# taz.de -- Theaterdebatte um Zürich: Schweizer Bühnennebel | |
> Das Ende des Modellversuchs im Schauspielhaus Zürich ist vieldeutig. Es | |
> kann auch als Signal für die Verengung von Spielräumen gelesen werden. | |
Bild: Leere Garderobe im Schauspielhaus Zürich | |
Im Schauspielhaus Zürich schmust man selbst nach der Scheidung noch weiter. | |
Zumindest die gemeinsame Pressemitteilung von Verwaltungsrat und | |
künstlerischer Leitung wirkt wie eine Parodie von Wirtschaftssprech und | |
Schweizer Höflichkeit. Von großem Bedauern ist die Rede, von großer | |
Leistung und „künstlerisch hervorragendem Programm“. | |
Wenige Stunden später folgte ein zweites Statement, diesmal allein von den | |
Ko-Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg unterschrieben. Im | |
Text der beiden Deutschen begriff man zwar, dass [1][sie nicht freiwillig | |
vor ihrer letzten Spielzeit stehen und das Schauspielhaus 2024 verlassen | |
müssen]. Woran die Verhandlungen tatsächlich gescheitert sind, außer an der | |
vieldeutigen „betriebswirtschaftlich strategischen Ausrichtung“, erfährt | |
man auch im nachgereichten Text der künstlerischen Leitung nicht. | |
Was man weiß: Die aktuelle Auslastung liegt bei 50 Prozent. Das ist wenig. | |
Aber wichtig sind die verkauften Tickets. Und die fehlen im alten | |
Pfauentheater, der Stammbühne neben zwei weiteren Bühnen in einem anderen | |
Stadtteil, schon lange. Selbst Barbara Frey, die Vorgängerin der aktuellen | |
Intendanz, kam in ihrer letzten Spielzeit im Pfauen nicht über 64 Prozent | |
hinaus. | |
## Viel Vorstellungskraft | |
Keine Seite sagt, weder die Leitung noch der Verwaltungsrat, was wirklich | |
geschah. Alles super, aber es hat leider nicht geklappt, drum heißt es nun | |
Uf Wiederluege. Dieses kommunikative Vakuum wird medial mit viel | |
Vorstellungskraft gefüllt bis hin zu faktischem Unsinn. | |
Die einen sehen sich bestätigt, dass das „House of Wokeness“, wie die NZZ | |
in ihrer Sonntagszeitung im Herbst titelte, in Zürich falsch am Platz sei. | |
Man muss so was nicht begründen, das Wörtchen Woke genügt. Die anderen | |
beklagen sich ähnlich pauschal über die Boomer, die die Schlacht gewonnen | |
hätten, obwohl sich die Stadt die Verjüngung des Publikums und mehr | |
Diversität im Programm explizit gewünscht hatte. Es geht in beiden Fällen | |
um Grundsätze, um Kulturkampf, selten um Anschauung. Und wo es konkret | |
wird, wackeln die Zahlen. | |
Wer eine Presseschau durchliest, braucht starke Nerven. In Schweizer | |
Zeitungen, die fast alle zentral produziert und unter verschiedenen Titeln | |
verteilt werden, ist zu lesen, drei von vier Abonnent:innen hätten | |
gekündigt (Fakt: Nicht 75, sondern 20 Prozent haben ihr Abo vorerst nicht | |
verlängert). Bei der Vorgängerin Barbara Frey, weiß die Kollegin, seien | |
zuletzt 95 Prozent der Plätze verkauft worden (frei erfunden, der | |
Geschäftsbericht dieser Spielzeit ist samt detaillierter Zahlen einsehbar). | |
Eine andere Schreibkraft lancierte Karin Beier vom Schauspielhaus Hamburg | |
als Nachfolgerin, weil die ab 2023 zu haben sei (Beiers Vertrag läuft bis | |
2025 mit Option auf drei weitere Jahre). Die korrekten Zahlen würde man in | |
wenigen Sekunden finden. | |
## Kulturkampf und Medienkrise | |
Die Medienkrise greift härter ein in der Schweiz, die Konzentration der | |
Titel ist höher und der Rechtspopulismus treibt die Redaktionen nicht erst | |
seit zehn Jahren an wie in Deutschland, sondern seit gut dreißig. Das merkt | |
man auch den ehemals linksliberalen Zeitungen an. In einem Interview mit | |
der Süddeutschen Zeitung, das auch im Zürcher Tages-Anzeiger erschien, weiß | |
Harald Schmidt, was im Schauspielhaus Zürich das Problem war: „Nur mit | |
Projekten, Überschreibungen und Wilhelm Tell nach Schiller scheint das | |
nicht funktioniert zu haben.“ Er plädiert für Broadway und das Londoner | |
Westend. | |
Man könnte ob dieser populistischen Reflexe gleich einschlafen. Die | |
Langeweile wird nur kurz von Fakten gestört: Der besagte „Wilhelm Tell“ | |
nach Schiller, inszeniert von [2][Milo Rau], ist der Spitzenreiter der | |
letzten und der laufenden Spielzeit. Auch da würde ein Blick in den | |
Geschäftsbericht genügen. Das ist Kulturkampf von rechts. | |
Dennoch: Die schiefe Berichterstattung ist nicht verantwortlich für das | |
Scheitern dieser Intendanz, sie macht den Abschied allenfalls bitterer. | |
Selbst in der viel geschmähten Neuen Zürcher Zeitung wurden einzelne | |
Inszenierungen bewundert, der Ton der Kritiken war wenig polemisch (im | |
Gegensatz zu manchen Kommentaren). | |
In München bei Matthias Lilienthal und [3][in Berlin bei Chris Dercon], wo | |
vor drei und sechs Jahren die letzten Theaterexperimente abgebrochen | |
wurden, war der Ton deutlich rauer. Die liberale Süddeutsche Zeitung zum | |
Beispiel hatte beide Intendanzen schon beerdigt, noch bevor sie anfingen, | |
und wich davon nie mehr grundsätzlich ab. Dagegen erscheint der Zürcher | |
Theaterstreit 22/23 wie eine kleine Rangelei auf dem Pausenplatz. | |
Es gab weniger gut besuchte Abende wie die großräumige Überschreibung des | |
Nibelungen-Stoffs, die so manchem Klischee eines woken Theaters wohl | |
entsprechen (alle sind Opfer von Diskriminierung außer dem alten weißen | |
Papi Wotan). Wenn da nicht der Autor selbst, der Berliner [4][Necati | |
Öziri,] einen langen, charmanten, cleveren und ziemlich ungeschützten | |
Auftritt am Anfang des Abends hätte, der sein Projekt begründet. | |
## Verzicht auf antiken Antagonismus | |
Und es gab besser besuchte Abende wie „Der Besuch der Alten Dame“, | |
inszeniert von Ko-Intendant Nicolas Stemann: Dürrenmatts Klassiker als Fest | |
für nur zwei Schauspieler:innen. Da wurde auch die NZZ weich. Allerdings | |
hätte man gerade dieser Regie viel aktuelle Korrektheit vorwerfen können, | |
wenn sie den ethischen Widerstreit zwischen einer mörderischen Milliardärin | |
mit einem alten Männerekel eindeutig zugunsten der alten Dame entscheidet. | |
Das Nichtinteresse für den antiken Antagonismus – die Schuld ist für | |
niemanden aufzulösen – stand dem relativen Erfolg dieser Arbeit aber nicht | |
im Weg. | |
Die sogenannte Wokeness ist also ein vorgeschobener Grund für das Zürcher | |
Debakel. Worum ging es dann? | |
Die nun abgebrochene Intendanz in Zürich war in Teilen ein Versuch, etwas | |
weniger Arbeiten rauszuhauen, mit einem Ensemble vor Ort zu arbeiten und | |
sodann mit andern Häusern in einen Austausch zu treten, etwa in Bochum und | |
im belgischen Gent. Ein nachhaltiger und im Prinzip kostensparender Ansatz. | |
Allerdings nicht, wenn man wie in Zürich noch zeitweise zwei Tanzkompanien | |
ans Haus holt für die Arbeiten von [5][Trajal Harrell] und von Wu Tsang. | |
## Teurer Glamour-Transfer | |
Beide haben bisweilen Produktionen gezeigt, die auch von älterem Publikum | |
angenommen wurden, etwa „The Köln Concert“ von Harrell. Aber der | |
finanzielle Aufwand für diesen Glamour-Transfer von, im Fall von Wu Tsang, | |
internationalen Kunstbiennalen ins beschauliche Zürich war wohl zu hoch. | |
Das ist das verheerende Signal: Stadttheater werden weiterhin keine Orte | |
sein können, die sich auch künstlerisch öffnen und verschiedene Kompetenzen | |
in Ensembles zusammenführen. Nicht weil das generell auf Ablehnung stoßen | |
würde (das wäre die kulturkämpferische, ich finde: falsche Erklärung). | |
Sondern weil es vermutlich nicht finanzierbar ist. | |
Ja, schon wieder: vermutlich. Alles kann nur vermutet werden, wenn beide | |
Parteien, der Verwaltungsrat wie die künstlerische Leitung, die | |
betriebswirtschaftlichen Differenzen nicht konkret benennen. Ob es nun an | |
Mindestlohnanhebungen lag, die die Leitung gefordert haben soll, oder an | |
Kündigungen aus Spargründen, die das Duo ablehnte? Und warum rechnet der | |
Verwaltungsrat damit, dass so viel Geld fehlen wird nach der laufenden | |
Spielzeit und nach der nächsten, nun letzten des Intendanten-Duos, dass er | |
zu dieser drastischen Maßnahme greift? | |
## Zukunft schwer planbar | |
Denn drastisch ist dieser Bruch zumindest für die Geschäfte mit Sicherheit. | |
Viele künstlerische Verabredungen für die Spielzeit 24/25 sind bereits | |
getroffen. Man kann die auflösen. Aber Spitzenkräfte in der Regie zu | |
finden, die überdies mit einer erst zu bestimmenden neuen Leitung | |
zusammenarbeiten, das ist kaum möglich in dieser Frist. | |
Der Verwaltungsrat wird sich entweder um eine Zwischenlösung kümmern | |
müssen, eine Interimsleitung, die 2024 bereits geschlossene Verträge auch | |
über die Ziellinie schiebt, bis eine Nachfolge für 2025 gefunden werden | |
kann. Ob die dann gendert oder auch mal einen Theaterabend erfindet, der | |
weder der kunstfernen Idee einer ausgeglichenen Berichterstattung noch dem | |
Broadway gehorcht, spielt dann hoffentlich keine Rolle mehr. | |
14 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Theaterdebatte-in-der-Deutschschweiz/!5911087 | |
[2] /Interview-mit-Regisseur-Milo-Rau/!5750394 | |
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## AUTOREN | |
Tobi Müller | |
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