# taz.de -- Reaction Videos auf Reality TV: Betreutes Gucken | |
> Viele schauen Trash-TV nur noch begleitet auf YouTube. Reaction-Videos | |
> sind teils erfolgreicher als das Original – und manche bieten sogar | |
> feministische Analysen. | |
Bild: Lässt sich gut analysieren: Stella und Devin knutschen bei „Die Bachel… | |
Dates auf Jetskis, Dates beim Cocktail, Dates mit Bungeejumping und | |
Tauchkursen – all das am Strand einer Insel in Südostasien, überall Kameras | |
und Mikrofone, die wirklich alles aufzeichnen. Willkommen im „wunderschönen | |
Thailand“, Staffel 11, Folge 1, „die Bachelorette“. Zwanzig Kandidat*inne… | |
erstmals sowohl Männer als auch Frauen, konkurrieren um eine Beziehung mit | |
der bisexuellen Bachelorette Stella. Jede Folge fliegt jemand raus, es | |
heißt ja nicht umsonst „Trash TV“. | |
Für viele Zuschauer*innen findet dieses Guilty Pleasure nur noch | |
begleitet statt. Denn immer mehr Content Creator*innen machen aus den | |
Sendungen eigene Videos für ein ganz neues Publikum. Eine von ihnen heißt | |
Silvi Carlsson. Ihre Analysen der letzten Staffel von „Die Bachelorette“ | |
von RTL+ haben durchschnittlich etwa 150.000 Klicks und dauern knapp eine | |
Dreiviertelstunde, also fast so lang wie eine Folge der Sendung selbst. | |
„Hallo Freund*innen des guten Geschmacks“, grüßt sie ihre | |
Zuschauer*innen, bevor sie sich tief in eine Folge [1][Trash-TV] eingräbt. | |
Carlsson sitzt in ihrem warm ausgeleuchteten Wohnzimmer nah an der Kamera. | |
Im Hintergrund glimmt eine Lavalampe, eine Bi-Pride-Flagge verdeckt das | |
Fenster. Während sie spricht, schläft eine ihrer Katzen im Körbchen in der | |
Ecke. Alles ist pastellfarben, die Stimmung gemütlich.„Geht’s | |
heterosexuellen Frauen gut?“, fragt sie in ihrer Besprechung der letzten | |
Staffel von „Die Bachelorette“. Die Frage ist berechtigt: Die männlichen | |
Kandidaten geben in diesem Zusammenschnitt allerhand Unangenehmes von sich, | |
sprechen ungefiltert über ihre Vorstellungen von Beziehungen und über ihr | |
Frauenbild. Sie erklären zum Beispiel, warum sie ihrer Freundin zwar | |
erlauben würden, mit einer anderen Frau zu schlafen, aber niemals mit einem | |
Mann. Sie sagen Dinge wie „Also ich bin schon sehr besitzorientiert“ oder | |
„Im Bett zählt eine andere Größe, haha“ und zwinkern dabei in die Kamera. | |
[2][Ganz normal im Reality-TV]. | |
Carlsson ist nicht die einzige, die Content aus solchen Sendungen macht. In | |
den sozialen Medien sind Nachbesprechungen ein eigenes Genre mit einer | |
beachtlichen Reichweite. Rund 500.000 Mal wurden die Videos der drei | |
größten Kommentator*innen von „Die Bachelorette“ zur Finalfolge | |
aufgerufen. Im linearen Fernsehen verzeichnete die Sendung zuletzt sinkende | |
Einschaltquoten, inzwischen gibt es sie nur noch beim bezahlpflichtigen | |
Streamingdienst RTL+. Dort haben laut RTL nur etwa 200.000 Menschen die | |
ganze Folge gesehen. | |
## Vielfältige Perspektiven | |
Unter den Content Creator*innen gibt es eigene Stars, die in der | |
Reality-TV-Blase berühmter sind als jene, die in der Sendung auftreten. Sie | |
heißen Annikazion, La Polcevita, Calvin Kleinen oder Die Trashologinnen, | |
sind auf Youtube, als Podcast, auf Instagram und Tiktok unterwegs. Sie | |
interpretieren, analysieren, sprechen direkt mit ihren Zuschauer*innen, | |
reagieren auf deren Kommentare zu vorherigen Videos. Die Perspektiven sind | |
so vielfältig, dass sich jede*r den/die passende Kommentator*in für | |
seine/ihre Lieblings-Trash-Sendung suchen kann. Manche Creator*innen | |
beschränken sich auf Sendungen mit queeren Protagonist*innen, andere auf | |
besonders skandalöse Folgen. Andere wiederum kommentieren alles, was sie | |
finden können. | |
In den Shows geben die Protagonist*innen die Kontrolle darüber ab, was | |
von ihnen gezeigt wird. Die Kameras sind möglichst unsichtbar, die | |
Mikrofone der Teilnehmer*innen dürfen nie abgelegt werden. Die | |
Zuschauer*innen werden zum „Big Brother“ und schauen einer Inszenierung | |
der Fernsehsender zu, in der Szenen oft so zusammengeschnitten werden, dass | |
die Unterhaltungen dramatischer scheinen, als sie sind. Die | |
Creator*innen haben wiederum die Kontrolle darüber, welche dieser Szenen | |
sie für ihre Analyse auswählen, können den Fokus passend zu ihrer | |
Interpretation noch mal verschieben. | |
## Feministische Analysen | |
Carlsson hat sich auf „feministische Analysen“ spezialisiert. „Ich will, | |
dass vor allem Frauen das sehen und wissen, welche Verhaltensweisen | |
angewandt werden, um Frauen in die Irre zu führen“, sagt sie. In ihren | |
Besprechungen will sie also aufzeigen, wenn in den Shows diskriminiert | |
wird, wenn die Protagonist*innen oder die Produktion sich problematisch | |
verhalten. Das passiert oft. Zugleich sind die Videos unterhaltsam. | |
Reality-TV produziert viele hochkomische Momente mit Vorlagen für genug | |
Insiderwitze, um eine komplette Community am Leben zu halten. Durch die | |
Auswahl der wichtigsten Szenen wird die Handlung in der Nachbesprechung | |
dichter als in den Folgen, die oft stark gestreckt wirken. | |
In ihren Analysen durchbricht Carlsson das, was in den | |
[3][Trash-TV-Formaten] als Normalität gilt: das ständige Wiederholen von | |
sexistischen Klischees für neues Drama. Wie eine Schiedsrichterin stellt | |
sie dem Inhalt, der betont unernst verkauft wird, ernste Fragen. Hat sich | |
ein*e Kandidat*in übergriffig verhalten? War das gerade rassistisch? | |
Sexistisch? In ihren Besprechungen gibt es Content-Warnungen vor besonders | |
problematischen Szenen. Die Sprache, die Carlsson nutzt, ist radikal anders | |
als in den Sendungen: Sie sagt „Ableismus“, „Strukturproblem“, „Misog… | |
oder „Neurodivergenz“. | |
Die Sender sind mit den Creator*innen eine Art Symbiose eingegangen. Sie | |
arbeiten mit ihnen zusammen, erlauben ihnen etwa, einen Anteil der Sendung | |
für ihren Inhalt zu nutzen. Denn da die Reaction-Videos im Gegensatz zu den | |
zahlungspflichtigen Inhalten der Sender meist kostenfrei zu sehen sind, | |
dienen sie als Werbung und bringen neue, besonders involvierte | |
Zuschauer*innen. | |
## „Nur als Reaction erträglich“ | |
Für viele von ihnen findet Reality-TV nur noch als Meta-Fernsehen statt. | |
Sie schauen ausschließlich die Analysen der Creator*innen, das zeigen die | |
Kommentare unter den Videos: „dieses format ist echt nur als reaction von | |
dir erträglich“, „Boar, ich bin so froh hier ‚betreutes gucken‘ zu hab… | |
alleine würde ich das nie aushalten. Uuufffffff“ oder „Wie bin ich froh, | |
dass du dieses Format kommentierst! Ich wollt es so gern gucken, aber ohne | |
seelischen Beistand … no Chance! Danke, dass du uns da durch begleitest.“ | |
In den Kommentarspalten finden sich viele Menschen, die einander in ihrem | |
Blick auf die Welt ähneln. Ihre Rezeption der Sendung ist interaktiv, hier | |
diskutieren sie weiter. Carlsson selbst vermutet, dass ihre Community ihre | |
Videos unter anderem schaut, um sich des eigenen Wertesystems zu | |
versichern. Denn beim Reality-TV treffen Menschen mit sehr verschiedenen | |
Überzeugungen und Prägungen oft konfliktreich aufeinander. In der | |
künstlichen Welt der Reality-Sendungen verhandeln die Kandidat*innen | |
Grenzen, unakzeptables Verhalten, Alltagssexismus. Für ihre | |
Zuschauer*innen sei es einfacher zu ertragen, solche Szenen gebrochen | |
und kommentiert zu sehen, glaubt Carlsson: „Es tut gut, jemanden dazwischen | |
zu haben, der sozusagen den Druck rausnimmt“. Wie Klatsch in vielen | |
Freundschaften als Klebstoff dient, entstehen so eingeschworene | |
Trash-TV-Safe-Spaces. | |
21 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Luisa Faust | |
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