# taz.de -- Zehn Jahre Radialsystem: Grausamkeit tanzt mit Empathie | |
> Die Veranstaltungsreihe UM:LAUT präsentiert an zwei Abenden Ergebnisse | |
> ihrer interdisziplinären Arbeit. | |
Bild: Notwist-Frontmann Markus Acher aka Rayon stellt sein neues Album „A Bea… | |
Mit dem Radialsystem, das vor zehn Jahren in einem ehemaligen | |
Abwasserpumpwerk mit integriertem Neubau in bester Spreelage eröffnete | |
wurde, ist eine Spielstätte mit einem bemerkenswert interdisziplinären | |
Programm entstanden. Seit fünf Jahren gibt es dort mit [1][UM:LAUT] eine | |
[2][Veranstaltungsreihe,] die den genreübergreifenden Ansatz des Hauses auf | |
eine manchmal leicht kunstbeflissene, meist aber experimentierfreudige und | |
erfreuliche Weise auf den Punkt bringt: UM:LAUT hat sich zu einer | |
Spielwiese entwickelt, die Schnittmengen zwischen Musikstilen erkundet und | |
auf der Musiker sich auch in Gefilden ausprobieren können, mit denen man | |
sie nicht auf Anhieb assoziiert. | |
Außerdem wird auf dieser Spielwiese auch der Austausch mit anderen | |
Disziplinen gesucht, etwa mit dem Tanz (schließlich ist das Radialsystem | |
auch ein Ort dafür: Sasha Waltz’ Tanzkompanie tritt nicht nur dort auf, | |
sondern probt auch in den Räumen). Zudem zieht die Reihe ein | |
aufgeschlossenes, interessiertes Publikum an – was für das Gelingen einer | |
Veranstaltung wichtig, gerade im hyperanfälligen Berlin jedoch keineswegs | |
selbstverständlich ist. | |
Anlässlich des Geburtstages gibt es nun zwei Abende, die die Qualitäten der | |
Reihe illustrieren: Am kommenden Sonntag werden erst einmal experimentelle | |
Klänge und Ausflüge in die weite Welt zusammengeführt. Ein solchen hat das | |
britische Duo Piano Interrupted für sein aktuelles Album „Landscapes of the | |
Unfinished“ (erschienen beim ambitionierten Denovali-Label) unternommen. | |
Der Pianist Tom Hodge und der für elektronische Basteleien zuständige Franz | |
Kirmann fuhren in den Senegal, wo Kirmann aufgewachsen ist, und luden | |
lokale Musiker zu Live-Sessions ein. | |
Die auf YoutTube zu sehende Making-of-Doku übrigens lohnt sich. Mit den | |
dort entstandenen Aufnahmen und Soundschnipseln aus dem senegalesischen | |
Radio gingen Hodge und Kirmann, die sonst an der Schnittstelle von | |
Minimalismus und clubkompatibler Electronica arbeiten, ins Studio und | |
bastelten reduzierte, aber spannungsreiche Tracks. Zwar ist jedes Stück | |
nach dem Musiker benannt, der ihn inspirierte, nach Weltmusik klingt das | |
allerdings nie. | |
Die Sounds wurden dekonstruiert, zerhackstückelt und neu zusammengesetzt: | |
ein globaler Sound der anderen Art. Der Sound von Westafrika scheint | |
allenfalls als verblichene Postkarte wie durch Milchglas durch. Für das Duo | |
war bei der Arbeit an dem Album wichtig, sich von den Live-Situationen | |
anregen zu lassen, statt nur im Computer Sounds hin und her zu schieben. | |
## Pausen, so wichtig wie die Töne | |
Etwas prominenter sind die Weltmusik-Anleihen beim Notwist-Mastermind und | |
Frontmann Markus Acher, der am selben Abend auftreten wird. Acher | |
veröffentlicht seinen Solo-Output seit Jahren unter dem Namen Rayon, mit | |
diesem Projekt hat er unter anderem Soundtracks mit eher repetitiven | |
Klangwelten geschaffen. Für das aktuelle Album, „A Beat of Silence“, das | |
auf eine Einladung des Münchner Experimental-Festivals Frameless | |
zurückgeht, ließ er sich von Gamelan anregen. Die traditionelle | |
indonesische Musik beeinflusste auch zentrale Figuren der Minimal Music wie | |
Steve Reich: Ensemblemusik, wie sie besonders auf den Inseln Java oder Bali | |
gespielt wird und bei der perkussive Instrumente wie Glocken, Xylofone oder | |
Gongs eine wichtige Rolle spielen. Wie der Albumtitel andeutet, sind Acher | |
die Pausen zwischen den Tönen genauso wichtig wie die Töne selbst. Die | |
wurden in dem Fall vor allem analog erzeugt. Allerdings waren keine | |
traditionellen indonesischen Instrumente im Einsatz, sondern Klavier, | |
Harmonium, Vibrafon, Marimbafon, Glockenspiel und Percussioninstrumente. | |
Eher ging es Acher, so erklärt er in einem Interview, darum, eine | |
Gamelan-Atmosphäre zu erzeugen, als Gamelan nachzubauen. | |
Unterstützt wird die Live-Premiere des Rayon-Albums von fünf Mitmusikern, | |
unter anderem von Cico Beck aka Joasihno, der auch bei Notwist mittlerweile | |
eine prominente Stelle besetzt – die, die früher Elektroniktüftler Martin | |
Gretschmann hatte. Bei sechs Musikern auf der Bühne darf man davon | |
ausgehen, dass das Ganze dynamischer klingt als das verfrickelte Album, auf | |
dem die Sounds eher lose miteinander verknüpft sind. | |
Drei Wochen später geht die Geburtstagssause weiter mit einem weiteren | |
Gastspiel des Londoner Tanzensemble Neon Dance, das vor drei Jahren an | |
gleicher Stelle mit dem großartigen Tanzduett „The Intention“ auftrat, | |
seinerzeit begleitet vom Pianisten Nils Frahm und der Cellistin Anne | |
Müller. Diesmal sind für das Stück „Empathy“ fünf Tänzer auf der Bühn… | |
Musik kommt von Mads Brauer und Casper Clausen (von den dänischen, in | |
Berlin arbeitenden Experimental-Indie-Bands Efterklang und Liima) und von | |
Shahzad Ismaily und Gyða Valtýsdóttir (von der Pop-Band Múm aus Island). | |
Inspirationen für das mit Lasertechnik in Szene gesetzte Tanztheater um die | |
menschliche Fähigkeit zum Mitgefühl (und dessen Mangel) gaben übrigens die | |
Forschungen des Cambridge-Professors Simon Baron-Cohens („Zero Degrees of | |
Empathy“). In gruseligen und dunklen Zeiten wie diesen ist es vielleicht | |
gar keine schlechte Idee, Grausamkeit und Empathie einfach einmal | |
zusammenzuführen und miteinander tanzen zu lassen. | |
20 Nov 2016 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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