# taz.de -- Festival „Tanz im August“: Deborah Hays Körper provozieren | |
> Körper als Bibliotheksersatz: Die Choreografin Deborah Hay bringt das | |
> Berliner Festival „Tanz im August“ an die Grenzen seines | |
> Selbstverständnisses. | |
Bild: Deborah Hay ist 78 und eine Mitbegründerin des Postmodern Dance | |
Langweilige Schönheit – ein Makel, den die „RE-Perspektive“ des Werks von | |
Deborah Hay, das sich das Berliner Festival Tanz im August auf die Fahnen | |
geschrieben hat, mit Stolz zu tragen scheint. | |
Schönheit, wenn Deborah Hay, 78-jährig, mit ihrer Aura als Mitbegründerin | |
des postmodern dance, in „my choreographed body … revisited (2019)“ die | |
Bühne betritt. Der schlanke Körper in gut sitzender Design-Streetware, die | |
weißen Haare zu „ukrainischen“ Kränzen geflochten, Brille, federt sie in | |
den Knien, die Hüfte liegt tief, als würde ein Airbag sie von unten | |
unterstützen. Die Hände sind in Läuferinnenposition, gespannt. Neugierig | |
wirkt sie. Aufmerksam. | |
Ein in einfacher Ritualmelodik gehaltener Gesang erklingt, die Stimme, mit | |
Körper und Umraum verbunden, wirkt voll tieferen Wissens. Etwas später wird | |
sie auf Zehenspitzen tippeln, das Bewegungszentrum über die Brust springen, | |
als hätte ein unsichtbarer Marionettenspieler den Faden aufgenommen. Die | |
Stimme tritt in Dialog mit einer anderen Tonlage, quäkend, ein bisschen wie | |
ein Tonband in rewind. | |
Ein Dialog von Wesenheiten? Eine Suche nach Weisheit, die von einem | |
hofnärrischen Gnom kommentiert wird? Hier deutet sich schon eine Komponente | |
an, die in späteren Aufführungen der Werkschau überrascht: Humor. Keine | |
Ironie, sondern Humor – eine Qualität, die an Pantomime- oder | |
Stummfilm-Protagonist*innen erinnert, die sich an undramatisch | |
dysfunktionalen Alltagssituationen abarbeiten, um ihre konstitutionelle | |
Melancholie zu überwinden. | |
## Körper und Wahrnehmung | |
Solcherart aus der Zeit gefallen wirken dann auch die Soli „The Aviator“ | |
(aus „The Man Who Grew Common in Wisdom“ 1989/2019) oder „Fire“ (2000/2… | |
mit den Ausnahmeperformer*innen Eva Mohn und Ros Warby, die zwischen | |
schauspielerischer Mimik und federleicht springenden Aufmerksamkeitszentren | |
im Körper switchen. Es geht bei Deborah Hay um das Verhältnis von Körper | |
und Wahrnehmung. Den Körper bezeichnete sie einmal als ihren | |
Bibliotheksersatz. Sie studiert ihn nicht medizinisch sondern | |
phänomenologisch. Öffnet ihn an einer bestimmten Stelle, mit einem | |
bestimmten Mantra – früher waren es Bilder, jetzt sind es sprachliche | |
Wendungen – und lässt ihn reagieren. | |
Um zu verstehen, wie anspruchsvoll ein solches Verfahren sein kann, reicht | |
es, sich ein konkretes Beispiel vorzustellen. Etwa die Tatsache, dass sich | |
in der Traumphase das motorische Zentrum des Gehirns ausschaltet. Wäre das | |
nicht so und der Körper würde alle Traumbilder umsetzen, wäre nachts die | |
Hölle los. Wie sich mit dieser Art von Körperbewusstsein aktiv in Beziehung | |
treten lässt, das scheint der Stoff zu sein, aus dem sich die | |
tiefenphysiologische Praktik der Tanzzersetzerin Hay nährt. | |
## Lehrer, Orakel und Gefährte | |
Susan Leigh Foster, bekannte US-Tanzwissenschaftlerin und Herausgeberin des | |
Katalogs zur RE-Perspektive, schreibt in ihrem Vorwort zu Hays Buch „My | |
Body, the Buddhist“ (2010): „Dieser Körper funktioniert als Lehrer, Orakel | |
und Gefährte – weniger bei der Erkundung von Spiritualität als vielmehr von | |
Bewusstsein. Abwechselnd ein körperlicher Provokateur, der die Frage des | |
Bewusstseins stellt, und das Medium, durch das diese Frage Form annimmt, | |
bewegt sich dieser Buddhist body in sachlicher Routine durch seinen Tag.“ | |
Es ist diese Routine, die Hays Arbeiten ausmacht. Jahrzehntelang arbeitete | |
sie prozessorientiert mit Laien. Choreografien auf die Bühne zu bringen, | |
interessierte sie nicht sonderlich. Das änderte sich, als die | |
Profiperformerin Ros Warby im Jahr 2004 die Arbeit „Match“ performte, die | |
beim Festival Tanz im August in einer Adaption des Cullberg Balletts zu | |
sehen sein wird. Die Arbeit wurde damals mit dem New Yorker Bessie Award | |
ausgezeichnet. | |
## Zu federleichter Gischt werden | |
Seitdem stellte Hay ihre Prozesse, nun mit renommierten Tänzer*innen, mehr | |
und mehr auf die Bühne. Die Aufmerksamkeit, die den Protagonist*innen des | |
postmodern dance seit 2012 zum 50-jährigem Jubiläum der Gründung des Judson | |
Dance Theater zuteil wurde, ist für dieses Bühnen-Comeback nicht | |
unwesentlich. | |
Weder der Umgang mit Zeit, Licht, Dramaturgie, Platzierung im Raum, | |
Referenzen, noch das Verhältnis der früheren Arbeiten zur Musik, sind | |
jedoch auf dem Niveau des „Buddhist body“. Und auch in der Qualität der | |
tänzerischen Aneignung gibt es große Unterschiede. Während es dem | |
Cullberg-Ballett mit „Figure the Sea“ vor drei Jahren gelang, in der | |
Auflösung der eigenen Tanztechniken zu federleichter Gischt zu werden, | |
blieb das Quintett, das in diesem Jahr die Uraufführung „Animals on the | |
Beach“ tanzte, in technischen Versatzstücken wie in einer Zwangsjacke | |
stecken. Das Publikum hat daher nur zwei Optionen: meditative Empathie oder | |
Langeweile. | |
## Fast verleugnet | |
So wirkt die prestigeträchtige Werkschau mit wissenschaftlich relevantem, | |
aber wenig eingängigem Beiwerk, die am 27. August mit einem Symposium an | |
der Berliner Akademie der Künste gipfelt, letztlich eitel. Statt Formate zu | |
finden, in denen das tiefenphysiologische Verfahren auf das Publikum | |
überspringen kann, präsentiert das Festival eine Leistungsschau, als gelte | |
es Deborah Hay in die Reihe der berühmten postmodernen | |
Bühnenchoreograf*innen Trisha Brown, Yvonne Rainer oder Lucinda Child | |
einzureihen. | |
Dabei scheinen Jahrzehnte ihrer Arbeitspraxis fast verleugnet. Der | |
Herausforderung, methodisch revolutionäre Tanzkunst anders zugänglich zu | |
machen als im repräsentativen Bühnensetting, wird sich so nicht gestellt. | |
24 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
## TAGS | |
Tanz im August | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Tanz | |
Staatsballett | |
Akademie der Künste Berlin | |
Tanz | |
Tanz im August | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Sunny“ am Staatsballett Berlin: Evergreen statt Vision | |
Das Staatsballett Berlin mausert sich weiter, diesmal mit dem Evergreen | |
„Sunny“. Aber jetzt wäre langsam mal eine Vision an der Reihe. | |
Die Rückholung der Tanzgeschichte: Das Knie von Dore Hoyer | |
In Berlin versucht die Akademie der Künste mit 100 Fotos, Filmen und | |
Objekten ein ganzes „Jahrhundert des Tanzes“ zu erzählen. | |
Inklusion in der Tanzszene: Den Füßen zuhören | |
Was kann Sehbehinderten helfen, an einer Tanz- Performance teilzunehmen? | |
Das Stück „(in)Visible“ in Berlin testet das. | |
Tanzfestival in Berlin: Das neue Ding ist Sensualität | |
Begeisternd und berührend: Das Berliner Tanz-im-August-Festival bringt vier | |
Wochen lang Körper- und Tanzsprachen auf die Bühne. |