Lebenspartnerin)
Véronique Vincent hat er immer wieder über ein eventuelles drittes Album
nachgedacht. Über 30 Jahre entstanden Skizzen zu einem neuen Werk von Aksak
Maboul: „Zu poppig für die Fans unserer Experimente, zu seltsam für ein
Pop-Publikum.“ Allerdings entwickelte sich die Welt weiter: Immer mehr
Menschen nutzten die Möglichkeiten des Internets, schulten sich an alten
und neuen Recken experimentellerer Popmusik – es entstand eine neue
Offenheit.
## Die Reaktion war euphorisch
Zunehmend häufiger gab es Anfragen von Interessent*innen, die ersten beiden
Alben von Aksak Maboul mussten mehrfach neu aufgelegt werden. 2014
entschlossen sich Hollander und Vincent dazu, die vorhandenen Aufnahmen und
Skizzen der Band in Form zu bringen: [2][Auf „Ex-Futur Album“ hörte man so
ein letztes Mal die Ur-Besetzung mit Vincent Kenis und John Pearce/Aliq
Fodder von Family Fodder.] Schön: Die Musik hat keinerlei Staub angesetzt,
klingt wie frisch aus dem Ei gepellt und vor allen Dingen hochaktuell.
Die Reaktion bei Fans und Kritik fiel unerwartet euphorisch aus, folglich
trudelten die ersten Anfragen für Konzerte ein. Faustine Hollander, Tochter
des Paares Vincent/Hollander, bot sich als Bassistin an. Nach einem
weiteren Album, „Figures“, das aber im Corona-Sommer 2020 nicht die
angemessene Aufmerksamkeit bekam, erschien im April dieses Jahres
schließlich „Une aventure de VV (Songspiel)“.
## Fabelhafte Gespräche mit Zwergen und Vögeln
Hollander sagt: „Das Album nahm langsam Form an. Es begann mit dem Wunsch,
Songs zu komponieren, die noch losgelöster von Songstrukturen waren als
alles, was wir vorher gemacht haben.“ Das Ergebnis lässt sich hören und ist
eines der besten Alben des bisherigen Jahres. Statt auf die Aspekte von
Streaming und leicht verdaubaren Einzeltracks zu achten, ist dieses
„Songspiel“ eine durchgehende Erzählung, ein Märchen. Es geht um ein
Mädchen, das seine Stimme verliert – da der Text von Véronique Vincent
stammt, ist der Titel „Une aventure de VV“ vermutlich kein Zufall – und
über fabelhafte Gespräche mit Zwergen und Vögeln seine Stimme wiederfindet.
Dabei zeigen sich Aksak Maboul sowohl von Bertolt Brecht und Kurt Weill
beeinflusst als auch von Maurice Ravels „L’enfant et les sortilèges“ und
Strawinskys „L’histoire du soldat“. Die traditionelle Form des Singspiels
wirkt heute, als Gegenentwurf zu Digital-Single-Releases, eigenwillig und
aktuell. Wie ein vertonter Podcast oder besser: ein auf einem Soundteppich
ausgebreitetes Hörspiel besonderer Güte, das einen in den Bann zieht und
nicht mehr loslässt. „Das erfordert natürlich Immersion und
Close-Listening“, weiß Hollander. Er findet, aktives Hören und das
Anstrengen der Fantasie seien unterschätzte Kennzeichen der Rezeption
großer Kunst.
9 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Postpunk
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