| # taz.de -- Tanz-Biennale in Venedig: Leben als Beschäftigungstherapie | |
| > Diskursgebirge in 70 Minuten durchqueren oder im Raum nachspielen, was | |
| > Youtube ins Zimmer spült: Die Tanz-Biennale in Venedig war überraschend. | |
| Bild: Verschränkungen der Welten in „Forecasting“ von Barbara Matijević u… | |
| Mann, Ente, Joggerin. Der Mann wirft Steine. Auf das Tier. Was macht die | |
| Joggerin? Oder auch: Was würde Marina Abramović machen? Jene Performerin | |
| also, die derzeit ganze Opernhäuser mit Zuhör-Exerzitien füllt, lange Jahre | |
| aber für ihre Selbstgeißelungsperformances bekannt war, bei denen dem | |
| Publikum überlassen war, den Prozess zu beenden. Vielleicht würde sie sich | |
| nackt zwischen Ente und Mann stellen? | |
| So zumindest lautet eine Fantasie ihrer jüngeren australischen Kollegin | |
| Nicola Gunn, die behauptet, einmal für zwei Wochen in einer Residenz mit | |
| Abramović „eingeschlossen“ gewesen zu sein. In ihrer eigenen Arbeit „Pie… | |
| for Person and Ghetto Blaster“, die sie auf der diesjährigen Tanz-Biennale | |
| in Venedig (21. – 30. Juni) präsentiert, beschäftigt sich Gunn mit | |
| moralischem Relativismus und der Ethik der Intervention. | |
| Offensichtlich in Philosophie, Konfliktlösung und Psychologie geschult, | |
| überblendet sie darin geschickt Kunst- und zivilgesellschaftlichen Kontext | |
| im Stil einer Stand-up-Comedy, unterlegt mit dynamisierender | |
| Bewegungsdramaturgie. Das Format ist gut gewählt, da es sowohl | |
| Grenzüberschreitungen als auch hyperbolische Argumentationen und wacklige, | |
| aber symbolträchtige Parabeln erlaubt. | |
| Ihre Geschichte spielt im belgischen Gent, weshalb einer ihrer moralischen | |
| Einwände gegen eine Intervention zwischen Mann und Ente lautet: Vielleicht | |
| gibt es in Gent eine Tradition, nach der es Glück bringt, Enten mit Steinen | |
| zu bewerfen? Im Sinn transkultureller Kompetenzen wäre Unwissenheit in | |
| dieser Beziehung das größere Vergehen. Und gegen Unwissenheit gibt es | |
| schließlich ein Mittel: Suchmaschinen. Erst googeln, dann helfen. | |
| „Piece for Person and Ghetto Blaster“ entstand 2015 und ist eine der | |
| Entdeckungen der Tanz-Biennale. Philosophisch erweitert die Arbeit das Ende | |
| der Bedeutung in Zeiten multipler moralischer Wahrheiten auf | |
| posthumanistische Fragen, um dann, ähnlich wie der Moralphilosoph Derek | |
| Parfit, mit mathematischem Ehrgeiz zu versuchen, dennoch den ethischen Best | |
| Case aus der Komplexität zu destillieren. So weit aber kommt es letztlich | |
| nicht. Vielmehr kommt der Argumentation etwas in die Quere: die Kunst. Das | |
| Steinewerfen stellt sich als Kunstprojekt „über die Ethik der Intervention“ | |
| eines Künstlers algerischer Abstammung heraus. | |
| So bietet Gunns politische Stand-up in 70 Minuten ein ganzes Gebirge an | |
| Diskursen, in denen man sich verrennen kann. Wer sich ihnen stellen will, | |
| hat im nächsten Monat in Berlin die Chance, wo die Arbeit zum Festival Tanz | |
| im August erwartet wird. | |
| ## Norditalienischer Rassismus | |
| Wahrscheinlich hat sie auch darum einen starken Eindruck hinterlassen, weil | |
| ich zwei Tage zuvor bereits eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit | |
| Real-Interventionen hatte: Ein Jugendlicher greift nachts einen jener | |
| Verkäufer an, die mit leuchtenden Plastik-Helikoptern, die per | |
| Gummischleuder in den venezianischen Himmel geschossen werden, ihr | |
| Auskommen verdienen. Mit ungebremster Kraft versucht der Täter den Kopf des | |
| Opfers in einen Mülleimer zu drücken und haut ihn dabei mehrmals an die | |
| Metallkante des Behälters. Googeln ist ausnahmsweise nicht nötig. | |
| Eine Gruppe von Frauen im Rentenalter hört meine Schreie, eilt herbei und | |
| schafft es, den Angreifer zu stoppen. Das Opfer ist verletzt und flieht, | |
| der Täter spuckt aus und geht. „Es tut uns leid. Was Sie gerade gesehen | |
| haben, ist norditalienischer Rassismus“, sagen die Damen. Dazu muss man | |
| wissen, dass Leuchthelikopter-Verkäufer meist pakistanischer Herkunft sind. | |
| „May You Live In Interesting Times“, lese ich zwei Schritte weiter. So | |
| lautet das überall plakatierte sinnfreie Motto der parallel (noch bis Ende | |
| November) stattfindenden [1][Kunstbiennale von Venedig]. Die Tanz-Biennale | |
| ist seit den 1990er Jahren ein Ableger davon und profitiert wie auch die | |
| Theater- oder Architekturbiennalen vom Ruhm des Hunderttausende Touristen | |
| anziehenden Kunstevents. Auch ein Goldener Löwe wird verliehen, eine der | |
| wenigen repräsentativen Dekorationen im Bereich Tanz und Performance und | |
| darum für die Sparte nicht unwichtig. Denn obwohl ihre Ästhetiken derzeit | |
| die Kunstszene, auch die Biennale Arte, wie keine anderen dominieren, kommt | |
| sie aus ihrem Nischendasein immer noch nicht ganz raus. | |
| ## Vergrößerung des Netzalltags | |
| Die Tanzbiennale selbst steht unter keinem Motto, aber die Performance | |
| „Forecasting“ bietet dennoch eine ganz gute Zusammenfassung dessen, was | |
| sich unter „interesting times“ verstehen lässt. Sie stammt von Barbara | |
| Matijević und Giuseppe Chico, die 45 Minuten lang eine Auswahl aus dem | |
| riesigen Pool an Netz-Amateur-Videos abspielen: von Krawattebinden über | |
| Sardinenausnehmen, G-Punkt-Aktivierung, Cyberdildos, Stiletto-Sadomaso, | |
| Spritze setzen, dem Halbieren eines Apfels per Stirnhieb und | |
| Boxhandschuhauswahl zu Pistole laden und Zielschießen. | |
| Mit minutiöser Akkuratesse verlängert Barbara Matijević die ausgewählten | |
| Ausschnitte vom Bildschirm in den Raum, nimmt exakt die richtigen | |
| Körperspannungen ein und spricht dazu perfekt getaktet die Erklärtexte. | |
| Wird im Video etwas weggeschmissen, erwarte ich, dass es im Raum aufkommt, | |
| so sehr verschränkt sind die Ebenen. | |
| Was durch diese Verkörperung entsteht, ist gleichzeitig eine Vergrößerung | |
| des Netzalltags und seines unentwirrbaren Konglomerats aus Kommunikation | |
| und Selbstdarstellung, Beratung und Belanglosigkeit, Informationswert und | |
| Banalität, Unterhaltung und Brutalität. Mit dieser Behauptung von Leben als | |
| Beschäftigungstherapie ist „Forecasting“ in etwa das digitalästhetische | |
| Pendant zur Sinnkrisen-Strandperformance im [2][Litauischen Pavillon,] der | |
| in diesem Jahr von der Biennale Arte mit dem Goldenen Löwen bekrönt wurde. | |
| ## Im Schatten der Kunst | |
| Solche Parallelen entstehen im Biennalenalltag Venedigs allerdings so gut | |
| wie nie. Nur vereinzelt überschneiden sich die Publikumskreise. Begeisterte | |
| Massen strömen aus der Performance im litauischen Pavillon, bei der | |
| Tanzbiennale bleiben sie aus. Die geschätzte Auslastung der besuchten neun | |
| Aufführungen beträgt zwischen 50 und 70 Prozent. | |
| Die Publikumsentwicklung interessiert die turnusmäßig für vier Jahre als | |
| Kuratorin assoziierte Choreografin Marie Chouinard ebenso wenig wie | |
| Politik. Nach Selbstauskunft dienen ihr „Herz, Seele und Intelligenz“ als | |
| kuratorischer Leitfaden. Radikale Subjektivität mag ein Mittel gegen | |
| diskursive Überhöhung sein, eine Lösung in Bezug auf gesellschaftliche | |
| Verantwortung ist sie sicher nicht. | |
| Dennoch hat Chouinards Geschmacksauswahl einiges zu bieten. Liebhaber | |
| strikt formaler Kunst kommen bei William Forsythe’ nur von Tanzinsidern zu | |
| verstehender Nummernrevue „A quiet evening of dance“ auf ihre Kosten. Eine | |
| gelungene partizipative Arbeit ist Luke Georges und Daniel Koks „Bunny“, | |
| die das Publikum durch Shibari-Fesselkunst im Wortsinn in eine | |
| Auseinandersetzung mit Verantwortung, Vertrauen, Hingabe und | |
| Selbstbehauptung verwickelt. | |
| In „Dance me to the end of love“ nähert sich der mit dem Goldenen Löwen f… | |
| sein Lebenswerk etwas überhöhte Alessandro Sciarroni (geb. 1976) mit | |
| Nachwuchstänzer*innen einer italienischen Männer-Polka-Tradition mit | |
| Mitteln, die an Postmoderne und Konzeptkunst geschult sind. Doris Uhlich | |
| wurde mit ihrer Choreografie „Everybody Electric“ für Künstler*innen, die | |
| im Alltag Rollstühle benutzen, eingeladen. | |
| Und zuletzt schafft 15 Jahre nach der Premiere auch die Wiederaufnahme von | |
| „Impromptus“ der Berliner Choreografin Sasha Waltz zur Musik von Franz | |
| Schubert ein interessantes Spannungsfeld zwischen Entwurzelung und | |
| Heimatbegriff, Romantik und Gegenwart. Es bleibt zu konstatieren: An | |
| choreografischen Angeboten fehlt es in der Lagune nicht, ihre Relevanz geht | |
| jedoch etwas unter. | |
| 4 Jul 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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