# taz.de -- Eine Zeitreise in die 90er Jahre: Mit der Discoqueen in der Lederbar | |
> Einmal trat Amanda Lear – eine schwule Ikone – beim Lesbisch-schwulen | |
> Straßenfest auf. Unser Autor hat sie damals interviewt und nach ihrer | |
> Vergangenheit befragt. | |
Bild: Posen geht immer: Amanda Lear im Theater des Westens auf dem Roten Teppic… | |
Als ich gefragt wurde, ob ich was Retrospektives schreiben möchte, habe ich | |
zunächst gezögert, Nostalgie ist nicht so meine Sache. Aber dann bin ich | |
doch mit Lust eingetaucht in die Soße der Vergangenheit, man muss es nur | |
zulassen, dass sie hochkocht. | |
Derzeit laufen die Filme [1][„The Book Club“] mit einer bis zum Anschlag | |
konservierten spindeldürren Jane Fonda, deren Charakter zudem noch den | |
Spitznamen „Slim“ hat. Und [2][„Mamma Mia. Here We Go Again“] mit Cher … | |
einer Nebenrolle – als glamouröse Großmutter. Unwillkürlich musste ich an | |
meine Begegnung mit Amanda Lear im Jahre 1995 denken. Sie war genauso | |
barbieesk und makellos wie die Vorgenannten, hervorragend geeignet als Role | |
Model für all jene schwulen Jungs, für die Älterwerden keine Option ist. | |
Dabei war Amanda damals natürlich viel jünger als Fonda und Cher heute. | |
Aber will man wirklich aussehen wie die Popdiva? Ein Gesicht haben, in dem | |
sich nur mehr der Mund bewegt? Und ihr staksiger Gang erinnert heutzutage | |
mit Verlaub doch ziemlich an den von Goldie Hawn und Meryl Streep in „Der | |
Tod steht ihr gut“. | |
Aus irgendwelchen Gründen nähren solche unkaputtbaren „Ikonen“ wie die | |
Popsängerin bei einer Reihe von schwulen Männern die Illusion, man könne in | |
Würde altern. Nun ja, mit entsprechendem Budget und einem Zauberspiegel | |
kann man zumindest für sich den Anschein erwecken und sich einbilden, man | |
hätte ein wenig Würde mitgekauft. Frau Lear jedenfalls lief noch 2012 mit | |
73 für eine Schau von [3][Jean-Paul Gaultier], saß im Mai 2018 bei ihm in | |
der ersten Reihe und wirkt fast alterslos. Fast. Immer noch eine weitere | |
Verkörperung des schwulen Traums von der ewigen Jugend? | |
## Glam Rock und Disco-Ära | |
Die Discoqueen war 1995 – neben Islands schwulem ESC-Star Páll Óskar – f�… | |
das [4][Lesbisch-schwule Straßenfest] engagiert (während die Bühnen | |
[5][heute fest in der Hand von LokaltmatadorInnen] sind; gute oder | |
schlechte Entwicklung?). Und ich hatte als Leitender Redakteur des schwulen | |
Magazins [6][Männer aktuell ] – das in Berlin gemacht wurde – die Ehre, | |
Madame zum Interview zu treffen. | |
Ach ja, die glamourösen 90er. Ich war in der Jury für ein Casting des | |
[7][Berliner Pornolabels Cazzo] für einen seiner frühen Filme, drehte mit | |
Erika Berger fürs Privatfernsehen oder kürte zusammen mit anderen „Promis“ | |
in Dresden den Mr. Gay Sachsen. Man kam herum, nahm sich wichtig – und | |
alles mit viel Glitzer. Denn man weigerte sich hartnäckig, das Ende von | |
Glam Rock und Disco-Ära zu akzeptieren. Und das seit Jahr(zehnt)en. | |
Die berühmten 15 Minuten Ruhm waren schnell vorbei. Nun fand ich mich in | |
den Räumen des [8][New Action] (damals wie heute eine Lederbar mit | |
Darkroom) ein, um im kalten Rauch und Poppersmief Amanda Lear für ein | |
Interview zu treffen. Nicht besonders glamourös für eine Discoqueen, aber | |
effektiv fürs Heft. | |
## Früher war eben nicht alles besser | |
Madame war zum Glück hochgradig umgänglich. Sie berichtete von einer | |
bevorstehenden [9][Aids-Gala] in Paris, bei der sie zusammen mit Grace | |
Jones, Gloria Gaynor und Boney M auftreten würde, was sie als „Geriatrisch | |
Disco“ bezeichnete. „They are too ooold for me, das nenne ich pure | |
Nostalgie.“ Da lag sie ganz auf meiner Linie, denn „So toll war Disco auch | |
wieder nicht. Das Komische ist immer: Was vorbei ist, ist immer besser.“ | |
Früher war eben nicht alles besser, sondern nur anders. Und überhaupt kämen | |
die Leute nur wegen ihrer alten Platten und „eigentlich, um zu schauen, ob | |
ich noch lebe“. | |
Dann unterbrach ein Impresario unser Gespräch und geleitete sie zur Bühne | |
direkt neben dem legendären Fugger-Eck und einem Stundenhotel. Amanda | |
raunte mir noch zu: „Wir reden gleich weiter“, und schon war sie in den | |
Schwaden der Nebelmaschine verschwunden, um aus denselben wieder | |
aufzutauchen und Hits wie [10][„Follow Me“] zu singen. Am Ende holte sie | |
ein paar Fans auf die Bühne, die um sie herumtänzelten. Schöneberg war aus | |
dem Häuschen. Und sie hielt Wort und kam zurück. Nice! | |
Was sie nicht wusste, war, dass ich einige ihrer Drag- und | |
Transgender-Weggefährten aus ihrer Pariser und auch Berliner Zeit kannte, | |
die Stein und Bein schworen, mit ihr zusammen aufgetreten zu sein, sie | |
zumindest aus den entsprechenden Zusammenhängen zu kennen. Sie hätte sich | |
damals Peki d’Oslo genannt, hieß es. In diversen Memoiren ist das | |
nachzulesen, etwa bei [11][Romy Haag], bei der britischen Doyenne April | |
Ashley oder bei der französischen Transgenderlegende (hier passt das Wort | |
ausnahmsweise mal) Coccinelle. | |
Gelegentlich ging Lear gegen diese „Verleumdungen“ gerichtlich vor. | |
Natürlich habe ich sie auch danach befragt. Sie blieb ganz cool, hatte sie | |
doch bereits zu Anfang unseres Gesprächs gepeilt, dass ich ebenfalls mal | |
gefummelt habe, wie das früher hieß. Zum Beispiel im „Chez Romy Haag“, dem | |
Club von Romy Haag, Anfang der 80er Jahre. Lear dementierte wie gewohnt: | |
„Das ist nicht wahr. Das war jemand anderes. Wenn du die Biografien liest, | |
wenn ich all das gemacht hätte, müsste ich ja 65 oder gar unsterblich | |
sein.“ Ich so: „Ein schöner Schlusssatz.“ | |
## Einer ihrer Songs heißt „Enigma“ | |
Ihre Replik sagt eigentlich alles: „Noch nicht ganz. Dieses Jahr ist der | |
100. Todestag von König Ludwig. Und der hat gesagt: ‚Ich möchte ein Enigma | |
sein. Für die anderen und für mich.‘ Auch einer meiner Songs hieß Enigma. | |
Voilà!“ | |
Das war ja so gut wie ein Outing, schließlich war ja auch der bayerische | |
König als Junge geboren worden, was Amanda für sich aus ihrer Biografie | |
gestrichen hatte. Nicht wie die Vorgenannten, die dadurch zu | |
trans*-Vorkämpferinnen geworden sind. Sie hatte vielleicht immer nur für | |
sich gekämpft. | |
Anyway, zu guter Letzt gab sie mir mit: „Tschuuuß! I don’t care what you | |
write, just put a beautiful photo.“ Damit war sie immerhin angenehm weit | |
entfernt vom Autorisierungswahn der Jetztzeit, in der jeder Schuhverkäufer, | |
jede Bartschneiderin, jeder Abgeordneten-Azubi sein Zitat freigeben möchte, | |
und sei es nur ein einsilbiges „Hach!“. | |
Damals, 1995 und in den folgenden Jahren, konzentrierte man sich mehr aufs | |
Äußere. Hauptsache, die Frisur saß. Modisch waren die 90er Jahre | |
unbedeutend und bislang verstörend: Buffalos mit Plateausohlen, bauchfreie | |
Tops, und der Tattoowahnsinn begann. George Michael setzte neben Madonna | |
den Trend, sich Kreuze um den Hals und ans Ohr zu hängen. All das | |
selbstverständlich auch auf der Motzstraße zu besichtigen. Bei | |
Aufreißversuchen und Anbahnungsverrenkungen kamen damals immer noch die | |
Aidsängste hoch, und man ging wenigstens noch halbwegs gut frisiert ins | |
Bett, wenn auch meist allein. | |
## „I am the key to your problem“ | |
Berliner Szenelokale hießen Lipstick oder Pool, waren cool und nüchtern, | |
schienen etwas von den gefliesten Läden der 80er mitgenommen zu haben. | |
Alternativen zum Allzuschick gab es in den verschiedensten Varianten: Das | |
Café Anal, Mr X, Stiller Don oder Burgfrieden ziehen da vorbei … Ostberlin | |
und Westberlin kamen sich langsam auch ausgehtechnisch näher, und der | |
Soundtrack dazu stammte schon zaghaft von Rosenstolz, diesem erstaunlichen | |
Phänomen deutsch-deutscher Tonart, dessen Karriere in den 90er Jahren | |
begann, dann kräftig anzog und jenes Jahrzehnt um einiges überdauerte. | |
Vermutlich, weil sie immer authentisch waren und blieben. | |
Nicht auszudenken, wenn AnNa R. und [12][Peter Plate], die beiden waren | |
[13][Rosenstolz], in die Fänge einer sphinxhaften Frau wie Amanda Lear | |
geraten wären: „I am the key to your problem / So follow me / just follow | |
me / Unbelievable maybe / You’ll have a new identity / … / I want to change | |
your destiny.“ Bloß nicht! Rosenstolz blieben authentisch und ließen die | |
90er Jahre hinter sich. Wie auch Amanda Lear und Cher. Letztere hat | |
allerdings ihr Gesicht von damals mitgenommen. | |
4 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.imdb.com/title/tt6857166/ | |
[2] https://www.imdb.com/title/tt6911608/ | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Paul_Gaultier | |
[4] https://www.stadtfest.berlin/de/index.html | |
[5] /26-Lesbisch-schwules-Stadtfest-Berlin/!5518370 | |
[6] https://www.facebook.com/maenner.magazin/ | |
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Cazzo_Film | |
[8] http://www.newactionberlin.de/ | |
[9] https://www.kuenstlergegenaids.de/ | |
[10] https://www.mojvideo.com/video-follow-me-amanda-lear/4444eab5d46b0fb45061 | |
[11] https://romyhaag.de/ | |
[12] /Peter-Plate-ueber-Rampensaeue-und-Flops/!5035411 | |
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Rosenstolz | |
## AUTOREN | |
Frank Hermann | |
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