# taz.de -- Israelische Kriegsdienstverweigerer: Nicht mehr ihr Krieg | |
> 130 israelische Deserteure erklären in einem gemeinsamen Brief, warum sie | |
> sich weigern, weiter zu kämpfen. Die taz hat mit drei von ihnen | |
> gesprochen. | |
Bild: Max Kresch war an der libanesischen Grenze im Einsatz. Rechts als Zivilis… | |
Tel Aviv taz | Max Kresch will nicht mehr kämpfen. Der drahtige 28-Jährige | |
steht auf dem Vorplatz des Tel Aviver Kunstmuseums. Statt Uniform trägt er | |
Jeans und T-Shirt, vor dem nächsten TV-Interview steckt er sich eine gelbe | |
Schleife an den Kragen: das Symbol für die Forderung nach einer Rückkehr | |
der von der Hamas entführten Geiseln. „Für dieses Land und diese Regierung | |
bin ich nicht mehr bereit mein Leben zu opfern“, sagt er. Zusammen mit ihm | |
haben 129 andere Reservisten und Wehrdienstleistende Anfang Oktober einen | |
Brief unterschrieben, so lange nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, bis ein | |
Abkommen zur Freilassung der Geiseln und für ein Ende des Krieges | |
geschlossen wird. Seitdem hört das Telefon von Max Kresch kaum noch auf zu | |
klingeln. | |
Dass 130 Soldaten ihren Dienst verweigern, während die Kämpfe gegen die | |
Hisbollah im Libanon immer mehr an Fahrt aufnehmen und ein Krieg mit dem | |
Iran jederzeit beginnen könnte, das sorgt für Diskussionen in Israel. | |
Israelische Medien haben Vorrang bei Interviewanfragen, sagt Kresch in sein | |
Handy. „Wir wollen laut sein und widersprechen, in einer Zeit, in der viele | |
es sich nicht trauen.“ | |
Für die Armee kommt das zur Unzeit. Nach einem Jahr Krieg verweigerten | |
manche Reservisten im Stillen schon aus reiner Erschöpfung den Dienst, | |
teilt die Organisation Misvarot mit, die Verweigerer unterstützt. Seit | |
Kriegsbeginn sei die Zahl der Beratungsanfragen um das Vierfache gestiegen, | |
das Militärgefängnis für Deserteure überbelegt. Und nun wollen 130 | |
Kriegsdienstverweigerer über ihre Motivlage reden, davon 64 mit vollem | |
Namen: über das, was sie erlebt haben und über die Krise, in der sie die | |
Armee und deren Führung ein Jahr nach Kriegsbeginn sehen. | |
Die israelische Armee ist auf Reservisten angewiesen, 220.000 von ihnen | |
wurden nach dem 7. Oktober mobilisiert. Zudem genießt sie über alle | |
politischen Gräben hinweg Vertrauen. Debatten über die Armee sind in dem | |
extrem militarisierten Land sensibel. Fast alle sind sich einig: Ohne die | |
Armee würde Israel im Nahen Osten nicht lange existieren. Wer in den | |
Monaten nach dem Hamas-Überfall mit Israelis egal welcher politischen | |
Ausrichtung sprach, bekam oft zu hören: „Die Armee wird das Richtige tun.“ | |
Doch genau daran zweifeln die Verweigerer nun. 130 Unterzeichner klingen | |
nach wenig, doch sie lassen erahnen, dass viele andere über einen solchen | |
Schritt zumindest nachdenken. „Für manche von uns ist die rote Linie | |
bereits überschritten, für andere kommt sie näher“, heißt es in dem Brief. | |
Das bisherige Versagen der Regierung, die Geiseln zurückzubringen, sei nur | |
„the straw that broke the camels back“, also in etwa: der Tropfen, der das | |
Fass zum Überlaufen brachte, sagt Kresch. Die Unterzeichner seien teils | |
zermürbt von ihren Erlebnissen im Krieg, teils geschockt von der | |
politischen Stimmung in ihren Einheiten oder auch schlicht desillusioniert | |
von der Tatsache, dass das Ziel dieses Kriegs zunehmend schwer auszumachen | |
scheint. „Wir, die wir mit Hingabe gedient und dabei unser Leben riskiert | |
haben, geben hiermit bekannt, dass wir unseren Dienst nicht fortsetzen | |
können“, schreiben sie. | |
Auf dem Platz vor dem Kunstmuseum lehnt sich Kresch, erschöpft wirkend, in | |
den weißen Plastikstuhl zurück und schaut hinüber zu HaKirija, dem | |
markanten Hochhaus des Verteidigungsministeriums, auf dessen Dach ein | |
Hubschrauberlandeplatz thront. „Für mich ist nach dem 7. Oktober mein | |
Glauben zerbrochen, dass die Regierung dieses Land zu einem besseren Ort | |
machen will.“ Kresch ist nicht unbedingt der Prototyp eines linken | |
Pazifisten: Aufgewachsen in den USA in einer religiös-zionistischen | |
Gemeinde, zog er 2014 im Alter von 18 Jahren aus Überzeugung nach Israel, | |
seine Eltern und Geschwister folgten. Er leistete seinen Wehrdienst in der | |
Spezialeinheit Egoz und verpasste seither keinen einzigen Reservedienst. | |
„Am 7. Oktober wurden wir an die libanesische Grenze geschickt“, sagt | |
Kresch. Er und seine Kameraden seien davon ausgegangen, binnen Stunden eine | |
Invasion der Hisbollah abzuwehren. „Ich dachte damals, dass wir in ein paar | |
Stunden nicht mehr am Leben sein könnten.“ | |
Als der Angriff ausblieb und wieder Zeit für Gespräche war, sei er von den | |
radikalen Ansichten seiner Kameraden schockiert gewesen. „Manche sagten, es | |
sei nach dem Hamas-Überfall eine Mitzwa, eine religiöse Pflicht, | |
palästinensische Kinder zu töten, weil sie zu Terroristen heranwachsen | |
würden“, erinnert sich Kresch. Nicht nur, dass sie damit die Aussagen der | |
extremsten israelischen Politiker übernahmen. Auch die Tatsache, dass kaum | |
jemand von seinen Kameraden widersprach, habe ihn desillusioniert. | |
Roee Negbi, Infanterist und ein weiterer Unterzeichner des Briefes, erzählt | |
von ähnlichen Erfahrungen. Nach dem 7. Oktober wurde der 24-Jährige mit dem | |
roten Vollbart einberufen und in das Grenzgebiet zum Gazastreifen | |
geschickt. Seine Einheit beschreibt er als „gemischt, ein bisschen was aus | |
allen Teilen der israelischen Gesellschaft“. Mit 30 Soldaten war er auch am | |
Ort des Nova-Festivals, wo fast 400 Israelis getötet wurden. „Mit all den | |
Namen und Fotos der Ermordeten ist es [1][ein Ort, der schwere Gefühle | |
hervorbringt]“, sagt Negbi. Die Kommentare einiger Soldaten hätten ihn | |
dennoch geschockt: „Wir müssen Rache nehmen an diesen Hurensöhnen in Gaza, | |
wir müssen jeden dort töten. Und keiner hat widersprochen, es gab keine | |
Konsequenzen“. | |
Am 12. Oktober schreibt Max Kresch bei Facebook: „Die Extremisten sagen, | |
Gaza muss plattgemacht werden. Dass sie den Frieden aufgegeben haben, | |
schmerzt am meisten.“ Er halte am Frieden fest: „Jetzt ist die Zeit, | |
palästinensische und arabische Freunde zu unterstützen“, heißt es in dem | |
Post weiter. | |
Einer von Kreschs Kameraden sieht den Text und zeigt ihn in der Einheit | |
herum. Am Ende wird Kresch versetzt. „Einer aus meinem Zug hat mir gesagt, | |
er wisse nicht mehr, ob er sich im Zweifel auf mich verlassen könne“, sagt | |
er heute. „Dass ich und andere, die widersprechen, ausgeschlossen werden, | |
lässt die Einheiten noch radikaler werden.“ | |
Wozu die Radikalisierung innerhalb der Armee führt, weiß Yuval Green zu | |
berichten. Der 26-jährige Medizinstudent und Reservesoldat der 55. | |
Fallschirmjägerbrigade meldet sich am 7. Oktober bei seiner Einheit. Nach | |
etwa zwei Monaten Training rücken sie in die dicht besiedelte Stadt Chan | |
Junis im Süden des Gazastreifens vor. Doch die Zweifel wachsen bei Green: | |
„Wir haben zu viel Zerstörung hinterlassen.“ Als er Ende Dezember im | |
Armeeradio hört, die israelische Regierung würde ein neues Abkommen zur | |
Freilassung der Geiseln hinauszögern, ist seine persönliche rote Linie | |
überschritten. Trotzdem bleibt er. | |
„Ich kenne die anderen in meiner Einheit seit unserem Wehrdienst, das sind | |
meine Freunde“, sagt Green. Als einziger Mediziner in seinem Zug will er | |
sie nicht zurücklassen. Aber er berichtet von rassistischen Ansprachen | |
eines offen religiös-nationalistischen Kommandeurs. Von Soldaten, die sich | |
durch den zurückgelassenen Besitz palästinensischer Familien wühlen: „Unter | |
ihnen hat sich daraus ein Wettkampf entwickelt, wer die schönsten | |
muslimischen Gebetsketten findet.“ Er erzählt von Waffengebrauch im Team | |
ohne militärischen Hintergrund. Am jüdischen Lichterfest Chanukka etwa habe | |
der Bataillonskommandant alle seiner rund 300 Soldaten in die Luft schießen | |
lassen. „Er wollte ein Feuerwerk“, sagt Green. | |
Er ist einer der Ersten, die öffentlich und mit Klarnamen sprechen. Fast | |
alles, was Green berichtet, deckt sich mit dem, was man auch bereits seit | |
Monaten online im Netz findet. Bereits kurz nach Kriegsbeginn häufen sich | |
Videos und Fotos, gepostet von Soldaten selbst. In einem feuert einer aus | |
einem Panzer eine Granate auf ein Gebäude und sagt dazu: „Das ist ein | |
Geburtstagsvideo für Adi, wir feiern in Gaza.“ In einem anderen schießt ein | |
Soldat, ohne zu zielen, ein ganzes Maschinengewehrmagazin auf ein Haus und | |
zieht dabei scheinbar genüsslich an einer Zigarette. | |
Viele Fotos zeigen Soldaten mit Symbolen der religiös-nationalistischen | |
Siedlerbewegung, die [2][eine Vertreibung aller Palästinenser aus Gaza] und | |
die jüdische Besiedlung des Küstenstreifens fordert. Andere zeigen | |
offensichtlich mutwillige Zerstörungswut: In einem zerschlägt ein Soldat | |
der Givati-Brigade mit einem Vorschlaghammer die Küchenzeile einer | |
palästinensischen Wohnung. | |
Recherchen israelischer Medien, darunter Ha’aretz und das Onlinemagazin | |
+972, erheben unter Berufung auf die Aussagen von – allerdings anonymen – | |
Soldaten noch schwerere Vorwürfe. Dort ist von Zivilisten die Rede, die | |
systematisch erschossen worden seien, weil sie bestimmte Gebiete betreten | |
hatten. Ein Soldat wird mit den Worten zitiert: Das „Gefühl der Bedrohung“ | |
reiche als Begründung, das Feuer zu eröffnen. „Es ist erlaubt, jeden zu | |
erschießen, ein junges Mädchen, eine alte Frau.“ | |
In der Vergangenheit hat die Armee die seit Monaten berichteten | |
Plünderungen durch Soldaten als solche benannt und Untersuchungen | |
angekündigt. „Eine große Lüge“, sagt Green. „Ich glaube, dass die ober… | |
Ränge der Armee das unterbinden wollen, aber sie haben schlicht nicht die | |
Macht dazu.“ Zu einer ähnlichen Einschätzung kam der Militärsoziologie | |
Yagil Levy schon Anfang des Jahres. In der Ha¹aretz schrieb er von einem | |
„Zusammenbruch der Armee-Hierarchie“. Die Militärführung würde „die Ru… | |
nach Rache, die Verstöße gegen die Disziplin und die missbilligende Haltung | |
gegenüber den Schießvorschriften mitbekommen, aber fast nichts | |
unternehmen“. | |
Green sagt, die Soldaten wüssten, dass in derartigen Fällen kaum je | |
Konsequenzen drohen: „Sie machen, was sie wollen.“ Die Kommunikation der | |
Armee nennt er dabei eine „zynische Berechnung“. Alles, was in Gaza | |
geschehe, werde mit militärischer Notwendigkeit erklärt. In vielen Fällen | |
sei das der Fall, nur könne niemand wissen, wann nicht. [3][Für | |
internationale Journalisten hat Israel das Gebiet bereits seit Kriegsbeginn | |
abgeriegelt.] | |
Auf eine Weise könne er die Taten seiner Kameraden verstehen, sagt Green. | |
„Viele von ihnen haben am 7. Oktober geliebte Menschen verloren.“ Er würde | |
sich wünschen, dass sie darüberstehen könnten und trotz ihrer Wut und ihres | |
Schmerzes auch die andere Seite sehen. „Auch unter den Palästinensern hat | |
fast jeder geliebte Menschen durch die israelische Armee verloren.“ | |
Green zögert, bevor er den nächsten Gedanken ausspricht: „Israels Rechte | |
liegen gar nicht falsch damit, dass es in Gaza keine unbeteiligten | |
Zivilisten gibt, bloß trifft das auf Israel genauso zu.“ Wenn | |
Palästinenser, die mit der Hamas sympathisierten, nicht unbeteiligt seien, | |
wieso sollten dann Politiker der israelischen Regierungsparteien, die in | |
der Knesset von Vertreibung und Auslöschung sprechen, oder jene die sie | |
wählen, unbeteiligt sein? | |
Die Menschen auf beiden Seiten seien so lange und so tief in einen blutigen | |
Konflikt verstrickt, dass kaum jemand daran unbeteiligt sein könne. „Ich | |
will durch mein Handeln zeigen, dass ich unsere Extremisten nicht | |
unterstütze, als ausgestreckte Hand für jene Palästinenser, die die Gewalt | |
der Hamas nicht unterstützen.“ | |
Im Januar widersetzt er sich dem Befehl seiner Kommandeure, ein Wohnhaus | |
anzuzünden, das die Truppe während eines Einsatzes als Basis genutzt hat. | |
„Ihre Gründe dafür waren absurd“, sagt er. Sein Befehlshaber argumentiert… | |
die Einheit dürfe keine Spuren hinterlassen. Greens Angebot, das Haus zu | |
durchsuchen und alle militärischen Hinterlassenschaften zu beseitigen, wird | |
abgelehnt. „Ich habe gedroht, dass ich gehen würde, wenn sie das Gebäude | |
anzünden.“ Als sie es trotzdem tun, steigt Green auf einen | |
Nachschubtransporter und verlässt den Gazastreifen. | |
Nun sammeln er und Kresch weitere Deserteure, um gemeinsam politischen | |
Druck aufzubauen. Die Hürden sind hoch: Auf Kriegsdienstverweigerung drohen | |
Gefängnisstrafen. Noch schwerer wiegt für viele aber der innere Bruch, | |
nicht mehr zu gehen, wenn die Armee ruft. Andererseits hat dieses Mittel in | |
Israel, wo auf Soldaten mehr gehört wird als auf Zivilisten, eine lange | |
Geschichte. | |
Schon vor der Staatsgründung 1948 gab es Organisationen wie den 1925 | |
gegründeten pazifistischen Zusammenschluss Brit Schalom. Die Gruppe setzte | |
sich für jüdisch-arabische Verständigung in einem binationalen Staat ein, | |
blieb aber politisch weitgehend wirkungslos. Bedeutung kam Refuseniks, den | |
Verweigerern, zunehmend seit dem Sechstagekrieg 1967 zu. Die Zahl derer | |
stieg, die nicht aus Pazifismus verweigerten, sondern um gegen die | |
Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens zu protestieren. | |
Bedeutend wurde die Verweigerung als politisches Mittel im Rahmen massiver | |
Proteste gegen den Ersten Libanonkrieg 1982. Die Organisation Jesch Gwul | |
(„Es gibt eine Grenze“) gründete sich mit einem Schreiben an den damaligen | |
Ministerpräsidenten Menachem Begin. Darin forderten hunderte | |
Reservesoldaten einen Abzug aus dem Nachbarland und warnten, dort nicht als | |
Reservisten zu dienen. Green und Kresch haben sich heute mit Yischai | |
Menuchim, einem der Deserteure von damals, zusammengetan. | |
Die Gruppe der 130 aber trifft heute auf ein anderes Israel. Zum einen | |
steht, anders als 1982, der Großteil der jüdischen Israelis hinter dem | |
Krieg gegen die Hisbollah und laut einer Umfrage von Anfang Oktober knapp | |
die Hälfte hinter einer Fortsetzung des Gazakrieges. Zum anderen ist die | |
israelische Gesellschaft seitdem massiv nach rechts gerückt. Bei einer | |
Konferenz der national-religiösen Siedlerbewegung an der Grenze zum | |
Gazastreifen sagte May Golan, eine Ministerin der Likud-Partei von | |
Regierungschef Benjamin Netanjahu, dass Siedlungen in Gaza die Sicherheit | |
Israels befördern würden. Netanjahu selbst hat derartige Pläne bisher | |
ausgeschlossen. | |
Die Radikalisierung geht auch am Militär nicht vorbei. Die | |
national-religiöse Bewegung hat die Armee als politisch relevante | |
Institution ausgemacht: 40 Prozent der Offiziersanwärter der Infanterie | |
kommen heute aus ihren Kreisen – weit mehr als der Anteil der | |
National-Religiösen in der Gesellschaft und weit mehr als die 2,5 Prozent | |
Offiziersanwärter, die sie noch im Jahr 1990 stellten. Die | |
National-Religiösen sehen in der jüdischen Besiedlung des Landes eine | |
göttliche Pflicht, aufbauend auf den religiös-zionistischen Lehren von | |
Abraham Isaac Kook, ab 1921 Oberrabbiner im vorstaatlichen britischen | |
Mandatsgebiet Palästina. Für dessen Nachfolger sind damit auch das | |
Westjordanland und der Gazastreifen gemeint, für manche gar Teile der | |
Nachbarländer. | |
Ein Wendepunkt für die Bewegung war die 2005 vom damaligen | |
Ministerpräsidenten Ariel Scharon beschlossene Räumung tausender | |
israelischer Siedler durch die Armee und der einseitige Abzug Israels aus | |
Gaza. Spätestens seitdem haben deren Anhänger viel darangesetzt, Einfluss | |
auf säkulare Institutionen zu gewinnen. Bei der Polizei ist dieser Einfluss | |
heute deutlich spürbar, seit der rechtsextreme Polizeiminister Itamar | |
Ben-Gvir zahlreiche Führungspositionen neu besetzen konnte. Eine | |
Beschränkung der Befugnisse des Obersten Gerichts hat die israelische | |
Zivilgesellschaft 2023 mit Mühe verhindert. Bei der Armee läuft der Prozess | |
sehr viel subtiler. Heute werden an rund zwei Dutzend religiöser | |
Militärakademien in Israel junge Männer aus gläubigen Familien auf die | |
Armee vorbereitet. | |
„Es gibt noch immer eine große Diskrepanz zwischen den oberen und unteren | |
Rängen in der Armee“, sagt der Sicherheitsexperte Andreas Krieg vom | |
Londoner King’s College. Der rechte Nachwuchs würde aber über die Jahre | |
kontinuierlich mehr und höhere Positionen einnehmen. Krieg hat zwei Jahre | |
in Tel Aviv gelebt und pflegt seit vielen Jahren gute Kontakte zu | |
hochrangigen Armeekreisen in Israel. Er beschreibt die Militärführung als | |
noch immer vorwiegend liberale und säkulare Elite. Die sei aber einerseits | |
mit der gesamten Gesellschaft so sehr nach rechts gerückt, dass viele ihrer | |
Positionen heute denen der Rechten vor 20 Jahren entsprächen. Andererseits | |
gerate sie nun doppelt unter Druck: Durch die zunehmend extremistische | |
politische Führung und durch immer größere Truppenteile, in denen | |
nationalreligiöse Narrative zunehmen. | |
„Die Auseinandersetzungen zwischen führenden Militärs und der Regierung | |
sind an einem historischen Tiefpunkt“, sagt Krieg. Immer wieder wurden im | |
vergangenen Kriegsjahr Meinungsverschiedenheiten zwischen Armee und | |
Regierung offen ausgetragen, etwa als Armeesprecher Daniel Hagari im Juni | |
eine Zerstörung der Hamas als unrealistisch bezeichnete und sich prompt | |
eine heftige Rüge von Netanjahu zuzog. | |
## Extreme Empathielosigkeit | |
Manche Offiziere kritisieren laut Krieg, dass religiös-zionistische Ideen | |
inzwischen die Leitlinien für den Einsatz und das Verhalten der Soldaten | |
und Kommandeure am Boden beeinflussen würden. Im Januar forderten laut dem | |
Militärsoziologen Yagil Levy 90 Kommandeure von Reservebataillonen die | |
Armeeführung auf, in Gaza, im Libanon und im Westjordanland nicht zu | |
stoppen, bevor der „Sieg“ erreicht wäre. Ihre Rhetorik trage zur | |
Entmenschlichung von Palästinensern und zur Geringschätzung des | |
Völkerrechts bei, sagt Krieg. Moderate Israelis würden dem oft wenig | |
entgegensetzen, auch bei ihnen herrsche spätestens seit dem 7. Oktober | |
extreme Empathielosigkeit gegenüber Palästinensern. | |
„All das ist nicht neu“, sagt Max Kresch auf dem Platz der Geiseln in Tel | |
Aviv. Er habe sich während seiner Reservedienste vor dem Krieg als „Stimme | |
der Vernunft“ gesehen, etwa bei Einsätzen im Westjordanland. „Ich habe | |
nicht erst nach dem 7. Oktober das erste Mal jemand von ‚menschlichen | |
Tieren‘ sprechen hören, wenn es um Palästinenser ging“, sagt Kresch. | |
Einmal, bei einem Einsatz vor zweieinhalb Jahren, holt seine Einheit | |
festgenommene Palästinenser aus Ramallah ab. Die Männer sind gefesselt und | |
tragen Augenbinden: „Wir wussten nicht, was sie getan hatten.“ Als Kresch | |
einen der Gefangenen im Transporter umsetzt, weil ihm Wasser aus der | |
Klimaanlage auf den Kopf läuft, fragt ihn einer der anderen Soldaten | |
verwundert, warum er „dieses Tier“ so menschlich behandelt. | |
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Briefs hat Kresch das Militär am | |
Telefon. „Sie haben angefangen, mich und die anderen anzurufen“, sagt er. | |
Er sei gefragt worden, ob er seine Entscheidung zurücknehmen wolle, | |
andererseits könne es Konsequenzen haben. Manche habe das verunsichert. Ins | |
Gefängnis sei bisher aber niemand gekommen, die Regierung wolle wohl nicht | |
noch zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit generieren, vermutet Kresch. | |
Minister und Rechte hätten sie „erwartbar“ als Verräter beschimpft. Darü… | |
hinaus aber sei ihnen viel Verständnis entgegengebracht worden. Kresch | |
ermutigt das: „Nicht nur wir haben das Gefühl, dass mit der Ablehnung eines | |
Waffenstillstands und der Rückkehr der Geiseln ein Versprechen zwischen der | |
Regierung und den Menschen zerbrochen ist.“ Er habe dem Anrufer von der | |
Armee gesagt, „dass sie uns ernst nehmen müssen und dass wir nur die Spitze | |
des Eisberges sind“. Denn gefährlicher als jeder Gegner von außen seien | |
Soldaten, die nicht mehr wüssten, wofür sie kämpfen. | |
25 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Folgen-des-7-Oktobers/!6041417 | |
[2] /Radikale-Plaene-in-Israel/!6041444 | |
[3] /Journalist-stirbt-mit-27-Jahren/!6024253 | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Gaza | |
Westjordanland | |
Libanon | |
Benjamin Netanjahu | |
GNS | |
GNS | |
Doku | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Soziale Gerechtigkeit | |
Palästinenser | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Israel | |
Israel | |
Hamas | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Online-Doku „Israelism“: Langsamer Abschied | |
Junge Juden in den USA verlieren ihre Verbundenheit zu Israel. Die | |
englischsprachige Dokumentation „Israelism“ begleitet einige von ihnen. | |
Gespräche in Israel über Waffenruhe: Größere Chance auf Annexion als auf Fr… | |
US-Vermittler Amos Hochstein reist für Friedensgespräche nach Tel Aviv. | |
Zeitgleich votieren die USA im Sicherheitsrat gegen eine Waffenruhe in | |
Gaza. | |
Krieg im Nahen Osten: Das Personal wächst nach | |
Die Tötung der Anführer der Hamas und der Hisbollah beendet nicht den Krieg | |
im Nahen Osten. Das schaffen nur veränderte politische Bedingungen. | |
Ex-Chefinnen der Grünen Jugend: „Wir dachten, wir könnten zu gesellschaftli… | |
Die ehemaligen Chefinnen der Grünen Jugend rechnen mit der Partei ab. Die | |
Abtrünnigen planen jetzt einen Kongress – und kostenlose Nachhilfe für | |
Arme. | |
Siedlungsbau im Westjordanland: Zwischen den Fronten | |
Im Westjordanland kämpfen christliche Palästinenser*innen dagegen, | |
dass ihr Land enteignet wird. Ein Besuch bei Familien, die bleiben wollen. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Israel attackiert Ziele im Iran | |
Einen Monat nach den Raketenangriffen des Iran hat Israel zum Gegenschlag | |
ausgeholt. Vor allem Militäranlagen wurden getroffen. Zwei iranische | |
Soldaten sollen dabei getötet worden sein. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Drei TV-Journalisten bei israelischem A… | |
Bei einem Luftangriff im Libanon sind laut Staatsmedien drei Journalisten | |
getötet worden. EU-Ratschef erwartet Debatte über Israel-Sanktionen. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Libanon-Konferenz sagt eine Milliarde D… | |
Die internationale Konferenz in Paris verspricht dem Libanon humanitäre | |
Hilfe, aber auch militärische zum Ausbau der Streitkräfte. Welthungerhilfe: | |
„apokalyptische Zustände“ in Gaza. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Israel greift libanesische Küstenstadt… | |
Israel hat die Tötung des potenziellen Nasrallah-Nachfolgers Haschem | |
Safieddin in Beirut bestätigt. Die Hisbollah feuert weiter Raketen auf den | |
Großraum Tel Aviv. Bundesaußenministerin Baerbock ist im Libanon | |
eingetroffen. | |
Folgen des 7. Oktobers: Das Leid der Überlebenden | |
Viele Besucher*innen des Nova-Festivals leiden unter psychischen | |
Problemen. Nun macht die erste Familie den Suizid einer Überlebenden | |
öffentlich. |