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# taz.de -- Die Rückholung der Tanzgeschichte: Das Knie von Dore Hoyer
> In Berlin versucht die Akademie der Künste mit 100 Fotos, Filmen und
> Objekten ein ganzes „Jahrhundert des Tanzes“ zu erzählen.
Bild: Valeska Gert, hier circa 1924, eckte auch in Amerika an
Jochen Roller ist unter den Regisseuren und Choreografen ein pfiffiger
Kopf, was Konzepte angeht. Als 2011 der Tanzfonds Erbe von der
Kulturstiftung des Bundes aufgelegt wurde, war Tanzrekonstruktion
eigentlich nicht sein Ding. Aber: „Für sechsstellige Fördersummen kann sich
ein Künstler für so ziemlich alles interessieren. So bin ich zum Tanzerbe
gekommen“, schrieb Roller. Er suchte sich Gertrud Bodenwieser aus, die wie
viele deutsche und österreichische Ausdruckstänzer der 1920/30er Jahre vor
den Nationalsozialisten fliehen musste und von Wien nach Australien ging.
Roller stellte bei seinen Recherchen bald fest, „dass das Tanzerbe ein hart
umkämpfter Kapitalmarkt“ zwischen Künstlern und Wissenschaftlern ist, er
wählte deshalb Bodenwiesers Arbeit in Australien ab den 1950er Jahren als
Schwerpunkt, „Zeitzeugenbefragung, Bibliotheksrecherche, Orstbesuche“. Und
stellte verwundert fest, wie er bald als Experte für Bodenwieser gehandelt
und zu Kongressen eingeladen wurde.
Zitiert mit seiner Skepsis gegenüber der eigenen Arbeit ist er im Reader
„Das Jahrhundert des Tanzes“. Der Reader gehört zu einer Ausstellung in der
Berliner Akademie der Künste und stellt mit 100 Fotografien und je einem
Zitat zur eigenen Arbeit 100 Choreograf*innen vor. Die Akademie der Künste
und der Tanzfonds Erbe, der von Madeline Ritter konzipiert wurde, haben für
die Ausstellung, einen begleitenden Campus für Studierende und eine
prominente Aufführungsreihe eng zusammengearbeitet.
Die 100 Fotos des Readers werden in der Ausstellung wechselweise auf große
Leinwände projiziert, ebenso wie kurze Filmausschnitte. Davor steht in der
Ausstellungshalle eine lange Vitrine mit wenigen ausgesuchten Objekten wie
Masken und Briefen. Im Mittelgrund finden sich Bildschirme, die Ausschnitte
aus den Tänzen der Künstler zeigen, auf die die Objekte verweisen. Erzählt
wird von der Tanzmoderne seit ihren frühen Heldinnen [1][Isadora Duncan],
[2][Loie Fuller] und Josephine Baker, wobei sichtbar wird, wie sie sich
erst gegen das Ballett positionierte, um später, mit einem veränderten
Ballett, gelegentlich wieder zusammenzufließen.
Ein Hexentanz mit archaischer Maske
Die Geschichte des Ausdruckstanzes, international oft „German dance“
genannt, steht dabei im Mittelpunkt. Man sieht noch einmal Mary Wigmans
(1886–1973) Hexentanz, wie sie mit archaischer Maske auf dem Boden sitzend
mit den Fersen auf die Erde trommelt, aber auch wie sie und die bekannten
Protagonisten der Tanzmoderne Gret Palucca, Harald Kreuzberg und Rudolf von
Laban sich an der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 beteiligten. Das
hymnische und archaische der nationalsozialistischen Ideale und die
Naturverbundenheit der Tanzmoderne bewegten sich streckenweise aufeinander
zu, bevor auch die Ausdrucks- und Grotesktänzer unter die verfemten
Künstler fielen.
Aber es gab auch politisch Wache unter den Tanzerneuerern, wie Jean Weidt
(1904–1988), der mit seinen „Roten Tänzern“ in der 1930er Jahren den
ausgebeuteten Arbeiter oder die leidende Mutter in den Mittelpunkt seiner
Tanzdramen setzte. Man sieht Ausschnitte und wie er in den 1980er Jahren
Schülern in Leipzig davon erzählte. Staunen kann man wieder über Valeska
Gert (1892–1978), die mit extremer Mimik den „Tod“ und ein Baby nach der
Geburt performt. In der Vitrine liegt ein nach der Emigration in die USA
1941 an sie gerichteter Brief der Emigrantenzeitung Aufbau: Sie möge sich
doch bitte nicht über die Einrichtungen des Landes mokieren und den
amerikanischen Freiheitsbegriff kritisieren. Das schade der
„americanisation“ der Immigranten.
Zu den ins Exil Gegangenen gehörte auch Dore Hoyer (1911–1967), die in
Argentinien zwar eine zweite Karriere bestreiten konnte, aber sehr darunter
litt, im Nachkriegsdeutschland keine Bühnen mehr zu bekommen. Das Gefühl
der Verlassenheit und des Außenseitertums belastete sie, zudem zeigt eine
Röntgenaufnahme unter den Tanzobjekten ihr restlos verbrauchtes Knie. 1967
beging sie Suizid. An ihre tragische Geschichte aber knüpften in den
1970ern junge Tänzerinnen wie Susanne Linke in Bremen an oder in den 80ern
Arila Siegert in Dresden, wie in der Ausstellung dokumentiert ist. Das
waren die ersten Fäden, die nun mit Unterstützung des Tanzerbe-Fonds zu
einem kräftigeren Gewebe wurden.
Wer in den letzten 30, 40 Jahren internationale Tanzgastspiele in Berlin,
etwa im Haus der Kulturen der Welt verfolgte, wird viel davon in der
Ausstellung wiederfinden. So die Choreografinnen Elsa Wolliaston und
Germaine Acogny, die an zeitgenössischen Tanzsprachen jenseits des
Eurozentrismus arbeiteten. Kennt man freilich ihre Stücke nicht, dann sind
das eine große Foto und das eine Textdokument im Reader doch zu wenig, um
zu begreifen, wohin sie den Horizont der Tanzkunst verschoben haben.
29 Aug 2019
## LINKS
[1] /Festival-Tanz-im-August/!5616200
[2] /Spielfilm-Die-Taenzerin-ueber-Loie-Fuller/!5350106
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
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