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# taz.de -- 30 Jahre Tanz im August in Berlin: Von Schmetterlingen und Robotern
> Berlin feiert sich gern, auch auf dem Festival Tanz im August. Mit
> berühmten Choreografinnen und knapp eingetroffenen Tänzern ging es los.
Bild: Das Ballet de l'Opéra de Lyon mit „Trois Grandes Fugues“
Die Jubiläen purzeln nur so aus den Reden, als Annemie Vanackere,
Intendantin des HAU in Berlin, Kultursenator Klaus Lederer und Virve
Sutinen, Kuratorin des Festivals Tanz im August, dessen 30. Ausgabe
eröffneten. Vor 40 Jahren wurde die Tanzfabrik gegründet, die über zehn
Jahre lang den zeitgenössischen Tanz in Westberlin enorm beflügelte. Vor 30
Jahren konnte Nele Hertling das lange im Schatten der Mauer verwaiste
Hebbeltheater als Haus für internationale Gastspiele eröffnen und das
Festival Tanz im August gründen.
Vor 25 Jahren begann die Compagnie Sasha Waltz & Guests, vor 15 Jahren
machte Matthias Lilienthal aus dem Hebbel und zwei weiteren Bühnen in
Kreuzberg das HAU, seit 5 Jahren ist Virve Sutinen die Leiterin von Tanz im
August. Annemie Vanackere ist zu Recht stolz darauf, dass sich seitdem die
Fördersumme von 400.000 Euro auf 750.000 verbessert hat, Virve Sutinen
freut sich über ein stetig gewachsenes Publikum, der Kultursenator sieht
mit dem Festival Berlin als die Tanzstadt in Deutschland. (Was man in
München, Hamburg oder Düsseldorf vielleicht anders sieht.)
Kurzum, Berlin feiert sich mal wieder selber. Schön und gut, das Publikum
aber wurde während der Reden im Haus der Berliner Festspiele langsam
ungeduldig und wollte endlich das Ballet de l’Opéra de Lyon sehen, das man
schon im Hintergrund poltern hörte. Bis der letzte Redner, Yorgos Loukos,
Leiter des Balletts aus Lyon, erklärte, warum die Tänzer diese Stunde der
Vorbereitung noch gebraucht hatten. Ihre Flüge von Lyon aus waren
gecancelt, Ersatzflüge ebenfalls, schließlich reisten sie mit dem Zug an,
machten Aufwärmtraining zwischen Frankfurt und Berlin und kamen dann
arschknapp im Haus der Berliner Festspiele an. Ohne Bühnenprobe, los
ging’s.
Schon um dieser Vorgeschichte willen wollte man die Compagnie lieben. Ihr
Abend „Trois Grandes Fugues“ kann aber auch so begeistern, ist Tanz und
Tanzgeschichte zugleich: Drei große Choreografinnen, seit Jahrzehnten
erfolgreich, arbeiten nach einem Musikstück, der „Großen Fuge“ von
Beethoven, in drei unterschiedlichen Einspielungen: Bei Lucinda Childs ist
es ein anmutiges Ballett aus Paaren, das sich der Musik anschmiegt. Bei
Maguy Marin grundiert Beethovens Musik das psychologische Porträt vier
junger Frauen fast am Rande des Nervenzusammenbruchs, die mit Ruppigkeit
und Trotz, mit eckigen Bewegungen und geknickten Linien von
Befindlichkeiten der Unzufriedenheit, des Zweifels und der Erschöpfung
erzählen.
## Glamour und Newcomer
Aufregend modern klingt Beethovens Fuge, vom Debussy Quartet gespielt, auch
bei Anne Teresa de Keersmaeker, deren Stück von lässiger Eleganz ist.
Übernimmt Lucinda Childs noch die klassischen Drehungen, Sprünge und
Arabesken aus dem Ballett, so verwandelt de Keersmaeker die Bewegungen,
zieht eine Raumebene mehr ein, lässt die Tänzer als junge Frauen und Männer
von heute auftreten, die sich schalkhaft immer wieder zum Tanz einladen und
herausfordern.
Neben den Glamour der großen Namen setzt das Festival von jeher auf Formate
junger Künstler. Dazu gehörte am Eröffnungswochenende Ola Maciejewska, in
Polen geboren und in Paris arbeitend. Der Schmetterling der Seidenraupe gab
ihrem Stück den Titel, „Bombyx Mori“, drei Capes aus schwarzer Seide werden
von zwei Tänzerinnen und einem Tänzer bewegt zu vielfach verwandelten
Formen.
Zum einen knüpft das an die Serpentinentänze von Loie Fuller an, die vor
über 100 Jahren den Stoff kreisrunder Capes mit Armschwüngen so in Bewegung
versetzte, dass vielfältige einwärts und auswärts laufende Bögen entstehen.
Auch bei Maciejewska taucht diese bewegte Skulptur auf, verändert sich in
surreale Wesen, tief im Dämmerlicht über dem Boden kreiselnd. Zum anderen
nimmt sie die schwarzen Stoffe als Flächen, lässt die Tänzer damit wie in
einem Tangram vielfältige Figuren bauen, ein Haus, ein Schiff, Segel. Dann
wieder wird das Kostüm zum Versteck, zur Verhüllung, bis daraus animalische
und amorphe Wesen hervorgehen.
Das alles ist visuell ein attraktives Spiel, aber auch mehr: Die Beziehung
zwischen Träger und Kostüm, Ausdrückendem und Ausdruck verändert sich, die
Form wird immer mehr zum Autor der Person. Dass die Wesenheiten auf der
Bühne einem immer unheimlicher werden, liegt auch am Sound, der das Wehen
und Schlagen des Stoffes verstärkt und zum Tosen verfremdet.
## Posthumane Mutanten
Als der Entdecker des Schlafmittels Veronal sein Präparat in einem Zug
testete, der von Deutschland nach Italien fuhr, wachte er erst in Italien
wieder auf. Diese Anekdote gehört zur Geschichte der Namensgebung der
Gruppe La Veronal aus Spanien, die ein mit Reminiszenzen an das Kino
durchtränktes Tanztheater machen.
Auf der Bühne des Hebbeltheaters blickte man in ein graues, etwas
runtergekommenes Treppenhaus, in dem immer wieder das Licht ausfällt, Rauch
aus den Wänden dringt, während hinter einem großen Fenster Milchstraßen
vorbeidriften und ein fremder Planet auf Kollisionskurs geht. Kein Zweifel,
wir befinden uns in einem Katastrophenszenario in „Pasionaria“.
Junge Männer in Dienstleistungsuniformen, junge Mädchen in Kniestrümpfen
und Pullunder agieren als Mutanten einer posthumanen Zeit, mit einer
slapstickhaften Mechanik. Deren Komik bestimmt die Dramaturgie mehr als das
apokalyptische Szenario. Wie es die Figuren aus der Bahn wirft, wie sie
fehlgesteuert Beine hochreißen oder unvermutet mit vier Beinen hantieren
müssen, wie Babypuppen als Trophäe ins Spiel kommen, wie Emotionen zwar
sichtbar werden, aber ziellos herumschwirren, das ist in rasante Bilder
gepackt. Als ob die Steuerrungsvorgänge der Figuren zwar mal mit
Erinnerungen an den Menschen gefüttert worden seien, die meisten Teile des
Programms aber kaputtgegangen sind.
Allerdings ist auch etwas mechanisch, wie große Momente von Alarm und dann
wieder Zweier- und Dreier-Szenen miteinander verschnitten sind. Sodass
dieses Zukunftsszenario in der Erzählform an andere, vor vielen Jahren
gesehene Stücke erinnert.
13 Aug 2018
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Tanz im August
Hebbel am Ufer
Klaus Lederer
Berlin
Zeitgenössischer Tanz
Staatsballett
Berliner Volksbühne
Sasha Waltz
Tanz
Tanztheater
Ballett
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