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# taz.de -- Festival „Tanz im August“: Exorzismuswahn, Innereienkulte
> Zwei Uraufführungen: Sasha Waltz sucht in „Women“ nach Ritualen. Arkadi
> Zaides widmet sich in „TALOS“ robotergesicherten Grenzen
Bild: Abendmahl, Beschwörungsgesänge, Blut: alles dabei in „Women“ von Sa…
Meinen die das ernst? Das ist die große verbindende Fragen zwischen den
jüngsten zwei Uraufführungen bei „Tanz im August“. Virve Sutinen,
Direktorin des internationalen Tanzfestivals seit 2014, hat in diesem
Jahr, auch dank eines besseren Budgets, stärker als in den Vorjahren auf
Deutschlandpremieren und Uraufführungen gesetzt.
Während die Auswahl der Premieren qualitativ gut nachvollziehbar ist, hatte
sie mit den Aufträgen für Neuproduktionen Pech. Zwei von drei
Uraufführungen gehören zu den nur lauwarm beklatschten Ereignissen des
Festivals.
Dabei ist auch hier die Wahl plausibel: Mit Sasha Waltz’ Uraufführung von
„Women“ wird die international bekannteste in Berlin ansässige Choreografin
wieder ins Festival zurückgeholt. Mit Arkadi Zaides’ „TALOS“ ein Choreog…
vorgestellt, der in den letzten Jahren mit einem strukturanalytischen
Interesse die Choreografie machtpolitischer Manifestationen unter die Lupe
nahm.
Im europäischen Kontext bekannt wurde er vor allem durch sein Projekt
„Archive“. Darin wird ausgewertet, wie palästinensische Bewohner des
Westjordanlandes, aufgefordert durch B’Tselem, das israelische Zentrum für
Menschenrechte in den besetzten Gebieten, ihre Sicht auf Israelis per
Videokamera festhalten.
## Gepresste Brüsten, geburtsähnliche Szenen
Eher kulturpolitisch unterlegt dürfte dagegen die Entscheidung für Waltz
sein. Ab 2019 wird sie das Berliner Staatsballett leiten, was eine Debatte
darüber auslöste, wie zeitgenössisch die Choreografin eigentlich ist. Für
das Ballett: zu sehr; für den zeitgenössischen Tanz: könnte mehr sein.
„Tanz im August“ hat es auf die Nagelprobe angelegt.
Sasha Waltz wählt dazu ein scheinbar zeitloses Thema: Rituale.
Frauenrituale. Das Tanzvokabular stammt – mal abgesehen von gepressten
Brüsten, geburtsähnlichen Szenen und dem Bezug auf „The Dinner Party“
(1974-79), ein schwülstig-feministisches Kunstwerk von Judy Chicago – aus
imaginierten Ritualen.
Es scheint, dass hier alles, was sich unter dem Begriff vorstellen lässt,
aneinandergereiht wird: Kreis-, Opfer-, Prozessionsformationen,
Anrufungsgesten, Tranceblicke, Off-Balance-Ekstase-Zustände, indisch
anmutende Fingerhaltungen, ballettgeschichtliches Frühlingsopferstampfen,
Exorzismuswahn, die Befreiung des inneren Tiers, Fetisch- und
Innereienkulte, bacchantisch aus dem Ruder gelaufene Reigen, Abendmahl,
Beschwörungs- und Besänftigungsgesänge, Blut (Kunstblut).
Es ist, als befänden sich Apoll und Dionysos zusammen in der
Brainstormphase. Und die 20 Tänzer*innen auf Durchreise durch die
choreografischen Situationen.
Bei allem Können, auf das der weibliche Teil des Ensembles Sasha Waltz &
Guests bauen kann, bei aller erarbeiteten Selbstverständlichkeit der
Gruppendynamik sind die einzelnen Figuren kaum körperlich durchgearbeitet.
Die himmelwärts gerichteten Anrufungsgesten schließen offenbar nicht an
eine innere Technik der Streckung der Wirbelsäule an und können den Raum
nach oben nicht öffnen; die mit tiefer Hüfte seitwärts gerichteten
Kampfposen mit in der Horizontale gestoßenem Bein verbrauchen mehr Energie,
als sie freisetzen. Seltsam für eine Choreografin, die ihr
Bewegungsvokabular einst so exakt durcharbeitete.
War es eine Zeitfrage? Immerhin haut Sasha Waltz mit „Women“ – neben
Wiederaufnahmen, Tourneealltag und Staatsballetttrubel – in diesem Jahr
schon die zweite Uraufführung raus. Dass Sinn und Gewinn dabei gegen null
laufen, dagegen konnte offenbar auch Dramaturg Jochen Sandig nichts
ausrichten. Der ganze ästhetische Kontext wirkt noch weniger durchdrungen
als die einzelne Geste.
Waltz referiert mit ihrer Arbeit einerseits auf den eigenen Kanon und
schließt durch das Setting in der Elisabeth-Kirche, einem klassizistischen
Schinkel-Bau, an ihre Gebäudechoreografien an. Gleichzeitig sind Anleihen
aus ihren Choreografien „Sacre“ und „Jagden und Formen“ sichtbar.
Andererseits nimmt sie Themen aktueller Choreografiediskurse auf: Ritual,
Feminismus mit einer Spiegelung an den 1970ern, eine Entgrenzung des
klassischen Theaterraums. Allerdings ohne Anschlussfähigkeit.
Das Interesse des Tanzes am Ritual kommt aus zwei Richtungen: Clubkultur
und Afrofuturismus – sowie verwandten postkolonialen
Appropriationsexperimenten nichtweißer Künstler*innen, die Zugänge zu
verloren gegangenem oder enteignetem Erbe (unter)suchen. „Women“ scheint
dagegen eher einem modernistisch-exotistischen Ritualverständnis verhaftet.
Ähnlich atavistisch wirkt der Feminismusbezug: die Frau als ihrer
Körperlichkeit in Fruchtbarkeitskulten ausgesetztes Wesen, das sich an sich
selbst abarbeitet. Und das in einem Ernst, der fast Angst macht.
Ernst geht es dann auch bei Arkadi Zaides zu. Auf Telepromptern liest er
den Text zu einer Videopräsentation über TALOS ab. Es handelt sich um ein
zwischen 2008 und 2012 von sieben EU-Ländern und Israel lanciertes Projekt
zur automatischen Grenzsicherung. Es geht um menschenfangende Roboter an
Landgrenzen.
Auf der Videopräsentation sind animierte Punkte zu sehen, die für Menschen
stehen und die später mit Dokumentaraufnahmen, die wahrscheinlich aus
Idomeni stammen, gegengeblendet werden. Zaides raspelt dazu unübertiteltes
Bürokratenenglisch runter. Was nach 2012 mit dem Projekt passiert ist und
ob er jetzt eine NGO für Roboterhacking gründen will, verrät der Sprecher
nicht. Künstlerisch-methodisch kann das kaum ernst gemeint sein, thematisch
fraglos schon.
18 Sep 2017
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Tanztheater
Sasha Waltz
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Ballett
Berliner Volksbühne
Tanz
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