| # taz.de -- Theaterstück „Orestie I–IV“ in Hamburg: Antike als Tiktok-Fe… | |
| > Nicolas Stemann mischt am Hamburger Thalia Theater antike Dramen mit viel | |
| > Pop. Das ist sehr unterhaltsam, aber Inhalte gehen im Theaterzauber | |
| > unter. | |
| Bild: Immer was los auf der Bühne: Die Inszenierung nutzt oft geschickt viele … | |
| Antiken-Marathon, das klingt gefährlich, nach langwieriger Sitzfleisch- und | |
| Hirnmasse-Belastung für Theater-Kenner:innen, über die man danach noch ewig | |
| diskutieren muss. Auch [1][Nicolas Stemanns] Ambitionen für seine knapp | |
| vierstündige Adaption der antiken Orest-Tragödien des Aischylos klingen | |
| bedrohlich: „Die 2.500 Jahre alte Trilogie beschreibt die psychische | |
| Grundstruktur, die Menschen dazu bringt, sich in Kriege zu begeben“, | |
| informiert er im dicken Buch, das [2][im Hamburger Thalia-Theater] verteilt | |
| wird, über den Anspruch seiner „Orestie I–IV“. | |
| Denn ja, Stemann hat den Text selbst geschrieben, sich dabei außer bei | |
| Aischylos’ drei Tragödien noch querbeet bei Sophokles und Euripides bedient | |
| und dem Ganzen noch einen vierten Teil hinzugefügt. | |
| Erzählt wird dennoch wieder die blutige Geschichte des Atridengeschlechts, | |
| in der Mord auf Mord folgt: Agamemnon, Anführer der Griechen im | |
| Trojanischen Krieg, wird von seiner Ehefrau Klytaimnestra bei der Heimkehr | |
| ermordet. Danach geht es um die Vergeltung durch Orest und den Versuch, den | |
| Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. | |
| Außerdem, verspricht das Buch zum Stück, soll es um die Darstellbarkeit von | |
| Krieg gehen, um Gerechtigkeit sowie um die Gefährdung der Demokratie. | |
| Stemann wertet seine Produktion als Versuch, die Gewaltzusammenhänge für | |
| ein zeitgenössisches Publikum greifbar zu machen, das in der Nähe von | |
| lauter Kriegen lebt, die es aber nur indirekt erlebt. Na dann. | |
| ## Wacker gegen vereinfachte Sprache | |
| Am Ende ist man erstaunt, wie leichtfüßig der Abend die großen Fragen | |
| verhandelt und wie kurzweilig er ist. Die Bühne ist minimalistisch, aber | |
| wirkungsvoll: Ein paar Tische, etwas Technik und eine Schiebetreppe – | |
| fertig ist der Olymp. | |
| Das Ensemble ist nicht nur hochkarätig – Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, | |
| Patrycia Ziolkowska, Julia Riedler und Sebastian Zimmler –, sondern wuselt, | |
| klettert und tanzt auch großartig spielfreudig herum. Dabei kämpft es | |
| wacker mit der vereinfachten Sprache, die Stemann den Figuren in den Mund | |
| legt. | |
| Immerzu passiert irgendwo etwas. Wände werden zu Leinwänden, über die | |
| plakative Kriegsbilder flimmern oder Aufnahmen davon, wie sich die | |
| Schauspieler:innen selbst filmen, als würden sie Instagram-Stories | |
| produzieren, die Gesichter mit niedlichen oder gruseligen Filtern verzerrt. | |
| Plötzlich tauchen KI-Köpfe auf. Am Ende hat man ein bisschen das Gefühl, | |
| als habe man gerade einen Tiktok-Feed der „Sendung mit der Maus“ | |
| aufgerufen, der bildungsbürgerlich, aber voll zeitgemäß griechische Dramen | |
| kindgerecht erklärt. | |
| ## Multimediales Spektakel | |
| Das ist oft unterhaltsam und manchmal brillant: So beeindruckt die | |
| Transformation der Blutrache in rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit in ihrer | |
| Schilderung durch Aischylos als utopischer Traum vor dem Hintergrund einer | |
| grausamen politischen Realität. Stemann nutzt alle ihm zur Verfügung | |
| stehenden inszenatorischen Mittel, um diesen Prozess zu visualisieren: | |
| Musik, Gesang, Videokultur und KI-Intermezzi verschmelzen zu einem | |
| multimedialen Spektakel. | |
| Aber nicht immer gelingt die Vermischung von Hochkultur und Pop: Wenn die | |
| Erinnyen, also die antiken Rachegöttinnen, plötzlich wie eine Boygroup | |
| performen, ist das ein bisschen peinlich. | |
| Leider gehen am Ende all die gar nicht uninteressanten aktuellen Bezüge zum | |
| Klimawandel oder der Gefahr von rechts, die Stemann in den antiken Text | |
| einwebt, in einer Flut von popkulturellen Anspielungen, | |
| Reality-TV-Elementen und Theaterzauberei unter. So wirkt das Ganze als | |
| beleuchte man einen antiken Tempel mal mit Neonröhren: interessant, aber | |
| irgendwie deplatziert. | |
| 22 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Theaterdebatte-in-der-Deutschschweiz/!5911087 | |
| [2] https://www.thalia-theater.de/stueck/orestie-i-iv-2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
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