# taz.de -- Tanzfestival in Berlin: Das neue Ding ist Sensualität | |
> Begeisternd und berührend: Das Berliner Tanz-im-August-Festival bringt | |
> vier Wochen lang Körper- und Tanzsprachen auf die Bühne. | |
Bild: So sieht sachlicher Nudismus bei Mia Habib aus | |
Mit Schulterzucken ging das im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) angesiedelte | |
Festival Tanz im August am Wochenende zu Ende. Schulterzucken in Slow | |
Motion und wie unter einem Vergrößerungsglas: Hoooooch, runter. | |
Ist diese letzte Regung in Meg Stuarts verrücktem Reigen „Until Our Hearts | |
Stop“ auch ein Kommentar darauf, dass ihre neunköpfige Gruppe (drei | |
MusikerInnen, sechs PerformerInnen) erst nach einem Jahr intensiven Tourens | |
in ihrer Wahlheimat Berlin an der Volksbühne Station machen? Oder eher ein | |
Staunen darüber, was sie da aufgetürmt haben? | |
Nämlich jede Menge Energie, intravenös wirkender Free Jazz, qualmender | |
Schamanismus, glitzernde Scharlatanerie und nebenbei und sowieso ein Update | |
der Kommune 1 aus den Sechzigern – einschließlich einer grandiosen | |
Up-side-down-Version der berühmten Fotos mit den nackten Pos und den | |
gegrätschten Beinen. | |
Stuarts Bühnensprache wird inzwischen von allen Seiten analysiert, keine | |
Publikation, ob im Kontext Tanz oder bildende Kunst, kommt mehr ohne die | |
US-Choreografin aus. Sie selbst scheint vor allem Meisterin darin zu sein, | |
Tanz als Chaosbeherrschung einzusetzen. | |
Einen Filter zu finden für ein Zuviel an Passieren, ein Zuwenig an | |
Verstehen, den Satz davon tanzen zu lassen wie Kaffeesatz lesen. „Body | |
Weather“ heißt eine Körpertechnik, die auch Meg Stuart verwendet, und die | |
eine andere Choreografin einmal als Gleichzeitigkeit von Magie, Agonie und | |
Ekstase beschrieben hat, als vielstimmiges Körpergespräch, das auf den | |
Moment ausgerichtet sei, in dem etwas passiert. Diese Elektrizität im | |
Miteinander hat Meg Stuart vielleicht noch nie so zünden lassen. | |
## Umarmung der Künste | |
Und weil die Funken ohnehin schlagen, schlägt Kristof Van Boven (früher | |
Münchner Kammerspiele, jetzt Thalia Hamburg) noch eine Stand-up-Nummer an | |
die Adresse derjenigen raus, die die Volksbühne, an der Stuart unter | |
Castorf gearbeitet hat, für das zu rettende Abendland halten. | |
Ob der neue Intendant Chris Dercon die Statue mit dem Kreis und den | |
laufenden Beinen wohl behalten werde? Oder ob sie zu den Beinen auch Arme | |
bekomme, als ein Symbol der Umarmung aller Künste? Einige Veteranen in der | |
ersten Reihe flüchten. Van Boven: „Ich würde Sie ja gerne zur U-Bahn | |
eskortieren, aber mein Mikrokabel ist zu kurz.“ So geht Tanz im August | |
nicht nur mit einem erstaunten Schulterzucken, sondern auch mit einem | |
kleinen Racheakt und deutlich vernehmbaren Volksbühnen-Kommentar der | |
Tanzszene zu Ende. | |
Dem waren vier Wochen mit überwiegend starken Stücken vorausgegangen. Weit | |
heraus ragte allerdings nur Stuart mit ihrem Team, was auch an ihrem | |
verspielt-feministischem Frauencast Leyla Postalcioglu, Claire Sobottke und | |
Maria F. Scaroni liegt. | |
Überhaupt war es ein Festival der Frauen: Der Altersweisheit der | |
Postmodern-Dance-Koryphäe Deborah Hay, die das schwedische Cullberg-Ballet | |
das fast Unmögliche – eine Engführung von Bewegung und Wahrnehmung – tanz… | |
lässt. Der unprätentiösen technischen Eleganz Christine Joy Ritters, ihrer | |
tigerhaften Präsenz, in der liebenswerten Fusion-Produktion „Everyness“ von | |
Wang Ramirez (eine Kompagnie, die von Berlin aus tourt, aber hier nur | |
selten auftritt). | |
Des unwiderstehlich sinnenden Blicks der Tänzerchoreografin und | |
Neurowissenschaftlerin Liz Santoro beim Mathematiktanzen. Der fabelhaften | |
Verwandlungskunst Claire Cunninghams, die, auf Krücken angewiesen, vom | |
Gliederfüßler zur fast körperlosen, eine Himmelsleiter hinaufsteigende | |
Sopranstimme wird. Des introvertierten Femme-Realness-Auftritts von | |
IMMA/MESS. | |
Um gerecht zu sein, gehört in diese Reihe außerdem noch mindestens ein | |
Mann: Es ist ein ungelöstes Rätsel, wie Seoljin Kim sich in „32 Rue | |
Vandenbranden“ (Peeping Toms Beweis dafür, dass das belgische Tanztheater | |
noch nicht tot ist!) mit nur einem Arm so in den Pfosten eines | |
Fensterrahmens einhaken kann, dass der restliche Körper frei in der Luft | |
schwebt. Ein Trick? Nein, das muss Technik sein. | |
Verantwortet hat diese Ausgabe von Tanz im August – und damit wieder zurück | |
zu den Frauen – bereits im dritten Jahr die aus Helsinki übergesiedelte | |
Virve Sutinen. Ihr zur Eröffnung formuliertes Ziel war es, die „westliche | |
Welt“ im Hinblick auf Themen wie „Ethnizität, Gender und Gemeinschaft“ s… | |
selbst reflektieren zu lassen. | |
Also keine Importe aus Asien und Afrika. Dafür die | |
Tanzgefängnis-Choreografie „Displacement“ des geflüchteten Syrers Mithkal | |
Alzghair, ein düsteres „Miserere nobis“ vom gesellschaftlichen Rand bei | |
Peeping Tom, ein blödes „I’m the end of Western culture“ von Dragqueen I… | |
Dimchev für das noch unsortierte neue Ensemble Dance On sowie ein | |
transatlantischer Blick in die USA, vorwiegend auf Produktionen, die sich | |
mit rassifizierenden Haltungen auseinandersetzen. | |
Diese Blickrichtung geht nicht ganz auf. Das liegt auch daran, dass Sutinen | |
stark ästhetisch kuratiert und sich vorgenommen hat, zeitgenössischen Tanz | |
möglichst vielfältig zu zeigen. So gibt es einiges – das Eröffnungsstück | |
„Sunny“ von Emanuel Gat, das zwischen Modern und Hiplet alternierende | |
„Pavement“ von Kyle Abraham, das B-Boying von Nick Power – was zwar | |
wunderbar getanzt ist, aber nicht wirklich an die Fragestellung | |
heranreicht. | |
Auch bei der Auswahl an Critical-Whiteness-Stücken fragt sich, ob die | |
sozialen Konstruktionen von Schwarzsein oder Weißsein als Generalismen im | |
Festivalkontext noch taugen. | |
## Rassismus als Thema | |
Es gab zuletzt viel Kolonialismus-Aufarbeitung auf der Bühne, viel | |
Offenlegung von Alltagsrassismus. Das Bewusstsein für Paternalismus-Muster | |
ist im Kunstkontext inzwischen hoch – auch wenn immer mal jemand im Theater | |
landet, der von einem „schwarzen“ Choreografen „afrikanische Tänze“ se… | |
will. | |
Hilft es aber weiter, als „Weißer“ auf einen „schwarzen“, twerkenden Po | |
schauen zu müssen, weil der US-Choreograf niv Acosta einem damit die | |
unterstellte eigene Erwartungshaltung spiegeln will? Haben wir es nicht | |
spätestens mit der Diskussion um Taylor Swifts Video zu ihrem Hitsong | |
„Shake it off“ kapiert? Oder ist das Selbstüberschätzung? | |
Rassismus als Thema ist alles andere als erledigt, aber | |
Schwarz-Weiß-Kategorisierungen, in denen so getan wird, als ob es unter | |
Leuten, die sich im selben Milieu bewegen, überhaupt keinen gemeinsamen | |
Bildungs-, Erfahrungs- und Erlebnisschatz gebe, reichen nicht an tiefere | |
Schichten ran. | |
Auch wenn die thematische Tiefenbohrung weniger ergiebig ist: Was Tanz im | |
August an Körper- und Tanzsprachen zutage bringt, begeistert und berührt, | |
vor allem in der Überlagerung der Stücke. Dabei am auffälligsten ist die | |
Häufung erweiterter platonischer Körper. Sei es als fantasievolle | |
Vermessung des Anderen in Duos, als Einverleibung einer Prothese, als | |
Zusammenschmelzen in neue duale Körpermechaniken, in Tier- und noch | |
unbenannte Wesen oder in mal sensuelle, mal amöbenhafte Gruppenformationen. | |
Es scheint jenseits der anhaltenden Beschäftigung mit Massenornamentik und | |
Schwarmästhetik – eine Linie, die Mia Habib am letzten Festivalwochenende | |
mit 50 nackten TeilnehmerInnen in bewundernswerter Sachlichkeit | |
weiterverfolgte – eine Sehnsucht nach körperlicher Anverwandlung, nach | |
fluider Körperlichkeit zu geben. | |
Wo das alte Reizwort Sexualität war, ist das neue Ding Sensualität. | |
Einerseits vielleicht als Romantik des Miteinanders in Zeiten unsteter | |
Paarbeziehungen, andererseits aber auch als körperliche Emanzipation aus | |
der plumpen Affektlehre eines libidogesteuerten Marktes. Das geht übrigens | |
auch ohne vorgehaltene Waffe. Zum Beispiel so: Claire Sobottke stellt sich, | |
nach allerlei lustigen Doktorspielen, vors Volksbühnen-Publikum und ruft | |
„Papa, kannst du mal kurz aufstehen?!“. | |
6 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
## TAGS | |
Tanz im August | |
Hebbel am Ufer | |
Tanz im August | |
Tanz | |
Tanz | |
Tanz | |
Tanz im August | |
Spielfilmdebüt | |
Weimar | |
Bremen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Festival „Tanz im August“: Deborah Hays Körper provozieren | |
Körper als Bibliotheksersatz: Die Choreografin Deborah Hay bringt das | |
Berliner Festival „Tanz im August“ an die Grenzen seines | |
Selbstverständnisses. | |
Dialog mit dem Tanz: Im Riesenluftballon verschwinden | |
Bewegtes Erinnern: Wie sich das Berliner Festival Tanz im August über 30 | |
Jahre hinweg mit dem eigenen Leben verwoben hat. | |
Choreografin Stuart über Stuart: „Der Körper ist kein Klavier“ | |
In Venedig erhält die Choreografin Meg Stuart am Freitag einen Goldenen | |
Löwen für ihr Lebenswerk. Anlass für ein Gespräch über Transformation. | |
Choreograf Cherkaoui über Tanz: „Menschen lieben das Drama“ | |
Er ist ein Sammler vieler Tanzsprachen und er leitet das Ballett | |
Vlaanderen: Für Sidi Larbi Cherkaoui ist das kein Widerspruch. | |
Barrierefreiheit in der Kunst: Störfaktoren als Material | |
Claire Cunningham braucht Krücken und hat damit einen eigenen Tanzstil | |
entwickelt. In Berlin tritt sie in einem Dialog mit Jess Curtis auf. | |
Spielfilm „Die Tänzerin“ über Loïe Fuller: Die mit dem Licht tanzte | |
Die Tänzerin Loïe Fuller wurde in Europa gefeiert, dann vergessen, später | |
akademisch gewürdigt. Der Spielfilm „Die Tänzerin“ erzählt ihr Leben. | |
Auftakt vom Kunstfest Weimar: Barfuß zum Konzert | |
Am schönsten war eine Lesung von Peter Weiss am Beginn des Kunstfestes in | |
Weimar. Hart dagegen ein Theaterstück von Oliver Frljić. | |
Tanz-Premiere in Bremen: Das kann doch jeder! | |
Das Tanzwerk hat mit neun Laien und Choreograf Rolf Hammes eine Performance | |
erschaffen, die von großen Stummfilmen inspiriert ist. | |
Theater-Nachwuchs in Hamburg: Jonglieren mit den Splittern der Welt | |
Das Hamburger Theaterfestival „Körber Studio Junge Regie“ eröffnet diesmal | |
Henri Hüster mit einer Melange aus David-Foster-Wallace-Geschichten. |