# taz.de -- Ex-Chefinnen der Grünen Jugend: „Wir dachten, wir könnten zu ge… | |
> Die ehemaligen Chefinnen der Grünen Jugend rechnen mit der Partei ab. Die | |
> Abtrünnigen planen jetzt einen Kongress – und kostenlose Nachhilfe für | |
> Arme. | |
Bild: Svenja Appuhn (l.) und Katharina Stolla | |
taz: Frau Appuhn, Frau Stolla, seit einer Woche sind [1][Ihre | |
Nachfolger*innen an der Spitze der Grünen Jugend im Amt]. Ihre Zeit bei | |
den Grünen ist endgültig vorbei. Wie war der Abschied? | |
Svenja Appuhn: Bewegend und traurig. Man tritt ja nicht jeden Tag aus | |
seiner Partei aus. Wir waren beide sehr lang Mitglied und haben in der | |
Grünen Jugend politisch laufen gelernt. Aber wir haben uns den Schritt gut | |
überlegt und sind jetzt gespannt auf das nächste Kapitel. | |
taz: Gab es ein Abschlussgespräch mit Robert Habeck? | |
Katharina Stolla: Wir haben ihn über unseren Schritt informiert [2][und uns | |
verabschiedet]. | |
taz: Wann fiel Ihre Entscheidung, mit den Grünen zu brechen? | |
Stolla: Final in den letzten Wochen. Der Entfremdungsprozess dauerte aber | |
schon länger. | |
Appuhn: Wir haben beobachtet, dass die Partei einen zunehmend konservativen | |
Kurs fährt. Wir haben nicht mehr gesehen, dass sie die Ambition hat, die | |
Gesellschaft so grundsätzlich zu verändern, wie wir das für nötig halten. | |
Und wir haben immer stärker daran gezweifelt, dass wir sie zu diesen | |
Veränderungen treiben können. | |
taz: Gab es einen entscheidenden Anlass? | |
Appuhn: Es gab nicht den einen Anlass, sondern mehrere Erlebnisse. Eines | |
war die Bundesdelegiertenkonferenz im letzten Herbst. Wir hatten beantragt, | |
dass es [3][keine weiteren Asylrechtsverschärfungen] geben soll. Robert | |
Habeck hat in seiner Gegenrede den Delegierten die Pistole auf die Brust | |
gehalten und gesagt: Die Grüne Jugend will, dass wir aus der Regierung | |
rausgehen. Dann waren die Mehrheiten sehr schnell klar. | |
taz: Im Rechtsruck sehen Sie die Grünen als Teil des Problems statt als | |
Teil der Lösung? | |
Appuhn: Einerseits sind die Grünen Leidtragende des Rechtsrucks. Sie | |
erleben enorme Anfeindungen. Andererseits haben sie keine Gegenstrategie, | |
lassen sich von Rechts treiben und tragen in der Ampel [4][rechte | |
Migrationspolitik mit]. Aber weshalb kann die Regierung denn so getrieben | |
werden? Weil viele Menschen unter den Krisen leiden und enorme | |
Abstiegsängste haben. Die Rechten sind gerade sehr gut darin, die | |
allgemeine Unzufriedenheit in Stimmung [5][gegen Minderheiten umzuleiten]. | |
Stolla: Die Frage ist, wie man als politische Kraft nicht am Gegenwind | |
verzweifelt, sondern sich selbst wieder Rückenwind organisiert. Man muss | |
den Menschen das Gefühl geben, dass man konsequent an ihrer Seite steht. | |
Und dafür muss man die soziale Frage in den Fokus nehmen, statt sie als | |
eine von vielen zu behandeln und sie deshalb immer wieder hinten runter | |
fallen zu lassen. | |
taz: In den grünen Programmdebatten und der Analyse der letzten | |
Wahlniederlagen spielen soziale Fragen doch eine große Rolle. | |
Appuhn: Das beste Programm der Welt bringt nichts, wenn es nicht umgesetzt | |
wird. | |
Stolla: Gerade bei sozialen Fragen ziehen die Grünen immer wieder den Kopf | |
ein, wenn es hart auf hart kommt und man sich wirklich mit den Interessen | |
der Reichen anlegen müsste – etwa beim Lieferkettengesetz oder der | |
Begrenzung von Mieten. Die Partei ist nicht in der Lage, solche Konflikte | |
zu führen. | |
taz: Warum sind die Grünen Ihrer Ansicht nach so konfliktscheu? | |
Appuhn: Das kann man zum Beispiel an ihrer Wahlwerbung festmachen. In den | |
Spots packen sich der Unternehmer, die Krankenschwester und der Müllmann an | |
den Händen und bringen das Land gemeinsam voran. Natürlich will ich auch, | |
dass alle eine gute Zukunft haben. Aber die Grünen verkennen, dass es | |
handfeste Klassengegensätze gibt. | |
Stolla: Es gibt in der grünen Partei kein breit geteiltes Bewusstsein | |
dafür, klar auf der Seite der Lohnabhängigen zu stehen. | |
taz: Nicht alle gesellschaftlichen Konflikte lassen sich mit | |
Klassengegensätzen erklären. Die grüne Kompromissbereitschaft kann also | |
auch nicht nur mit einem fehlenden Klassenbewusstsein zu tun haben. | |
Stolla: Was die Grünen stark charakterisiert: Sie denken Veränderungen vor | |
allem übers Regieren. Daher geht es ihnen immer darum, [6][an der Regierung | |
zu bleiben] oder schnellstmöglich wieder in die Regierung zu kommen, und | |
deshalb tragen sie ständig Kompromisse mit, die sie selber schlecht finden. | |
Diese Strategie kann nicht aufgehen. Macht hat man doch dann, wenn man die | |
gesellschaftlichen Mehrheiten verschieben kann. | |
Appuhn: Die Entwicklung der Grünen ist ja auch spannend: Sie waren mal | |
extrem staatskritisch. Jetzt wünscht man sich, Angela Merkel zu ersetzen. | |
taz: Bewirkt der linke Flügel der Partei Ihrer Ansicht nach denn nichts? | |
Appuhn: Er nimmt immer wieder Anlauf zum Aufstand. Aber dann werden kleine | |
Verbesserungen verhandelt und obwohl man das Ergebnis immer noch für falsch | |
hält, wird der Aufstand in letzter Minute abgeblasen. Besonders in | |
Erinnerung bleibt der Länderrat vor eineinhalb Jahren, als es um die | |
Zustimmung zu den europäischen Asylrechtsverschärfungen ging. Gemeinsam mit | |
dem linken Flügel wollten wir die Zustimmung hart an bestimmte Kriterien | |
binden. Er hat aber im letzten Moment zurückgezogen – und wir standen | |
alleine da. | |
taz: Dass Sie mit den Grünen in der Ampel keine klassenlose Gesellschaft | |
erkämpfen werden, hätte Ihnen schon früher klar sein können. War es ein | |
Fehler, [7][vor einem Jahr überhaupt für die Spitze der Grünen Jugend zu | |
kandidieren]? | |
Stolla: Nein. Die Ampel reagiert auf Druck und wir dachten, wir könnten mit | |
der Grünen Jugend zu gesellschaftlichem Druck beitragen. | |
Appuhn: Stattdessen haben wir uns aber ständig mit verschränkten Armen vor | |
dem Bundestag wiedergefunden, weil die Regierung mal wieder etwas | |
beschlossen hat, was wir falsch finden. Man ist empört und bekommt dafür | |
viel Öffentlichkeit, aber es ändert sich nichts. Schlimm wird es dann, wenn | |
die vormals linken Köpfe in der Partei zunehmend assimiliert werden und | |
irgendwann die Politik verteidigen, die sie früher kritisiert hätten. So | |
wird Linkssein zur Jugendsünde. Aus dieser Dynamik wollten wir raus. | |
taz: Aus der Grünen Jugend gab es zum Abschied viel Kritik an Ihnen. Sie | |
hätten die Mitglieder hintergangen und die Verbandsstrukturen ausgenutzt. | |
Stolla: Ich verstehe, dass es Frust gibt. Uns ist wichtig: Unser neuer | |
Verband ist noch nicht gegründet und es sind auch keine Ressourcen der | |
Grünen Jugend in das Projekt geflossen. | |
taz: Ein weiterer Kritikpunkt: Sie hätten zu viel Zeit im Marx-Lesekreis | |
verbracht und zu wenig in der politischen Praxis. | |
Appuhn: Man sollte Theorie und Praxis nicht gegeneinander ausspielen. Wer | |
die Welt verändern will, muss sie verstehen. Und wenn man sich anschaut, | |
wie die Vermögensverteilung derzeit global auseinandergeht, schadet es | |
nicht, Marx zu lesen. Auf der Straße waren wir trotzdem: Wir haben uns | |
aktiv an einer Kampagne mit Verdi und Fridays For Future beteiligt. Wir | |
waren in ganz Deutschland auf Betriebshöfen unterwegs, haben versucht, mit | |
Busfahrerinnen und Busfahrern für bessere Arbeitsbedingungen und einen | |
Ausbau des ÖPNV zu streiten. In unserer Kampagne zur Europawahl sind wir | |
explizit in Stadtteile gefahren, in denen Parteien normalerweise nicht ihre | |
Zelte aufbauen. | |
taz: [8][Sie gründen jetzt einen neuen Jugendverband]. Was genau haben Sie | |
vor? | |
Appuhn: Wir wollen all die jungen Menschen erreichen, die zu Recht das | |
Gefühl haben, dass sich niemand um sie kümmert. Denkbar sind | |
Beratungsangebote für Menschen, die vom Vermieter abgezockt werden oder | |
kostenlose Lernangebote für diejenigen, die kein Geld für Nachhilfe haben. | |
Wir wollen das nicht einfach als Charity-Projekt machen. Wo der Staat | |
versagt, wollen wir unsere Arbeit mit Kampagnen verbinden und Druck auf die | |
Politik ausüben. | |
taz: Die KPÖ, bei der sich ehemalige österreichische Jung-Grüne engagieren, | |
fährt ein ähnliches Konzept – ist damit aber gerade bei der | |
Nationalratswahl gescheitert. | |
Stolla: Bei der KPÖ läuft viel über lokale Verankerung und langfristigen | |
Aufbau. Dort, wo das funktioniert, hat sie sehr starke Wahlergebnisse. Die | |
Menschen haben das Gefühl: Da ist eine Partei wirklich für mich da. | |
taz: Schließen Sie sich der Linkspartei an? Oder warten Sie ab, um nicht | |
mit ihr unterzugehen? | |
Appuhn: Wir machen erst mal das, was wir können, nämlich eine | |
Jugendorganisation. Wir wollen ausprobieren, was überhaupt funktioniert. | |
taz: Die Linkspartei ist Ihnen inhaltlich sehr nahe – und steht vor dem | |
Abgrund. Vielleicht gibt es in Deutschland doch kein Potenzial für Ihre | |
Forderungen. | |
Appuhn: Für bezahlbaren Wohnraum, eine gute Gesundheitsversorgung und eine | |
gerechtere Vermögensverteilung gibt es riesige Mehrheiten. Sie sind nur | |
nicht organisiert. Ein Problem der gesellschaftlichen Linken insgesamt ist, | |
dass es in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Abwendung von sozialen | |
Fragen gab – und eine starke Hinwendung zu kulturellen und | |
Antidiskriminierungs-Fragen. Dabei ist passiert, was gar nicht hätte | |
passieren müssen: Das Verbindende ging verloren. Menschen haben Linke immer | |
weniger als diejenigen erlebt, die sich um ihre Lebenssituation sorgen und | |
mehr als diejenigen, die ihnen sagen, wie sie zu reden und zu denken haben. | |
Das muss sich ändern. | |
taz: So lange man sich für soziale Fragen interessiert, darf man in Ihrem | |
Verband auch das N-Wort sagen? | |
Stolla: Es geht darum, wie man mit Menschen umgeht, die bestimmte | |
Verhaltensweisen nicht gelernt haben. Wehrt man sie reflexhaft ab oder hört | |
man Ihnen zu? Als ich zu den Grünen gekommen bin, war eine der ersten | |
Sachen, die ich gelernt habe, wie man richtig gendert. Ich finde es | |
vollkommen in Ordnung, wenn Leute das nicht können. Das heißt ja nicht, | |
dass sie queerfeindlich sind. | |
taz: Sie reden viel über Klassenpolitik. Ist das Klima zweitrangig? | |
Appuhn: Es gibt eine total arrogante Debatte, die den Menschen unterstellt, | |
sie [9][wollten keinen Klimaschutz]. Aber jede Studie widerlegt das. Eine | |
Krankenschwester, die im Sommer bei über 30 Grad in einem nicht | |
klimatisierten Krankenhaus arbeitet, weiß genau, was der Klimawandel | |
bedeutet. Das Problem ist, dass in der Klimapolitik in den letzten Jahren | |
immer mehr gesagt wurde: Man muss den Leuten was zumuten. Aber wem mutet | |
man die Lasten denn zu? In einer Klimapolitik, die nicht vorher die | |
Verteilungsfrage klärt, zahlt die breite Bevölkerung statt der Reichen und | |
der großen Verschmutzer. Das wollen die Leute nicht. | |
taz: Erst müssen wir die sozialen Fragen klären und dann klappt alles | |
andere schon – ist das nicht etwas zu einfach gedacht? | |
Stolla: Es geht nicht um die Reihenfolge. | |
Appuhn: Die soziale und die ökologische Frage sind doch untrennbar | |
miteinander verknüpft. Ein Beispiel: Handy-Hersteller programmieren ihre | |
Geräte so, dass sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr funktionieren und | |
neu gekauft werden müssen. Das ist schlecht für die Umwelt und für den | |
Geldbeutel. In der Logik dieses Wirtschaftssystems ist es für das | |
Unternehmen aber sehr rational, so zu handeln. Das ist doch irre. | |
taz: Sie wollen also den Kapitalismus überwinden. | |
Appuhn: Ist doch eine gute Idee. | |
taz: Etliche linke Strukturen und auch die Linkspartei zerlegen sich gerade | |
wegen des Nahost-Konflikts. Wie gehen Sie damit um? | |
Appuhn: Wir haben im vergangenen Jahr in der Grünen Jugend Positionen | |
gefunden, die ich persönlich immer noch vertrete: Ich bin für die sofortige | |
Freilassung der Geiseln, für einen Waffenstillstand und für eine Aussetzung | |
der Waffenlieferungen. Aber Außenpolitik wird nicht der Fokus dieser | |
Organisation sein. | |
taz: Haben Sie einen konkreten Zeitplan für Ihr Projekt? | |
Stolla: Auf unserer Internetseite haben sich mehr als 4.000 Interessierte | |
gemeldet. In den nächsten Wochen wollen wir so richtig loslegen. Es wird | |
eine Konferenz geben und zeitnah auch erste Treffen und Aktionen. | |
taz: Gibt es schon einen Namen? Beim aktuellen Arbeitstitel wird es wohl | |
kaum bleiben? | |
Appuhn (lacht): Gefällt Ihnen „Zeit für was Neues 2024“ nicht? | |
taz: Geht so. | |
Appuhn: Danke für das Feedback. Der Verband ist noch nicht gegründet. | |
Insofern hat er auch noch keinen Namen. | |
taz: Und von welchem Geld machen Sie das alles? | |
Stolla: Wir haben in dieser Woche eine Spendenkampagne gestartet, denn wir | |
haben erst mal kein Geld. | |
Appuhn: Vom Standard her wird es jedenfalls ein Bruch. Wir werden in | |
nächster Zeit viel Regionalexpress fahren. Die Zeit der ICE-Tickets ist | |
vorbei. | |
27 Oct 2024 | |
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