# taz.de -- Sasha Waltz und Constanza Macras: Diskursive Purzelbäume | |
> Die Choreografinnen Sasha Waltz und Constanza Macras zeigen in Berlin | |
> neue Stücke. Für beide ist Tanz ein soziales Projekt. | |
Bild: Mit größter Energie bis zum Finale: „Chatsworth“ von Constanza Macr… | |
Berlin taz | Chefin eines großartigen Tanztheaters sind sie beide: Sasha | |
Waltz und Constanza Macras, zwei Choreografinnen aus Berlin, die jeweils am | |
letzten Wochenende eine Premiere zeigten. [1][Sasha Waltz, geboren 1963 in | |
Karlsruhe,] feiert mit Sasha Waltz & Guests dieses Jahr ihr 25-jähriges | |
Bestehen, [2][Constanza Macras, geboren 1970 in Buenos Aires,] arbeitet | |
seit mehr als 20 Jahren in Berlin. Für beide ist Tanz ein soziales und | |
kommunikatives Projekt, ihre Arbeit geht weit über das Entwerfen eigener | |
Choreografien hinaus. | |
Sasha Waltz engagiert sich in Tanz in Schulen und Kindertanzgruppen, | |
Constanza Macras steckt Energie in künstlerischen Austausch mit den | |
unterschiedlichsten Gruppen, zuletzt vor allem aus Südafrika. Beide haben | |
in Berlin eine lange Geschichte von Erfolg und von Förderung, die | |
letztendlich aber zwei existentielle Wünsche offenließ: Genug Mittel für | |
ein festes Ensemble und eine feste Spielstätte gab es nicht. | |
Jetzt stehen beide an einem möglichen Wendepunkt: Sasha Waltz beginnt mit | |
der Spielzeit 2018/19 als Co-Intendantin des Staatsballetts Berlin, | |
gemeinsam mit Johannes Öhman. Sasha Waltz & Guests verfügt inzwischen über | |
ein Repertoire von 20 Stücken, mit denen sie international touren, die | |
werden weitergespielt. Neue Choreografien wird Waltz aber demnächst eher im | |
Rahmen des Staatsballetts entwerfen; insofern markiert ihr im Radialsystem | |
präsentiertes Stück „Exodos“ für sie einen Übergang. | |
Constanza Macras, die ihre Stücke bisher an mindestens fünf Berliner | |
Theatern gezeigt hat, und immer wieder in neue Verhandlungen um Bühnen und | |
Koproduktionen gehen musste, wird die nächsten beiden Spielzeiten verstärkt | |
an der Volksbühne präsent sein, mit zwei Koproduktionen und einer | |
Übernahme. Das verbessert ihre Situation, wenn auch nur übergangsweise. | |
Vereinbart wurde dies mit Klaus Dörr, dem Geschäftsführer und | |
kommissarischen Leiter der Berliner Volksbühne nach dem Abgang von Chris | |
Dercon, und verdankt sich somit gewissermaßen einem kulturpolitischen | |
Betriebsunfall. | |
Bis zu 1.000 Zuschauer gehen in die Volksbühne, und dass Macras mit ihren | |
temperamentvollen Stücken diese mitreißen kann, glaubt man nach der | |
Uraufführung von „Chatsworth“ gerne. Im Rahmen des Festivals Tanz im August | |
lief es im viel kleineren Hebbeltheater. Seit mehreren Jahren recherchiert | |
Macras in Südafrika, mit großer Offenheit für die dortigen Künstler und | |
ihren Umgang mit einem konfliktreichen Alltag. In „Chatsworth“ nimmt sie | |
ein gleichnamiges Viertel aus Durban in den Blick, eine Siedlung, in der | |
indische Einwanderer während der Apartheid als ethnische Gruppe gettoisiert | |
wurden. | |
## Flirt mit dem Zuschauer | |
„Chatsworth“ ist ein großer Flirt mit dem Zuschauer. Alles redet mit ihm, | |
live gespielte Trommeln und elektronische Instrumente, Augen und Stimmen, | |
Hände und Füße, Hüften und Hintern der zwölf TänzerInnen, von denen mehr | |
als die Hälfte aus Südafrika kommt, schwarze und indischstämmige. Es geht | |
um Glamour, die Lust an der Präsenz, um Verschwendung und Luxus. Das ist | |
die immer bewegte Klammer um pantomimische Szenen, die im Bollywood-Style | |
von Vertragsarbeitern, kolonialer Ausbeutung, wirtschaftlichem Erfolg, | |
Ausgrenzungen zwischen den indischen Migranten und schwarzen Gruppen | |
erzählen. | |
Es gibt mythologische und biografische Einsprengsel, die bis ins 19. | |
Jahrhundert zurückreichen, und es gibt theoretische Reflexionen darüber, | |
wie der Gettoisierung von außen die Selbstethnifizierung von innen folgte, | |
ein Kleinhalten der eigenen Welt mit dem Beharren auf Traditionen. | |
Bollywood und Khatak, Disco und HipHop, Akrobatik und Ballett, alles wird | |
hier allein schon im Tanz zu Elementen des Zeitgenössischen. Auch die | |
Kostüme von Roman Handt sind immer schon Collage aus unterschiedlichen | |
Zeiten, Moden und Milieus. Den Höhepunkt erreicht das Stück in einer | |
furiosen Szene, die durch die Musicalgeschichte rast. Wie tanzen Latinos, | |
wie tanzen Afrikaner, wie die Gypsies, was bleibt da noch für die Weißen? | |
Das Musical wusste Antworten, fiktional, die sich als wirklichkeitsmächtige | |
Klischees tradiert haben. | |
Macht man jetzt ein Musical zu Nelson Mandela oder zu Gandhi? Zu Gandhi als | |
einer Frau? Oder doch eher zu Gentrifizierung? Die Suche nach der | |
Diversität, die immer ein Bestandteil der Arbeit von Constanza Macras war, | |
schlägt hier einen diskursiven Purzelbaum. Das ist eine sehr lustige und | |
gewitzte Form, sich von der Debatte über Identität nicht aufs Glatteis | |
führen zu lassen. | |
## Das Publikum selbst in Bewegung setzen | |
Sasha Waltz, die die letzten beiden Jahre beim Festival Tanz im August | |
dabei war, brachte ihre Premiere diesmal davon unabhängig, aber eben auch | |
an einem Augustwochenende heraus. Zudem gab es noch die sogenannte | |
Tanznacht, ein weiteres viertägiges Festival für Berliner Choreografen. Wo | |
man da hingehen sollte, war an diesem Wochenende nicht einfach zu | |
entscheiden. | |
Trotzdem war „Exodos“ von Sasha Waltz im Radialsystem ausverkauft, auch sie | |
könnte in Berlin meistens mehr Karten absetzen als möglich. „Exodos“ | |
beginnt in zwei Sälen, zwischen denen das Publikum hin- und hergehen kann. | |
Lange bewegt man sich mit den 26 TänzerInnen, bildet selbst eine Masse, aus | |
der heraus die Szenen mal besser, mal schlechter zu sehen sind. Große | |
Gruppen zu choreografieren, das Publikum selbst in Bewegung zu setzen, | |
darin ist Sasha Waltz stark, sie zeigte es zuletzt in den Foyers der | |
Hamburger Elbphilharmonie. | |
„Exodos“ knüpft daran an, an das Wogen von Gruppen, Verketten von Körpern, | |
das Bahnen von Wegen, an die Markierung von Grenzen und ihre Öffnung; | |
diesmal aber, wie der Titel schon andeutet, mit einem starken Bezug auf | |
Bewegungen von Migration und Flucht. Allein anders als Macras, die sich auf | |
eine konkrete Stadt, ein Viertel bezieht, nimmt Waltz das Thema symbolisch | |
und universell, weitet es aus in Fluchten aus dem Alltag und allgemeine | |
Sehnsüchte. Das bekommt dem Stück nicht so gut. Inhaltlich trägt es einen | |
Anspruch und eine Botschaft vor sich her, die Suche nach einem grenzenlosen | |
Utopia, der das konkret zu Sehende überfrachtet. | |
Das Publikum wird dabei manchmal an die Hand genommen, im wörtlichen Sinne, | |
geführt durch Tore, die zwei Körper bilden, oder als Stütze für eine von | |
den Händen getragene Figur genommen; und manchmal auch bei seinem Mäandern | |
durch die Hallen gestoppt und zurückgeschoben. Das hat etwas von | |
therapeutischer Vermittlung, Grenzen und Öffnungen unmittelbar körperlich | |
zu erleben; gutmütig spielen alle mit, aber es glaubt wohl ernsthaft | |
niemand, dass dies irgendetwas im sozialen Handeln und Denken verändern | |
würde. | |
## Atmosphäre erzeugen | |
Die pädagogische Betreuung erscheint also müßig. Ästhetisch bietet „Exodo… | |
viel, Waltz kann mit Stärken der einzelnen Performer und mit ihrer | |
Fähigkeit, Atmosphären zu erzeugen, wuchern. Im letzten Drittel gibt es | |
eine lange Strecke – das Publikum ist allmählich an die Hallenränder | |
gedrängt –, in der Aufruhr die große Halle füllt. [3][Die elektronische | |
Musik vom Soundwalk Collective] gibt für einen Moment die Steuerung ab an | |
eine Einspielung von Gustavs Mahlers 6. Sinfonie. | |
An diese Aufladung schließt sich ein Rennen und Rufen der TänzerInnen an, | |
es geht um gemeinsame Parolen und um Streit, es geht ums Bilden einer | |
Gemeinschaft, dann wieder um Aussonderung, freundliche Stimmung kippt | |
abrupt ins Aggressive. Der Raum vibriert von Ereignissen, die auch von den | |
Assoziationen an eine konfliktreiche Realität außerhalb leben. Aber | |
letztendlich fügen sich die Bilder wie ein Fries aneinander, der das | |
Menschsein aus weiter Ferne fasst. | |
Anfangs stehen die Performer in schmalen Vitrinen, kaum lassen sie den | |
Schultern Platz, ein eindrückliches Bild für Einengung, Festschreibung, das | |
nicht von ungefähr auch etwas davon hat, den Menschen als Museumsstück zu | |
zeigen, vielleicht geht seine Zeit zu Ende. Später werden einzelne Körper | |
von Seilen gefesselt und über den Boden geschleift, ein surreales Bild, das | |
aber auch an die vielen Toten denken lässt, die aus dem Meer geborgen | |
werden, aus dem Mittelmeer, ertrunken auf dem Weg in ein anderes Leben. Mit | |
solchen Bildern einen ganzen Erzählraum zu öffnen gehört zu den Stärken des | |
Stücks. | |
In den Kostümen von Federico Polucci feiert „Exodos“ permanent die | |
Abweichung. Die Symmetrie wird gebrochen, die Schrägen werden betont. | |
Hemden haben vier Ärmel, Jacken sind halb, was vorne ein Rock ist, wird | |
hinten zur Hose. Zudem werden die Kostüme ständig gewechselt. Das bekommt | |
etwas von einer Leistungsshow, von einem überbordenden Dekorum, das | |
eindeutigen Zuordnungen ständig den Stinkefinger zeigt. | |
Das ist teilweise witzig, auf Dauer aber auch sehr demonstrativ. Vielleicht | |
will dieses Stück zu viel, alles geben, eine Summe aus dem Bisherigen | |
ziehen, politisch aktuell sein, universell gültig. Dabei muss Sasha Waltz | |
niemandem beweisen, dass sie es kann. | |
27 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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