| # taz.de -- Netflix-Show „Love is Blind: Germany“: Zu viel Fremdscham | |
| > Die wahrscheinlich beste Show „Love is Blind“ hat einen deutschen | |
| > Ableger, der nicht überzeugt. Wieso ist Reality-TV hierzulande eigentlich | |
| > so cringe? | |
| Bild: Verloben, ohne sich zu sehen: Sind die Deutschen zu rational für so ein … | |
| Eigentlich ist alles genau gleich. Das Setting (Frauen und Männer daten | |
| sich in sogenannten Pods, in denen sie sich nicht sehen, sondern nur hören | |
| können), das Konzept („Blind“ Dates, gefolgt von Verlobung, erstem | |
| gemeinsamen Urlaub, Zusammenziehen, Hochzeit – und das innerhalb von vier | |
| Wochen) und die Dramen (einer kann sich nicht zwischen zwei Frauen | |
| entscheiden, bei der anderen sind die Eltern entsetzt über eine so schnelle | |
| Hochzeit, durch das Daten der gleichen Männer werden frische | |
| Freund*innenschaften auf die Probe gestellt). | |
| Der deutsche Ableger [1][von „Love ist Blind“ funktioniert genau wie die | |
| US-amerikanische Version]. Doch obwohl das Original für mich die | |
| wahrscheinlich beste Dating-Show ist, überzeugt die deutsche Kopie gar | |
| nicht. Woran liegt das? | |
| Grundsätzlich schafft gutes Reality-TV die perfekte Balance zwischen | |
| Identifikation und Fremdscham. Ich fühle mit den Kandidat*innen, wenn | |
| sie beim Dating betrogen werden oder weine vor Rührung, wenn sie sich am | |
| Ende doch das Ja-Wort geben. Doch wenn sie etwas wirklich Peinliches sagen | |
| oder tun, kann ich mir einreden, dass das alles nichts mit mir zu tun hat. | |
| Deutschen Reality-TV-Shows gelingt diese Balance nicht. Sie verharren im | |
| Fremdscham-Modus. Egal ob „Der Bachelor“, „Love Island“ oder „Too Hot… | |
| Handle“: Alles, was die Kandidat*innen von sich geben, ist peinlich. | |
| Alles, was sie tun, nicht nachvollziehbar. Eine der wenigen Ausnahmen ist | |
| für mich [2][die lesbische Datingshow „Princess Charming“], die es schafft, | |
| mich emotional zu berühren. Doch wieso gelingt das deutschen | |
| Dating-Formaten so selten? Oder ist gar nicht das deutsche Fernsehen das | |
| Problem, sondern vielmehr ich? | |
| Der größte Unterschied zwischen der US-amerikanischen und der deutschen | |
| Netflixshow sind die Kandidat*innen. In den USA kommen die Männer und | |
| Frauen aus verschiedenen Milieus, sind mal reicher oder ärmer, mal | |
| religiös, mal linksliberal, mal konservativ – doch sie eint, dass sie | |
| bereit sind, alles zu geben. Nach drei Dates „Ich liebe dich“ sagen? Kein | |
| Problem. Nach nur zwei Wochen die Eltern kennenlernen? Aber klar doch. | |
| ## Die Kandidat*innen und ich | |
| In Deutschland ist die Gruppe viel homogener, doch niemand will „all in“ | |
| gehen. Obwohl sich fünf Paare verloben, gesteht sich hier niemand die | |
| Liebe. Und ob sie den oder die Verlobte wirklich den Eltern vorstellen | |
| wollen, steht auch nicht für alle fest. Das klingt zwar alles sehr | |
| vernünftig und nachvollziehbar, doch so funktioniert kein gutes Fernsehen. | |
| Dafür braucht es Menschen, die den Mut zu übertriebener Romantik haben. | |
| Doch [3][das Scheitern des deutschen Fernsehens] liegt nicht nur an den | |
| Kandidat*innen, sondern auch an mir. Mir fehlt die Distanz. Ich fühle mich | |
| den Teilnehmer*innen näher – immerhin leben wir im gleichen Land, ich | |
| erkenne ihre Dialekte und kenne ihr Wohnorte, vielleicht sind wir uns sogar | |
| schon einmal über den Weg gelaufen – und fühle umso stärker den Drang, mich | |
| von ihnen zu distanzieren. | |
| Wie, wenn die eigentlich sehr lustige Kandidatin Hanni ihren Verlobten | |
| Daniel im ersten gemeinsamen Urlaub auf Kreta ganz ernsthaft fragt: „Darf | |
| ich alles anziehen, was ich will?“ Es ist nicht so, als würden in den USA | |
| nicht auch ständig patriarchale Muster in den Beziehungen zutage kommen, | |
| doch hier sitze ich vor meinem Fernseher und schreie ihm entgegen: „Geht’s | |
| noch? Du kannst doch nicht deinen Mann fragen, wie du dich kleiden darfst!“ | |
| Ich schäme mich für ihre Frage. | |
| Die Staffel fertig gucken werde ich trotz aller Fremdscham und fehlender | |
| Distanz. Denn auch eine schlechte Kopie von „Love is Blind“ ist noch immer | |
| unterhaltsamer als vieles, was das deutsche Reality-TV ansonsten zu bieten | |
| hat. Und letztlich will ich natürlich wissen, ob Hanni mit Daniel vor den | |
| Altar tritt oder sich am Ende doch noch für Ilias entscheidet. | |
| 6 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carolina Schwarz | |
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