# taz.de -- Sprache im Gazakrieg: Das Lexikon der Brutalität | |
> „Humanitäre Zonen“, „freiwillige Migration“, „Kollateralschaden“… | |
> Euphemismen die Tötung von Zivilisten in Gaza akzeptabel erscheinen | |
> lassen. | |
Bild: Ein israelischer Panzer rollt vor den Hausruinen an der Grenze zu Gaza | |
Worte dienen in der Politik nicht nur dazu, Realität zu beschreiben, | |
sondern sie zu erschaffen. In Kriegszeiten, in denen Regierungen besonders | |
darauf bedacht sind, ihre Legitimität zu stärken, wird Sprache oft zu einer | |
Waffe der Massenbeeinflussung, um das Töten als moralischen und notwendigen | |
Akt darzustellen. Der anhaltende Krieg Israels im Gazastreifen ist ein | |
Musterbeispiel dafür, wie fein justierte Propaganda durch die Manipulation | |
von Sprache und Bedeutung Zustimmung für Gräueltaten erzeugt. | |
Am Abend des 7. Oktober – als die Israelis sich der entsetzlichen Aufgabe | |
gegenübersahen, die Opfer des schreckenerregenden Massakers der Hamas zu | |
zählen – kündigte Premierminister Benjamin Netanjahu bereits in seiner | |
ersten Ansprache an die Nation in bildhafter Sprache an, was das | |
israelische Militär im Gazastreifen nun zu tun gedenke. Er verwendete den | |
erstmals in der Bibel gebrauchten Ausdruck „in Schutt und Asche legen“. Für | |
Hebräischsprachige gab es keinen Zweifel daran, was damit gemeint war. In | |
den folgenden Tagen fügten viele Minister – darunter der damalige | |
Verteidigungsminister Joav Galant und hochrangige IDF-Offiziere – ihre | |
eigenen Überlegungen hinzu, was Israel im Gazastreifen tun werde, auch die | |
Aushungerung der Bevölkerung wurde erwähnt. Politisch ist das | |
bemerkenswert: Die Entscheidungsträger kündigten an, dass sie Gaza | |
zerstören würden, und sie handelten entsprechend, um ihr Versprechen zu | |
erfüllen. Sie täuschten die Öffentlichkeit nicht, sie sagten die Wahrheit, | |
unverblümt. | |
Die Absichten wurden offen erklärt, die Öffentlichkeit hörte zu, | |
legitimierte in den folgenden Tagen die Umsetzung dieser Absichten und | |
arbeitete teils sogar daran mit. Diese Legitimierung zeigte sich an der | |
raschen Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses, der die Zerstörung | |
Gazas unterstützte und rechtfertigte; eine beispiellose Zahl von Meldungen | |
zur Reserveeinberufung bezeugte die Zustimmung vieler. | |
Die schrecklichen Folgen dieser Versprechen und ihrer Umsetzung sind der | |
verwüsteten Landschaft Gazas abzulesen. Die Brutalisierung der Gesellschaft | |
folgte einem vorhersehbaren Muster: (a) Die Regierung entmenschlichte den | |
Feind; (b) Entscheidungsträger genehmigten den Einsatz massiver und | |
unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Bewohner Gazas und mobilisierten die | |
Öffentlichkeit dafür; (c) Gewalttaten wurden durch Befehle von Regierung | |
und Militärs zu Routine. Obwohl die drei Phasen in aller Öffentlichkeit | |
stattfanden, werden die Maßnahmen und ihre Folgen ignoriert oder geleugnet. | |
## Der Krieg um Worte und Bedeutungen | |
In Kriegszeiten spielt Sprache eine zentrale Rolle. Ein demokratischer | |
Staat muss sich im Krieg nicht nur mit technischen, militärischen und | |
rechtlichen Fragen (etwa dem Völkerrecht) auseinandersetzen, sondern auch | |
mit der „Mentalität“ – also dem kollektiven Bewusstsein – und dem | |
politischen Diskurs. Der Staat muss sich seiner Legitimität beim Volk | |
versichern, in dessen Namen er handelt. Diese Form der Legitimität ist | |
dabei zwangsläufig durch Manipulation geprägt, da die Öffentlichkeit | |
umfassender Informationen beraubt und auf Distanz gehalten wird. Sie ist | |
sich des „Kriegs“ bewusst, aber über dessen Wirklichkeit weitgehend | |
uninformiert. | |
So zeigt sich der Gaza-Krieg auch als Kampf um Worte und ihre Bedeutung. Es | |
wäre nicht übertrieben zu sagen, dass es sich bei ihm auch um einen Krieg | |
um den Charakter der israelischen Gesellschaft handelt. Es werden seitens | |
der Regierung große Anstrengungen unternommen, neue Slogans und Begriffe zu | |
erfinden und zu perfektionieren, um die grausame Realität zu verschleiern | |
(„freiwillige Migration“), um Konzepte in ihr Gegenteil zu verkehren („ein | |
existenzieller Krieg um Israel“) und um mithilfe von Abstraktionen die | |
Israelis davon abzuhalten, das konkrete menschliche Leid zu sehen | |
(„Kollateralschaden“). | |
Der Kriegsdiskurs versucht, eine gewalttätige soziale Realität zu | |
verbergen, zu verschleiern und in eine zu verwandeln, mit der man leben | |
kann, ohne ihre Moral in Frage zu stellen. „Humanitäre Zonen“ im | |
Gazastreifen etwa sind Orte ohne Menschlichkeit, an denen Tausende von | |
Zivilisten bombardiert werden. Die von Israel in den ersten Wochen nach dem | |
7. Oktober durchgeführte Kampagne der „strategischen Bombardierung“ | |
verschleiert den Tod ganzer Familien in den Trümmern ihrer Häuser. „In Gaza | |
gibt es keine Unbeteiligten“ ist eine seit dem 7. Oktober in Israel weit | |
verbreitete Auffassung, die mit einem Taschenspielertrick versucht, die | |
Tötung Tausender Zivilisten und einer überwältigenden Zahl von Kindern zu | |
rechtfertigen. | |
Im Kriegsdiskurs erscheint die Bombardierung einer mit palästinensischen | |
Flüchtlingen überfüllten Schule als notwendige, logische und sogar | |
moralische Handlung. Sprache schafft eine alternative Realität. Sie bringt | |
uns dazu, uns mit Handlungen abzufinden, die unter anderen Umständen unser | |
Gewissen belasten würde. | |
Die seit zwei Jahren in Israel zu beobachtende systematische Sterilisierung | |
der Bedeutung gewalttätiger Handlungen folgt der Strategie, menschliches | |
Leid aus den Begriffen auszuklammern. Wenn Minister dazu aufrufen, „Gaza | |
dem Erdboden gleichzumachen“, verbirgt sich hinter der architektonischen | |
Metapher die Möglichkeit, dass Gebäude samt der in ihnen wohnenden Menschen | |
zerstört werden. Wenn Politiker von Mitte- und Rechtsparteien von | |
„freiwilliger Migration“ oder von der Errichtung einer „Riviera“ in Gaza | |
sprechen, verschleiern sie den Plan, eine Bevölkerung aus ihren im Krieg | |
zerstörten Häusern zu vertreiben. Hinter dem Begriff „Kollateralschaden“ | |
verbergen sich die Gesichter toter, „unbeteiligter“ Kinder. | |
Sprachliche Sterilisierung ermöglicht die Ausweitung und Eskalation von | |
Kriegen. Wie George Orwell beobachtete: „Die Sprache der Politik – das gilt | |
in unterschiedlicher Form für alle politischen Parteien, von den | |
Konservativen bis zu den Anarchisten – ist darauf ausgerichtet, Lügen wahr | |
klingen und Mord respektabel erscheinen zu lassen und so heißer Luft den | |
Anschein von Substanz zu verleihen.“ | |
## Die Forderung nach Symmetrie | |
Eines der rhetorischen Mittel, um das Sprechen über den Krieg zu | |
kontrollieren, ist die Forderung nach Symmetrie. Jede Kritik an Israels | |
Handlungen muss mit einer ebenso scharfen Verurteilung der Handlungen des | |
Feindes einhergehen. Diese Forderung ist ein Mechanismus, um wirksame | |
Kritik abzuwehren, da sie auf der Annahme basiert, dass es keinen | |
Unterschied zwischen den Parteien gibt, dass die enorme Kluft in Bezug auf | |
Macht, Ressourcen oder Opferzahlen keine Rolle spielt. Wenn Symmetrie | |
erzwungen wird, ist die Wahrheit das erste Opfer. Kritische Stimmen werden | |
als „extrem“, „einseitig“ oder sogar „verräterisch“ definiert, wä… | |
offizielle Darstellung als „ausgewogen“, „durchdacht“ oder „staatsmä… | |
präsentiert wird. | |
Eine der zentralen Erzählungen in jedem Krieg, und insbesondere in diesem | |
Krieg, ist die Behauptung, „keine Wahl“ zu haben – die Behauptung also, | |
dass die gewalttätige Realität notwendig, unvermeidbar und alternativlos | |
ist. In der Tat gibt es Zeiten und Umstände, in denen der Einsatz von | |
Gewalt notwendig ist. Aber es gilt Gesetze zu achten, verhältnismäßig zu | |
handeln – und es gibt diplomatische Alternativen. Dennoch hat die | |
israelische Regierung wiederholt darauf beharrt, dass es keine Alternative | |
zu dem von ihr eingeschlagenen Weg gibt. | |
Innerhalb dieses narrativen Rahmens führt jede Kritik zur Gegenfrage: „Was | |
schlagen Sie stattdessen vor?“ Als ob grundlegende moralische Standards und | |
das humanitäre Völkerrecht keine konkreten und klaren Vorschläge wären und | |
als ob jede Kritik bereits einen exakt ausgearbeiteten Plan zu einer Lösung | |
formulieren müsste. Auch die Symmetrieforderung ermöglicht die | |
Legitimierung von Handlungen, die in anderen Zusammenhängen als | |
inakzeptabel empfunden würden. Im Gaza-Krieg diente die Behauptung, „keine | |
Wahl“ zu haben, dazu, eine Politik der totalen Zerstörung, Aushungerung, | |
Massentötung und Verhinderung humanitärer Hilfe sowie die Ablehnung von | |
[1][Waffenstillstandsabkommen und Geiselfreilassungen] zu rechtfertigen. | |
Der gesellschaftliche Diskurs ist zu einem Käfig geworden, der die Grenzen | |
des Denkens absteckt und den Raum für abweichende Meinungen einschränkt. | |
Wenn angeblich nur noch zur Wahl steht, zu zerstören oder zerstört zu | |
werden, wird die Möglichkeit, sich einen Raum der Koexistenz, der | |
Versöhnung oder zumindest der Beendigung der Gewalt vorzustellen, verwehrt. | |
Wer sich ein Ende des Tötens wünscht, muss also die Brutalität aufdecken, | |
die sich hinter dem gängigen Diskurs in Israel und [2][Deutschland] | |
verbirgt, und auf die Mechanismen der Verleugnung, des Schweigens und der | |
Rechtfertigung hinweisen, die die Fortsetzung des Krieges ermöglichen. Die | |
Erzählungen und manipulativen Sprachregelungen, die sich in den Medien, der | |
Politik und im täglichen Sprechen verbreitet haben, müssen demontiert | |
werden. Wie Victor Klemperer gezeigt hat, operiert die Beeinflussung | |
mittels Sprache nicht nur durch offene Lügen, sondern insbesondere durch | |
sprachliche Manipulation, die besonders in Krisenzeiten wirksam sind, wenn | |
kollektive Ängste und Identifikationen die Fähigkeit zur kritischen Analyse | |
der Botschaften, „Fakten“ und Positionen schwächen. | |
## Demokratie lebt von präziser und freier Sprache | |
In Kriegszeiten, in denen der Konsens gestärkt und kritisches Denken | |
geschwächt wird, ist es wichtig, den hegemonialen politischen Diskurs zu | |
sezieren. Angesichts des Gefühls von Dringlichkeit und Not und der damit | |
einhergehenden Vorstellung, „keine Zeit“ zu haben – keine Zeit zum | |
Nachdenken, keine Zeit zum Abwägen, keine Zeit zum Diskutieren von | |
Alternativen –, müssen wir ein anderes Denken vorschlagen, das nicht zu | |
schnellen und gewalttätigen Handlungen drängt. Wenn Wörter ihrer Bedeutung | |
beraubt und mit neuen Bedeutungen versehen werden, ist die Demokratie | |
selbst bedroht. | |
Demokratie lebt von präziser und freier Sprache – deren Funktion nicht | |
darin besteht, zu beschönigen oder zu verbergen, sondern darin, zu | |
beleuchten und aufzudecken. Es gilt um das Recht zu kämpfen, die Dinge beim | |
Namen zu nennen: Massentötung ist Massentötung, nicht „Reduzierung der | |
Terrorinfrastruktur“; Transfer ist Transfer, nicht „freiwillige Migration�… | |
Hunger ist Hunger, nicht „Verhinderung von Hilfe für den Feind“. | |
Inzwischen ist sogar das Wort „Krieg“ politisch aufgeladen. Ist das, was in | |
Gaza geschieht, wirklich ein Krieg? Würden wir es als „Kampf“ bezeichnen, | |
wenn ein Erwachsener ein wehrloses Kind auf der Straße angreift? Anstatt | |
von „Krieg“ zu sprechen, sollten wir vielleicht überlegen, ob „Genozid“ | |
nicht ein passenderer Begriff ist. | |
Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair | |
4 Aug 2025 | |
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