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# taz.de -- Ballettdirektorin des Friedrichstadt-Palasts: „Ich muss Sie ja im…
> Alexandra Georgieva ist seit 2008 Ballettdirektorin am
> Friedrichstadt-Palast. Davor stand sie selbst auf dessen Bühne. Ein
> Gespräch über Disziplin, Applaus und Sudoku.
Bild: Alexandra Georgieva, Tänzerin, Ballettdirektorin, Sudoku-Spielerin, Oma
taz: Frau Georgieva, wir sitzen in Ihrem Büro und Marlene Dietrich schaut
uns von einem Kunstwerk aus zu. Warum hängt die da?
Alexandra Georgieva: Marlene ist mein Idol! Deshalb hängt sie hinter meinem
Schreibtisch, stützt mich und gibt mir kreative Impulse.
Sie haben mit sechs Jahren eine Ballettausbildung angefangen. Wollten Sie
das selbst so oder waren es die Eltern?
Ich war das! Begonnen hatte alles mit drei Jahren. Immer wenn wir Besuch
hatten, wollte ich die Gäste mit einer Performance unterhalten und fing an
zu tanzen. Später spielte ich mit ein paar Mädchen im Sandkasten und eine
erzählte, dass sie zu einer Aufnahmeprüfung für eine Tanzschule geht. Ich
rannte nach oben in den Plattenbau in Plovdiv, wo ich geboren bin, und
sagte zu meiner Mutter: Es gibt da irgendeine Tanz-Schokla, wie die Russen
dazu sagen …
Ich hatte Russisch in der Schule.
Wunderbar, ich auch. Ich wollte da unbedingt hin! „Spinnst du jetzt?“,
fragte meine Mutter. Und ich sagte, nein, tanzen möchte ich unbedingt. Und
da meine Eltern großartig waren, dachten die, na ja okay, vielleicht spürt
sie das innerlich – da müssen wir der Sache mal nachgehen. Und ich wurde
als eines der talentiertesten Kinder genommen. Heute weiß ich, wieso.
(lacht) Es war wirklich meine Berufung.
Wie lange dauerte die Ausbildung?
Drei Jahre lang, das diente der Vorbereitung auf die Staatliche
Ballettschule. Und der Lehrer war so begeistert von meinem Können, dass er
gesagt hat: Das Kind muss nach Sofia.
Das heißt mit neun Jahren an die Staatliche Ballettschule, in einer anderen
Stadt, mit Internat?
Nein. Meine Eltern mussten ihre Stadt verlassen, neue Jobs suchen, alles
nur für mich. Damit das Kind – weil alle sagten, es wäre so talentiert –
seiner Berufung nachgehen kann.
Da haben Sie Ihren Eltern allerhand zu verdanken.
Ein ganzes Leben lang, bis heute. Beide leben noch. (klopft dreimal auf
Holz)
Aber auch sich selbst, wenn ich an die Schinderei denke.
Ja, es waren neun harte Jahre. Aber ich bin so dankbar für diese Zeit. Du
lebst in einem eigenen Kosmos. Du bist von früh bis abends wirklich nur mit
Kunst beschäftigt. Das fand ich fantastisch.
Sie wurden 1985 staatlich geprüfte Bühnentänzerin, wie war das?
Großartig. Ich liebe es, etwas abzuschließen. Ich bin da etwas fanatisch.
Wenn ich etwas beginne, egal ob ich einen Fehler mache oder nicht: Ich
bringe es zu Ende. Vielleicht fühle ich mich deshalb in Deutschland so
wohl, weil hier alles dermaßen klar ist; es gibt eine Abfolge, bei der du
weißt, wo du landest. Diese Disziplin, die die Deutschen vielleicht selbst
nicht spüren, ihr habt die. Und ich finde das wunderbar.
Ihr Gewerbe ist ja auch eins voller Disziplin.
Das ist die halbe Miete, die Selbstdisziplin.
Man muss doch aber auch Talent mitbringen?
Absolut! Bei uns hieß es damals 90 Prozent Wille und Disziplin und 10
Prozent Talent. Übersetzt in unsere Zeit: Du musst Talent haben, viel mehr
als 10 Prozent, damit du den Anforderungen gerecht wirst.
Die Wende kam Ihnen zupass, um von Bulgarien herzukommen?
Es war purer Zufall. Ich kam Ende 1990 nach Berlin. Mein jüngerer Bruder
war wegen mir auch Tänzer geworden. Ich hatte ihn überredet, weil ich
dachte, dass Nikolay genauso talentiert ist wie ich. Und mein Bruder ist
ein toller Tänzer geworden. Er war 14 Jahre lang Solotänzer im
Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. Und ich bin nur wegen meines
Bruders in Deutschland.
Er hat Sie animiert zu kommen?
Warum kommst du nicht auch, sagte er öfter. Du wirst nicht glauben, was es
hier für eine große Theaterlandschaft gibt, jede größere Stadt hat ein
Theater, es ist traumhaft.
Von Schwerin bis Berlin ist es nicht weit.
Ich hatte ihn im Dezember 1990, kurz vor Weihnachten, besucht. Und die
ganze bulgarische Tanz-Clique hier in Ostberlin wusste, dass ich komme. Es
gab damals nur eine Staatliche Ballettschule in Bulgarien, und wir kannten
uns alle, wir waren wie ein Familie: Sie kommt ihren Bruder in Schwerin
besuchen? Dann muss sie auch zu uns nach Berlin kommen.
Jetzt kommt der Friedrichstadt-Palast ins Spiel?
Genau, die Freunde sagten: Fahr nach Schwerin, aber am 11. Dezember bist du
hier in Berlin, weil wir eine Überraschung für dich haben.
Was denn?
Sie fragten, ob ich schon von dem größten Revuetheater Europas, dem
Friedrichstadt-Palast, gehört hätte.
Hatten Sie?
Natürlich. In Bulgarien wurde die TV-Show „Ein Kessel Buntes“ übertragen.
Dadurch kannte ich das Ballett des Friedrichstadt-Palastes und auch das
Haus. Und die Freunde sagten: Pass mal auf, der Friedrichstadt-Palast will
sich erneuern und veranstaltet ein riesiges Vortanzen. Mach mit und zeig,
was du kannst! Und mich hat der Ehrgeiz gepackt, einerseits. Denn
andererseits war ich gerade frisch verheiratet, meine Tochter zwei Jahre
alt, wie sollte das gehen? Meine Familie verlassen?
Und wie ging es?
Mein Bruder hat mir zugeraten: Probier das, dann weißt du, wo du stehst.
Also stand ich am 11. Dezember 1990 in einem großen Ballettsaal, eine von
Hunderten. Das Vortanzen ging stundenlang. Zunächst ein klassisches
Training und schon wurde das erste Mal sortiert. Dann ein modernes
Jazztraining; wieder wurde sortiert. Dann die Arbeit mit den Solotänzern
des Palastes, die mit uns ein paar Nummer tanzten … Sieben Stunden ging das
so, ich war tot. Ein paar blieben am Ende übrig. Und die Erste, die sie in
dieses Büro (das der Ballettdirektorin – Anm. d. Red.) einluden, war ich.
So begann meine Karriere.
Wie klappte damals die Kommunikation?
Lustig war, dass ich damals kein Wort Deutsch konnte, nur Bulgarisch und
Russisch, nicht mal Englisch. Eine Bulgarin übersetzte mich. Irgendwann
lachte sie, drehte sich zu mir und meinte: Sag einfach Ja und Danke – du
bekommst einen Vertrag. Diesen Vertrag habe ich heute noch. Er war damals
nur für sechs Monate ausgestellt.
Und zu Hause in Bulgarien?
Da begannen die Probleme. Ach, meinem Mann zu sagen, Schatz, ich habe ein
Angebot von einem großartigen Theater …. Ich quälte mich zweieinhalb
Monate, um zu entscheiden: Mache ich jetzt eine Familie kaputt oder nicht?
Es klingt furchtbar klischeehaft nach Karrieristin, den Stempel hatte ich
zu Hause sofort weg. Erlaubt mir doch wenigstens die sechs Monate!, flehte
ich. Und Anfang März 1991 war ich hier. Und aus ein paar Monaten sind nun
bald 30 Jahre geworden.
Wollten Sie wirklich nur sechs Monate bleiben?
Ja. Aber als ich da war, kümmerten sich der Palast um Dinge wie einen
Kitaplatz für meine Tochter, eine Wohnung für uns. Wir möchten Sie haben,
deswegen tun wir das alles – das kannte ich nicht aus Bulgarien. Es war
großartig. Ich konnte kein Deutsch, bekam auch da Hilfe. Natürlich habe ich
meine Tochter ein paar Monate später nachgeholt.
Das bedeutete, sich von Ihrem Mann zu trennen?
Es gab keine andere Möglichkeit. Mein Ex-Mann ist Schauspieler, ein ganz
großer Star in Bulgarien. Es war auch hart für ihn, er hat gelitten.
Familie muss zuerst kommen, sicher, aber innerlich war klar, dass ich doch
den richtigen Schritt getan habe. Heute, im Rückblick, weiß ich, dass das
richtig war. Und heute ist alles gut. Ich kann wieder mit meinem Ex-Mann
reden und Mam und Dad sind stolz auf mich. Ich kann ohne Tanz eben nicht
sein.
Warum sind Sie mit klassischer Ausbildung zum Musical-Theater gegangen?
Sie sehen mich, ich bin 1,76 Meter groß – zu groß. Es war von vornherein
klar, wenn ich in der klassischen Welt bleibe, werde ich immer in der
letzten Reihe der Schwäne tanzen. Die klassische Welt braucht kleine,
feine, zierliche Damen, vielleicht 1,65 Meter groß. Und immer hinterste
Reihe, dass wollte ich nicht. An der Ballettschule hatten wir nicht nur
klassische Ballettausbildung, wir hatten Modern Dance nach Martha Graham
und Jazz Dance, das hat mich fasziniert. Ich dachte: Das ist meine
Richtung. Deshalb das Musical-Theater, dort konnte ich moderne Sachen
tanzen. Das alles hat mich auch auf den Friedrichstadt-Palast vorbereitet.
Wie sieht der Arbeitstag der Tänzer und Tänzerinnen hier aus?
Sie kommen gegen 9.30 Uhr ins Haus, machen sich warm und um 10 Uhr beginnt
ein klassisches Training bis 11 Uhr, danach ist kurze Pause für Dusche und
Kleidungswechsel, und ab 11.15 Uhr findet eine der wichtigsten Proben
statt. Wir proben das, was am Tag zuvor in der Vorstellung nicht gut war,
oder wenn jemand krank ist, ersetzen wir den kranken Kollegen. Später das
Einstudieren von neuen Nummern, und dann sind ein paar Stunden frei – und
abends ist natürlich Vorstellung.
Gibt es keine Doppelbesetzungen?
Nein. Es sind wie schon immer 60 Tänzer, 40 Damen und 20 Herren. Die
gesamte Compagnie ist jeden Abend auf der Bühne. Und das Haus braucht diese
60 Tänzer auch, die Bühne ist ja so was von grandios und riesengroß, wir
müssen sie füllen.
Und wenn jemand ausfällt?
Die Struktur ist folgende: Ein Tänzer oder eine Tänzerin hat rund acht
Auftritte als A-Besetzung und dazu muss er oder sie mindestens vier oder
fünf Tänze als B-Besetzung lernen. Wieso? Wenn einer krank ist, springen
andere für die kranke Person ein. Es ist wie Puzzle. Natürlich sind solche
Tage eine Belastung. Aber unsere Tänzer sind hart im Nehmen, sie halten
durch, Tänzer sind sowieso selten krank. Ach, die Compagnie ist großartig,
es gibt einen Ehrenkodex. Und du weißt ja selbst, dass Tänzer-Berufsleben
so kurz sind. Deshalb willst du alles ausschöpfen. Und ehrlich, wenn das
Publikum – jeden Abend rund 2.000 Menschen – applaudiert, das ist herrlich!
Und wenn Sie fragen würden, was mir von der Bühne fehlt …
… gern: Was fehlt Ihnen?
Ich will gar nicht mehr tanzen. Aber mir fehlt der Applaus. Dieser Rausch,
dieses Geräusch des aufbrausenden Beifalls, die Bravorufe! Das ist wie eine
Droge. Das motiviert dich jeden Abend für den nächsten Tag. Das Publikum
jubelt und jubelt und du bist Teil davon, hast dein Bestes gegeben und das
wird wertgeschätzt – das ist traumhaft.
Sie haben ja die Seiten gewechselt.
Na ja, nicht jeder Tänzer kann ein Choreograf werden, das geht gar nicht.
Nicht jeder Tänzer kann ein Ballettmeister werden oder besser: sein. Da
braucht man bestimmte Begabungen außer der des Tanzens. Bei mir fing es
schon vor meinem 30. Geburtstag an, dass ich mich dafür interessierte. Mit
36 Jahren, höchste Zeit, begann ich ein Studium zur Tanzpädagogin, neben
der Arbeit, fast drei Jahre lang. Eine harte Zeit.
Alle Tänzer und Tänzerinnen müssen sich am Ende der Tanzkarriere
umorientieren.
Das ist das Härteste: Weg vom Tanz, weg vom Rausch, vom Sichverausgaben,
denn das ist ja klasse, wenn du das jeden Tag tust … Irgendwann ist der Tag
X da. Deswegen dränge ich meine Tänzer dazu, rechtzeitig zu überlegen, was
sie außer Tanz interessiert; das ist Teil meiner Arbeit. Das Haus versucht,
diese Übergänge gut zu gestalten.
Wie entsteht eigentlich so eine Show?
Produzent und Intendant Berndt Schmidt ruft seine kreativen Köpfe zusammen
und wir sprechen darüber, was die Menschen in zwei Jahren bewegen könnte.
Er gibt einen Anstoß und wir spinnen einfach herum und am Ende gibt es
einen Strauß von Einfällen. Und dann beginnt jeder in seinem Metier zu
überlegen, es entsteht ein Konzept, das wir dann alle mit unserem Knowhow
mit Leben füllen.
Das Glanzstück jeder Show ist die Girl-Reihe …
Die Kickline! Girl-Reihe ist aber auch ein schönes Wort dafür. Ja, sie ist
ein Markenzeichen des Friedrichstadt-Palastes.
Ich habe die letzten vier Shows gesehen: Wie kommt man immer wieder auf
neue Ideen?
Dann haben Sie ja alle meine Kicklines gesehen! Ich muss Sie ja immer
wieder überraschen. Ich kann Ihnen doch nicht immer wieder ähnliche Sachen
bieten. Natürlich ist das gleichmäßige Tanzen der Damen schon mal toll,
aber eine Kickline in die Dramaturgie der Show mit ihrem roten Faden zu
bringen, ist gar nicht so einfach. Allein die Frage, wo genau der Platz in
der Show für die Kickline ist, wo sie denn hinpasst? Ich versuche jedes
Mal, quer zu denken. Und traue mich immer mehr, verrückte Sachen
auszuprobieren und zu experimentieren. So entsteht eine Mischung aus dem
wieder erkennbaren gleichmäßigen Tanzen und etwas Neuem.
Wo holen Sie sich Inspirationen?
Ich gehe nach draußen und lass mich vom Drumherum und von der Natur
inspirieren. Am besten schlendere ich durch die Gegend und beobachte zum
Beispiel die Menschen, wie sie laufen. Da finde ich manchmal Bewegungen,
die mich faszinieren, weil es so Anti-Bewegungen sind. Manchmal inspiriert
mich ein Baum und seine Wurzeln oder Architektur oder klassische Musik; ich
bin ein Fan der Berliner Philharmoniker. Und seit zwei, drei Jahren
beschäftigte ich mich intensiv mit den Entwicklungen des zeitgenössisches
Tanzes in Israel.
Und was machen Sie zur Entspannung? Tanzen?
Nein, nein. (lacht) Ich tanze nicht und mache auch keinen Sport, fragen Sie
meine Kollegen. Ich bin einer der faulsten Menschen geworden, furchtbar.
Was ich mache: Ich geh gern in die Sauna und mache Wellness zur
Entspannung, und ich bin leidenschaftliche Sudoku-Spielerin. Und ich bin
Oma geworden vor einem Jahr. Ich bin eine sehr glückliche Oma, auch wenn
„Oma“ komisch klingt. (lacht)
6 Apr 2019
## AUTOREN
Andreas Hergeth
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