| # taz.de -- 30-jähriges Bühnenjubiläum: Tim Fischer: „Alles auf eine Karte… | |
| > Tim Fischer ist der Edelstein unter den deutschsprachigen Künstler:innen | |
| > der Kleinkunst, preisgekrönt und immer noch rührig wie seit Langem. | |
| Bild: Tim Fischer hat zum Interview ins Literaturhaus an der Fasanenstraße geb… | |
| taz: Wo leben Sie in Berlin? | |
| Tim Fischer: In Wilmersdorf. Wieder mal. Ich bin oft umgezogen in Berlin, | |
| aber Mitte, wie zuletzt, konnte ich nicht mehr aushalten. | |
| War es denn so schrecklich? | |
| Ach, vielleicht nicht schrecklich, aber ich hatte keine Lust mehr auf den | |
| Lärm am Rosenthaler Platz, auf die vielen Touristen, auf dieses nervige | |
| Geräusch der Rollköfferchen. Ich fragte mich irgendwann: Wo sind denn die | |
| Berliner? Ich wohn’ doch in Berlin, da darf man doch erwarten, auch mal | |
| Berliner zu treffen. Aber in Mitte? Eben. | |
| Sie haben doch nichts gegen Städtebegucker, oder? | |
| Gar nichts an und für sich, ich guck’ mir ja auch gern andere Gegenden und | |
| Städte an, aber in Mitte ist mir einfach zu wenig Berlin. In Wilmersdorf | |
| gibt es noch kleine Geschäfte und nicht nur Shops der üblichen Ketten. Wo | |
| ich jetzt wohne, finden sich noch Spuren der Stadt, die Berlin für mich | |
| immer war. | |
| Wie kamen Sie nach Berlin? | |
| 1993 war das, lange her, ein Vierteljahrhundert. Aber ich war schon vorher | |
| mal in Berlin, von Hude aus, dort lebte ich mit meiner Familie zwischen | |
| Oldenburg und Bremen. Die Oma meiner besten Schulfreundin kam aus Berlin. | |
| Sie hatte dort früher ein Feinkostgeschäft und erzählte immer so spannende | |
| Geschichten: Wenn der Willy Fritsche und die Frau Kaschorke … Und je mehr | |
| sie erzählte – ihre Familie konnte ihre Anekdoten schon nicht mehr hören | |
| und sagte, kannste nicht mal Tim anrufen, dem erzählst du das alles, der | |
| hört das so gern –, desto mehr wollte ich selbst hin. | |
| Und wurde Ihr Jugendtraum wahr? | |
| Und wie. Ilse brachte mir aus Berlin Schellackplatten mit. Ich war, | |
| vierzehn Jahre jung, begeistert, voll fixiert auf die 20er, 30er Jahre, auf | |
| die Atmosphäre, die man heute aus der Serie „Babylon Berlin“ kennt, diesem | |
| Mythos echt erlegen. Schon die Fahrt war aufregend. Und dann zeigte sie mir | |
| die ganze Stadt – zu Fuß. | |
| Westberlin, oder? | |
| Ja, klar, den Westen, nicht den Osten. Als wir aber einmal zur Mauer kamen, | |
| ging sie zu dicht heran, da sagte ein Grenzer, gehen Sie weg, und Sie | |
| schnodderte nur zurück: Was erlauben Sie sich? Das ist unsere Seite, man | |
| wird ja noch einen Schritt herantreten dürfen … Unverschämtheit. Sie war | |
| voll auf Konfrontation. | |
| Sah es denn so aus wie erhofft? | |
| Ich hatte die Illusion, dass das Berlin, das ich sehen würde, nur ein | |
| bisschen wie in der Weimarer Republik aussieht. Und die wurde sehr erfüllt. | |
| Im U-Bahnhof Nollendorfplatz, das ahnt man ja heute nicht mehr, war nix | |
| los, da war ein Flohmarkt in den alten U-Bahn-Waggons. Es gab Berliner | |
| Buletten mit viel Brötchen drin, da trank man Berliner Weiße … Berlin war | |
| wahnsinnig ruhig, zugleich sah man auch noch Kriegsschäden. Und im | |
| Ku’damm-Karree gab es einen gigantischen Filmflohmarkt – das hat mich alles | |
| sehr inspiriert. | |
| Sie wollten dort auch leben. | |
| Das war für mich sonnenklar: Ja, da will ich leben, Berlin soll meine Stadt | |
| werden. | |
| Hamburg – eine Zwischenetappe? | |
| Ein kleiner Umweg, aber ein nötiger. Im Schmidt-Theater auf St. Pauli, wo | |
| Corny Littmann und Ernie Reinhardt 1988 das erste offen queere | |
| Kleinkunsttheater aufgemacht hatten, trat ich als 17-Jähriger in der | |
| legendären Tresenshow auf. Kurz darauf präsentierte ich auf der großen | |
| Bühne meinen ersten eigenen Chansonabend. | |
| Mit Liedern von Zarah Leander? | |
| Ja, aber eigentlich habe ich nur meine norwegische Großmutter parodiert. | |
| Bitte? | |
| Meine Mutter stammt aus Norwegen, und meine Oma sprach wie Zarah Leander, | |
| die war fast vom selben Jahrgang. Eine beeindruckende Person. Zarah wurde | |
| eine Art dritte Großmutter für mich und meine Großmutter prompt zu einem | |
| Filmstar. | |
| Wer war Zarah Leander politisch für Sie, immerhin war sie der Star des | |
| NS-Kinos schlechthin. | |
| Ihre Lebensgeschichte verdient einen genauen Blick. Für mich, der als | |
| Teenager auf sie guckte, wirkte sie wie ein Travestiestkünstler, diese | |
| dunkle Stimme, es hieß immer, na, das Pferd kommt auf die Bühne. Was mich | |
| faszinierte, war die Diskrepanz zwischen dem gewünschten Frauenbild dieser | |
| Zeit – Zarah war ja kein biederes Blondchen, sondern von ihrer Erscheinung | |
| her sehr exotisch, hatte knallrote Haare. Und der Name Zarah klang fast wie | |
| Sarah. Joseph Goebbels soll sich bei ihr beschwert haben, ihr Name klinge | |
| zu jüdisch, woraufhin die Leander erwiderte, nun, mag sein, aber wie | |
| verhält es sich mit Joseph? Sie hatte zweifellos ihren ganz eigenen Witz. | |
| Schade, dass sie sich hat vereinnahmen lassen. Sie wollte keinen Zwiespalt | |
| wagen, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. In ihrer Babelsberger | |
| Blase war die Welt noch in Ordnung. | |
| In der Nachkriegszeit wurde sie erst recht zur schwulen Ikone – die | |
| Alterstourneen der Leander wurden von den Homos ihrer Zeit getragen. | |
| So ist es, und so war es auch bereits in den Kriegszeiten. Der offen schwul | |
| lebende Bruno Balz, einer der wichtigsten Autoren der 20er und 30er Jahre, | |
| wurde Anfang der 40er Jahre von den Nazis ins Gefängnis gesteckt und war | |
| faktisch auf dem Weg ins KZ. Zarah Leander erwirkte seine Freilassung mit | |
| der Begründung, ohne seine Mitarbeit könne sie die Lieder für den | |
| Propagandafilm „Die große Liebe“ nicht fertigstellen. Balz wurde das | |
| Ultimatum gestellt, innerhalb von zwölf Stunden drei Songs für sie zu | |
| kreieren. So entstanden unter anderem die Hits „Davon geht die Welt nicht | |
| unter“ und „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. | |
| Andere Künstler hörten eher Punk – warum berührte Sie die Zeit der Weimarer | |
| Republik so stark? | |
| Die Lieder aus dieser Zeit haben ausgedrückt, wie ich mich fühlte und was | |
| ich selber nicht in Worte fassen konnte. Punk? Den hörten meine Eltern, so | |
| wie sie auch die Beatles mochten. Die Songs von Marlene Dietrich, Friedrich | |
| Hollaender, Kurt Tucholsky, die Texte von Erich Kästner und Bertolt Brecht | |
| gaben mir die Möglichkeit, mich mitzuteilen, meine Sehnsüchte zu | |
| formulieren. Ich fand in der Kunst Antworten, die ich im Alltag nicht | |
| bekam. | |
| Ist es eine Art Natur, als schwuler Mann die Weimarer Zeit wieder aufleben | |
| zu lassen? | |
| Ich weiß es ehrlich nicht. Mir geht es um Geschichten, die nicht nur an der | |
| Oberfläche bleiben. Friedrich Hollaender hat ja nicht nur Filmschlager, | |
| sondern vor allem auch Chansons geschrieben, die dem Zuhörer etwas | |
| abverlangen. | |
| Sie haben auch Lieder von Rainer Werne Fassbinder im Repertoire, von Hans | |
| Magnus Enzensberger … | |
| … damit musste sich mein Publikum erst anfreunden, mit Alltagspoesie wie | |
| Fassbinders „Freitag im Hotel“. Hier wird die schnelle Begegnung zweier | |
| Menschen im Stundenhotel beschrieben, die Ambivalenz zwischen Reiz und | |
| Ekel. | |
| Worum geht es in Ihrer neuen Produktion zum 30. Bühnenjubiläum, die Sie | |
| „Zeitlos“ nennen? | |
| Ich halte keine wehmütige Rückschau, ich kann auch mit Geburtstagen nicht | |
| viel anfangen. All diese Daten sind bestenfalls Anlass, eine schöne Party | |
| zu feiern. Dies tue ich mit meiner vierköpfigen Band und serviere sowohl | |
| alte als auch neue Lieder, die sich unter dem Begriff „Zeitlos“ fassen | |
| lassen. Ich möchte mich gerne bei meinem treuen Publikum – klingt das | |
| altbacksch? – bedanken, denn es geht meinen Weg mit. | |
| Ohne Krisen kein Künstlerleben. Und Sie schonten sich auch nicht. | |
| Nein. Heroin war nicht im Spiel, aber Alkohol und Tabletten, hinter der | |
| Bühne kriegte man immer etwas in die Hand gedrückt. Ich war kein Kind von | |
| Traurigkeit. Wollte alles ausprobieren. Aber ich habe schnell gemerkt, dass | |
| ich unter Drogen nicht arbeiten kann, ich will mich ja nicht selbst zu | |
| Tränen rühren, sondern das Publikum bewegen. | |
| Woran hat’s gelegen? | |
| Ein Gefühl von Verbranntsein spielt mit rein. Manche Menschen müssen auf | |
| die Schnauze fallen, ich gehör’ vielleicht dazu. Ich war nach meinem ersten | |
| Erfolg in einer Findungsphase, unglückliches Verliebtsein kam hinzu, ich | |
| war 18, konnte nicht so einordnen, wer mein Freund ist und wer nicht. Wer | |
| will sich mit mir nur schmücken? Ich hatte tausend Freunde und gleichzeitig | |
| auch niemanden. | |
| Erfüllt Sie Ihre Karriere mit Stolz? | |
| Nein, Stolz klingt wieder so nach Rückschau, ich schaue nicht gern zurück. | |
| Im Laufe der letzten 30 Jahre ist bei mir künstlerisch wahnsinnig viel | |
| passiert, ich habe tolle Menschen getroffen, habe mit Georg Kreisler über | |
| zehn Jahre zusammengearbeitet. Andererseits fängt man mit jedem neuen | |
| Projekt wieder bei Null an. Das ist auch anstrengend, weil es immer ein | |
| Moment von Ungewissheit enthält. Aber sonst würde man immer dasselbe | |
| liefern. | |
| Ihre Worte klingen, als begleiteten Sie sich selbst mit leichter Skepsis. | |
| Nein, aber ich bin in einer Produktionsphase, in der noch viel zu tun ist. | |
| Am Premierenabend stellt sich erst heraus: Ist es ein Junge oder ein | |
| Mädchen oder eine Transe? So oder so: Man freut sich, wenn das Kind den | |
| ersten Schrei tut. | |
| Hat es Sie beglückt, in der Serie „Babylon Berlin“ mitzuspielen? | |
| Ja, sehr! Für die nächste Staffel habe ich mit meinem Bandleader Oliver | |
| Potratz sogar einen Song im Stil der 30er Jahre geschrieben. Das Texten | |
| ist für mich spannendes Neuland. | |
| Ist das Berlin dieser Serie eines nach Ihrem Geschmack? | |
| Man kommt nach Babelsberg, in eine riesige Studiolandschaft der 30er Jahre | |
| und wird förmlich von dieser Atmosphäre aufgesogen. Das ist toll, ja. Aber | |
| ich will nicht zwanghaft alles Alte bewahren, Berlin ist im Umbruch, das | |
| war immer so und wird so bleiben. Manchmal fehlt mir eine kleine Prise | |
| Normalität, die den Alltag erträglicher macht. | |
| Was meinen Sie mit Normalität? | |
| Dass man in seinem Viertel einen Schlachter findet, beispielsweise. | |
| Überhaupt kleine Fachgeschäfte. Und dass man mit den Leuten ins Gespräch | |
| kommt, in Gelassenheit. | |
| Im Booklet Ihres „Zeitlos“-Albums steht, die Zeiten seien rauer geworden. | |
| Wirklich? | |
| Es geht um den Geist, der durch meine neuen Lieder weht. Etwa in einem Song | |
| über Politikverdrossenheit, den Sebastian Krämer geschrieben hat. Ich nehme | |
| die zwiegespaltene Stimmung im Land deutlich wahr. Selbst im eigenen Kreis | |
| stehe ich immer häufiger fassungslos den Aussagen von Menschen gegenüber, | |
| die ich bisher für offen und tolerant gehalten habe. Das reicht vom Thema | |
| Flüchtlinge über den Klimawandel bis hin zu den hart erkämpften | |
| Errungenschaften im lesbisch-schwulen Bereich. | |
| Wieso wird Ihre Kunst Kleinkunst genannt? | |
| Das ist nicht abwertend gemeint, vielmehr geht es um den Ursprung dieser | |
| Kunstform, die früher vornehmlich in kleinen Clubs aufgeführt wurde. | |
| Was sehen Sie auf den Plakaten zur Jubiläumsshow, auf denen Sie so | |
| selbstvertrauend gucken? Was würde der kleine Tim, der Sie waren, erkennen? | |
| Den Jungen, der permanent gesungen hat, ganz früh „Lili Marleen“ … | |
| … das Landserlied der Wehrmacht. | |
| Und Antikriegslied, wenn Marlene Dietrich es an der Front sang. Wenn „Lili | |
| Marleen“ gespielt wurde, schwiegen die Waffen. Das jagt mir heute noch | |
| einen Gänsehautschauer über den Rücken. Ich habe es als Neunjähriger | |
| inbrünstig vorgetragen, von Tür zu Tür. | |
| Der kleine Tim wäre zufrieden mit dem großen Tim? | |
| Streckenweise. Ich habe den Kontakt zum Kind in mir nicht verloren, es ist | |
| für meine Arbeit nach wie vor wichtig. Überhaupt auf die Bühne zu gehen, | |
| das entsprang dem Wunsch, geliebt zu werden. Ich wurde nicht als Rampensau | |
| geboren, mir war es als Außenseiter wichtig, Zuspruch zu bekommen und | |
| geschätzt zu werden. Die Aussagen der Lieder haben mir die Kraft gegeben, | |
| nach vorne zu gehen. | |
| Sind Ihre Eltern stolz auf Sie und Ihren Weg? | |
| Selbstverständlich. Ich kann es manchmal selbst kaum fassen, dass ich nach | |
| 30 Jahren immer noch in meinem Beruf arbeiten darf. Manchmal muss man alles | |
| auf eine Karte setzen. | |
| Sie wollten ein besseres Leben? | |
| Ich hatte als Kind ein gutes Leben, aber ich wollte in die weite Welt | |
| hinaus – aus freien Stücken. Anders als zum Beispiel die Geflüchteten, die | |
| es zu uns schaffen. Es ist traurig, wie viel Hass ihnen entgegenschlägt! | |
| Niemandem wird hier etwas weggenommen. Die meisten Leute, die sich | |
| mokieren, sind noch nie mit Geflüchteten in Berührung gekommen. Dabei | |
| müssen wir doch realisieren, dass diese Menschen vor Hunger und Krieg | |
| geflohen sind. | |
| Sie sagten einmal, als junger Mensch sei man gezwungen zu kämpfen. Sagt | |
| sich das nicht zu leicht? | |
| Es klingt in der Tat leichter, als es ist. Nach meinen Konzerten erlebe ich | |
| öfter, dass junge Menschen zu mir kommen und mir sagen, ich hätte sie | |
| ermutigt, die zu sein, die sie selbst sein wollen. Meine Biografie habe | |
| ihnen Mut gemacht, sich zu outen und sich gegen Erwartungen anderer | |
| durchzusetzen. Das freut mich einerseits. Andererseits stimmt es mich | |
| traurig, dass die Umstände heute noch so sind: dass Ermutigung gebraucht | |
| wird – für Selbstverständliches. | |
| Sind Sie noch ab und zu in Hude? | |
| Natürlich. Ich habe nach wie vor gute Freunde dort, und auch die Leute, die | |
| mir in meiner Jugend mit Skepsis begegneten, sind heute aufgeschlossen und | |
| freundlich zu mir. Wahrscheinlich haben sie begriffen, dass Vielfalt eine | |
| Bereicherung ist. Ich wünsche mir einfach von Anfang an mehr Offenheit | |
| gegenüber jungen Menschen, die nicht von vornherein in eine von der | |
| Gesellschaft vorgefertigte Schublade passen. Überhaupt wird die junge | |
| Generation oft sehr pauschal beurteilt. | |
| Inwiefern? | |
| Man tut sie einfach als viel zu desinteressiert ab, wenn man sagt: „Die | |
| glotzen ja nur auf ihre Handys und kümmern sich um nichts.“ Meine Erfahrung | |
| ist eine ganz andere. Junge Menschen machen sich Gedanken über | |
| Nachhaltigkeit, sie beschäftigen sich mit Problemen, die nicht nur ihre | |
| eigenen sind, sie sind wach und kämpferisch, so wie wir früher. Es heißt | |
| ja, man solle Respekt vor dem Alter haben. Gut, ja, richtig. Ich vermisse | |
| jedoch den Respekt vor der Jugend. | |
| 13 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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