# taz.de -- Essays zum Pop: Die Musik ist größer als wir | |
> Casablanca, Jamaika, New York – Jace Clayton reist an versteckte Orte des | |
> globalisierten Pop und hat ein Buch darüber geschrieben. | |
Bild: Reggae-Party in Kingston, Jamaika, 2015 | |
Reisender in Sachen Musik, das klingt verdächtig nach Handelsvertreter und | |
Geheimdiplomat. Auf Jace Clayton trifft beides nicht zu, und doch bleibt er | |
ein Reisender in Sachen Musik. Unter seinem Künstlernamen DJ/rupture legt | |
der New Yorker rund um den Globus Platten auf (seit er 2001 mit dem Mix | |
„Gold Teeth Thief“ international bekannt wurde) und produziert zudem selbst | |
in wechselnden Konstellationen Musik, etwa mit der holländischen Band the | |
Ex. | |
Aber, der Mitdreißiger bietet nicht nur an, er fragt auch nach und gibt | |
sein Wissen weiter: Clayton schreibt regelmäßig als Autor für | |
US-Publikationen wie frieze, moderierte zwischen 2007 und 2013 eine | |
wöchentliche Radiosendung beim College-Sender der Universität Princeton und | |
bloggt unter dem Namen „Mudd Up!“. Ein Multitasking-Alltag, den er mit | |
vielen freischaffenden KünstlerInnen teilt. Und doch sticht Jace Clayton | |
heraus. | |
In seinem nun erschienenen Buchdebüt „Uproot. Travels in 21st Century Music | |
and Digital Culture“ hat er Essays versammelt, die im Zusammenhang mit der | |
Digitalisierung von Popmusik stehen. Darin erklärt er anschaulich | |
Veränderungen, die auf dem Feld der Distribution im Internet und durch | |
Einsatz von Software bei der Musikproduktion entstanden sind. Claytons Buch | |
liest sich so flüssig und schlüssig, weil er schlaue Gedanken mit scheinbar | |
nebensächlichen Reisebeschreibungen verknüpft, uneitel und aber auch exakt | |
beschreibt, und seinen Lesern somit auch von entlegenen musikalischen | |
Phänomenen einen Eindruck verschafft. „Musik ist größer als wir und das | |
macht gerade ihre Schönheit aus. Es wird immer Songs geben, die die Welt | |
aus einem ungeahnten Winkel zum Klingen bringen und DJs werden sie für uns | |
auflegen.“ | |
Mit „Uproot“ legt Clayton den Fokus auf das Feld der Produktion: Er besucht | |
bevorzugt Orte abseits des Hauptstroms, um zu erfahren, wie globale | |
Musikwirtschaft im 21. Jahrhundert funktioniert. Die Musik der | |
marokkanischen Berber (Amazigh) hat er zuerst in Frankreich gehört und dann | |
in seine DJ-Sets eingebaut. Ihn wundert der Einsatz des Gesangseffekts | |
Autotune in ihren Songs. Also landet er in der Millionenmetropole | |
Casablanca, kauft am Basar weitere CDs und wird mit Produzenten und | |
KünstlerInnen aus der Musikszene der Amazigh bekannt gemacht. Von ihnen | |
erfährt er, warum Autotune – ursprünglich ein Effekt zur Begradigung von | |
schiefen Stimmlagen und Tönen im US-Chartspop – auch in Marokko ständig | |
eingesetzt wird. | |
Denn das auch dort verbreitete melismatische Singen führt in der Korrektur | |
durch Autotune zu faszinierenden Ergebnissen: je größer die | |
Gesangskapriolen, desto extremer die automatische Korrekturfunktion durch | |
den digitalen Prozessor, was wiederum zu ungewöhnlichen Stimmverfremdungen | |
führt. „Autotune gives you a better me“, klärt der Produzent Adil El | |
Milouid den US-Amerikaner auf. Verblüffend wirkt auf diesen, wie das | |
Abfallen der Tonhöhe (pitch slide) durch die bizarren Effekte noch betont | |
wird, wenn sich kehlige Glissandi mit elektronischem Brummen zu einem | |
eigenwillig-künstlichen Sound vermischen. | |
## Unerwartete Sternstunden | |
Geht Clayton auf Reisen, lässt er sich treiben. Das führt gelegentlich zu | |
Verständigungsschwierigkeiten und (kulturell bedingten) | |
Meinungsverschiedenheiten inklusive frustrierenden Erlebnissen: Die | |
bereichern Claytons Erzählung aber in jeder Hinsicht, denn er schreibt nie | |
so, als läge ihm die Welt zu Füßen. Im Gegenteil, der afroamerikanische | |
Autor weiß sehr genau um die Folgen der Kolonialgeschichte. | |
Genauso erlebt er unerwartete Sternstunden: etwa als er in der | |
jamaikanischen Hauptstadt Kingston unterwegs ist, um nach dem Zustand der | |
Soundsystem-Kultur zu forschen. Dort gerät er in eine Streetparty, auf der | |
ein DJ beinharte jamaikanische Dancehall-Tracks spielt, aber zwischendurch | |
plötzlich „Careless Whisper“ von George Michael droppt, nicht unbedingt die | |
naheliegendste Wahl in der homophoben Vorstellungswelt des | |
Dancehall-Reggae. Der DJ habe ein Gespür für den richtigen Song zur | |
richtigen Zeit, „timing plus conviction“, formuliert Jace Clayton, dem | |
freilich die Kinnlade runterfällt, wie „Careless Whisper“ gerade auf diesem | |
Dancefloor in jener karibischen Nacht klingt. So frenetisch, wie die | |
Tanzenden darauf reagieren, erkennt Clayton darin auch das Ideal der | |
jamaikanischen DJ-Kultur. „Im besten Fall verschmelzen Musik und | |
Gemeinschaft zu einem lebenden Organismus, den alle Anwesenden | |
gleichermaßen pflegen.“ | |
Während Musikproduktionen in Marokko und auf Jamaika durch Internet und | |
Digitalisierung florieren, ist die Kulturindustrie und ihre | |
althergebrachten Vermarktungsmodelle in den westlichen Industrienationen | |
genau deshalb in die Krise geraten. Clayton bleibt trotz der andauernden | |
Katerstimmung optimistisch: „Zwar mussten viele Plattenläden in New York | |
schließen, waren Labels gezwungen, wegen Umsatzeinbußen weniger | |
künstlerische Risiken einzugehen, und ließen fanbasierte Netzwerke von | |
Multi-Konzertagenten aufkaufen… für jeden Geschäftszweig, der aufgrund der | |
Verbreitung von digitaler Technologie versickerte, haben sich wieder neue | |
Verdienstmöglichkeiten aufgetan“, schreibt er im Vorwort. | |
## Die „hidden city“ des Pop | |
Clayton, aufgewachsen nahe Boston, ist ein Kind des Internets. Bereits | |
Mitte der Neunziger navigierte er durch das damals noch „Usenet“ genannte | |
Netz und entdeckte so unbekannte Musik aus nah und fern. Anders als | |
Digital-Native-Hardliner hat ihn allerdings die Sozialisation in der | |
DJ-Kultur den Respekt vor Tonträgern bewahren lassen. Noch heute legt er | |
stets mit zwei Turntables und einem CD-Spieler auf, zusätzlich setzt er ein | |
Laptop mit Sounddateien ein. Vinyl fetischisiert er dennoch nicht. | |
Für eine Klanganalyse von MP3s verfolgt er die Geschichte dieser | |
Sounddateien zurück bis zu ihrer Erfindung im Fraunhofer-Institut, wo MP3 | |
einst auf Basis des Songs „Tom’s Diner“ zum Entsetzen der Komponistin | |
Suzanne Vega programmiert wurde. Während sich die MP3 und ihr mittiger | |
Sound als gängiges digitales Musikformat durchgesetzt hat, sind eine | |
Vielzahl anderer technischer Updates des Internetzeitalters bereits wieder | |
verschwunden, wie Clayton am Beispiel der in den nuller Jahren gehypten | |
Plattform Myspace aufzeigt. | |
Von der schieren Masse an Musik im Netz lässt sich Clayton nie | |
beeindrucken. Das Wesen des DJs vergleicht er mit dem eines Bibliothekars. | |
Überhaupt hat viel von dem, was uns der New Yorker näherbringt, erst mal | |
gar nichts mit dem Glamour-Versprechen von Pop zu tun. Clayton wirft | |
dagegen Schlaglichter auf die „hidden city“ des Pop, auf Szenen und Akteure | |
jenseits des Hipness-Radars. Als er anfängt, im New Yorker Bezirk Queens | |
„Cumbia Sonidero“-Partys zu besuchen – so nennt man Tanzpartys, bei denen | |
für ein Hispanic-Publikum Musik aufgelegt wird, versteht Clayton, warum die | |
DJs die Tracks anmoderieren und einzelne Gäste per Mikrofon begrüßen: Die | |
Musik stiftet ein Zugehörigkeitsgefühl! | |
Anders als die Songs, die geografische und sprachliche Grenzen mühelos | |
überwinden, leben und arbeiten Tausende allein in New York in ständiger | |
Angst ausgewiesen zu werden: Mehr als ein Drittel aller New Yorker | |
Restaurantangestellter haben hispanische Wurzeln, schätzt Clayton, sie sind | |
illegal in den USA. „Die Sonidera-Revolution gedeiht abseits der | |
Scheinwerfer. Man sieht keine hochgereckten Fäuste, sondern eingezogene | |
Köpfe. Die Menschen hören genau hin, was die tiefen Frequenzen ihnen | |
sagen.“ | |
5 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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