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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: An der schwarzen Donau
> Der ungarische Nationalismus floriert, politische Gegner werden
> eingeschüchtert. Ultrarechte versammeln sich bei Pop-Events für die ganze
> Familie.
Bild: Die „Magyar Gárda“ ist eine rechtsextreme Organisation, die sich als…
Sie haben rasierte Schädel oder Frisuren wie Conan der Barbar, tragen
T-Shirts mit gotischen Motiven, Patronentaschen und große Totenkopfringe.
Ihre muskulösen Oberarme zieren aufwendige Tattoos, und die Bierdose ist
immer griffbereit: Heavy-Metal-Fans erkennt man überall. In diesem Sommer,
Mitte August, strömen sie in Scharen in eine ungarische Kleinstadt am Ufer
des Balaton. Der Anlass: ein Open-Air-Konzert im großen Amphitheater.
Nebenan, in der verglasten Halle, werden die Merchandisingprodukte der Band
verkauft – und Bier. Alles ist so, wie man es von einem gewöhnlichen
Heavy-Metal-Event erwarten würde.
Abgesehen von den vielen Familien im Publikum. Und den vielen T-Shirts mit
seltsam anmutenden Landkarten und sonderbaren Schriftzeichen, die sich bei
genauerer Betrachtung als Runen entpuppen. Mehr als 800 Menschen sind
angereist, um die ungarische Rechtsrockband Kárpátia spielen zu sehen. Im
Bühnenhintergrund kann man das Abbild eines Vogelskeletts erkennen, das an
einen heraldischen Adler erinnert. In Wahrheit stellt es aber den Turul
dar, das geflügelte Fabelwesen, das den Magyaren bei der Eroberung der
Pannonischen Tiefebene den Weg gewiesen haben soll.
Das Konzert beginnt. Kárpátia pflegt in klassischer Besetzung aufzutreten:
Gitarren, Bass, Schlagzeug. Die Songs sind kurz, jeder Ton knallt. Der
Bassist und Sänger der Gruppe, János Petrás, der einen stolzen Schnauzer
unter dem kahlen Schädel zur Schau trägt, bewegt sich auf der Bühne mit dem
Gehabe eines großen Rockstars. Der eine der beiden Gitarristen schüttelt
ausdauernd seine Mähne. Das Publikum reißt begeistert die Hände zum
Teufelsgruß nach oben: eine Faust mit hochgerecktem Zeige- und kleinem
Finger. Bei Metalkonzerten gilt das als Zeichen allgemeiner Zustimmung. Bis
hierhin gibt es keine Überraschungen.
Doch dann werden plötzlich, wie bei einem Fußballspiel, Fahnen geschwenkt:
kleine, zum Teil von Kinderhänden getragene, und riesengroße, die sich
majestätisch durch die Luft bewegen. Die meisten Fahnen geben dem
Uneingeweihten Rätsel auf. Es sind nämlich keine normalen Nationalflaggen.
Einige sehen zwar so ähnlich aus, aber hier sind auf der horizontalen
rot-weiß-grünen Trikolore in der Mitte zwei Engel zu sehen, die ein Wappen
tragen. Es ist die Fahne des einstigen Königreichs Ungarn.
## Nazi-Kollaborateure und Antisemiten
Daneben gibt es noch diverse Variationen von rot-weißen Fahnen, die
eigentlich bei jedem Ungarn, der sich nicht selbst zum äußersten rechten
Rand zählt, einen Wutanfall auslösen müssten. Diese Farben spielen nicht
nur auf die Gründer des Königreichs an, die Herrscherdynastie der Árpáden,
sondern es sind auch die Farben der Pfeilkreuzler. Diese 1939 gegründete
nationalsozialistische Partei Ungarns kollaborierte zwischen Oktober 1944
und März 1945 mit Nazideutschland und trieb den Holocaust voran. Insgesamt
fielen 556.000 ungarische Jüdinnen und Juden der sogenannten Endlösung zum
Opfer; die meisten wurden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
deportiert oder direkt im Land ermordet.
Die mysteriösesten Flaggen jedoch waren jene feschen blauen mit einem
gelben Streifen in der Mitte und einer Sonne sowie einer Mondsichel. Erst
gegen Ende des Konzerts sollte sich ihr Geheimnis lüften. Die Stimmung ist
freundlich und emphatisch zugleich. Man wird den Eindruck nicht los, immer
wieder dasselbe martialische, aber dennoch leichtfüßige Lied zu hören,
obgleich zwischendurch regelmäßig lyrische Gitarrensoli erklingen. Die
eigentliche Show bestreitet das Publikum, das die Refrains voller Inbrunst
mitsingt.
Kárpátia ist ein echtes Phänomen. Die Band, die jedes Jahr über 100
Konzerte gibt, ist äußerst populär. Gegründet wurde sie 2003; eins ihrer
Alben heißt schlicht „Gerechtigkeit für Ungarn“. Damit wird, wie so oft,
auf den Friedensvertrag von Trianon angespielt, der am 4. Juni 1920 das
Ende des Königreichs besiegelte. Ungarn verlor damit zwei Drittel seines
Territoriums und drei Fünftel seiner Bevölkerung.
Man könnte meinen, dass dieser – gewiss große – Schock inzwischen, fast 1…
Jahre später, überwunden wäre. Doch weit gefehlt. János Petrás erwähnt auf
der Bühne ein Lied, das seine Mutter ihm früher vorgesungen hat,
„Großungarn war das Paradies“. Auch der Name der Band erinnert daran, dass
die Karpaten einmal ungarisch waren. Plötzlich versteht man auch die
Landkarten auf den T-Shirts – sie zeigen das Ungarn vergangener Tage.
## Popkonzert als politische Versammlung
Als sich das ganze Amphitheater nach zwei angespielten Akkorden synchron
erhebt und auf feierliche Weise innehält, glaubt man einen Moment, die Band
werde nun die Nationalhymne spielen. Doch Fehlanzeige. Was folgt, ist die
Székler-Hymne aus Siebenbürgen. Diese Region im Herzen der Karpaten gehört
heute zu Rumänien und war von Ungarn, den ihnen verwandten Széklern,
Deutschen und Rumänen bewohnt. Die – fiktive – Hymne stammt aus einer
beliebten Operette, und jeder Ungar kennt sie, egal ob Kárpátia-Fan oder
nicht. Die erwähnte blau-gelbe Flagge ist die des ehemaligen Széklerlands.
János Petrás erinnert das johlende Publikum daran, dass seine Band in fast
allen Ländern, zu denen einst Teile des Königreichs Ungarn gehörten,
Auftrittsverbot hat. Erstaunlich, wie schnell ein Popkonzert zur
politischen Versammlung mutieren kann. Und dass ein derart konservativer
Patriotismus es schafft, ein dem äußeren Anschein nach modernes und relativ
junges Publikum zu mobilisieren – die meisten hier sind zwischen 30 und 40
Jahre alt.
Mit demselben Nachdruck besingt Petrás den Ungarischen Volksaufstand von
1956 und lobt den Mut derer, die damals Widerstand gegen die
„kommunistische Diktatur“ geleistet haben. Später würdigt er auch die
Führungsfiguren der Pfeilkreuzler, die nach dem Sieg der Roten Armee
größtenteils als Verräter hingerichtet wurden. Das Publikum bewegt sich im
Takt der Musik – offenbar ganz im Einklang mit der Tatsache, dass jeder
dritte Jude, der nach Auschwitz deportiert wurde, ungarischer Staatsbürger
war. Niemand widerspricht den keineswegs verborgenen, sondern überaus
expliziten Botschaften von Kárpátia.
Die Liebe zur Heimat, die hier gepflegt wird, beruht auf dem
Nationalbewusstsein der Pfeilkreuzler: einmal Ungar, immer Ungar. Damit
einher geht ein ausgeprägter Hass auf alle „Nichtungarn“: auf die
internationalistischen Kommunisten, etwas versteckter auch auf die Juden
und ganz allgemein auf alle Fremden, zu denen auch die Liberalen zählen,
die dem Ungarntum fremde Werte und Waren eingeführt haben.
## Ortsschilder in altungarischer Runenschrift
Petrás verehrt ein archaisches Ungarn, ein fantastisches Land der Reinen,
bewohnt von den Nachfahren eines Kriegervolkes, die ihr mit Waffengewalt
erobertes Land lieben.
In Budapest wird gern erzählt, dass kein Gebäude in der Stadt höher als 96
Meter sei, um an das Jahr 896 zu erinnern, als die magyarische
Stammeskonföderation die Pannonische Tiefebene eroberte und sich dort
niederließ – ein Ereignis, das im Ungarischen „Landnahme“ genannt wird. …
überlieferten Werte dieses „auserwählten Volkes“ und seine Symbole sollen
bewahrt werden: die Turuldenkmäler, die man von Österreich über Rumänien
bis in die Ukraine überall dort findet, wo es eine ungarische Minderheit
gibt; die altungarische Runenschrift, die in einigen Regionen bis 1850
benutzt wurde und gegenwärtig in mehreren rechtsextremen Gemeinden wieder
auf den Ortsschildern auftaucht; aber auch das Christentum, das mit Stephan
I. verbunden wird, der im Jahr 1000 das Königreich Ungarn begründete und
seit seiner Heiligsprechung der Schutzpatron der Ungarn ist. Diese Mischung
ist sakrosankt für den identitären Rock. Für diese Richtung, die vor allem
der im Jahr 2000 gegründete einflussreiche Nischensender Pannon Radio
propagiert, steht nicht nur Kárpátia.
Auch die Band Romantikus Erőszak, was übersetzt „Romantische Gewalt“
bedeutet, besingt diese spezielle Version der Geschichte. „Ich träume von
dem Ungarn, wie es jahrhundertelang existiert hat: unabhängig, stark, unter
ungarischer Herrschaft, selbstverwaltet“, erklärt Frontmann Balázs Sziva,
der sich den Satz „Es lebe das Vaterland“ auf den Hals hat tätowieren
lassen.
Der Bezug zur Romantik ist allerdings im Gegensatz zur Gewalt nicht gerade
offensichtlich. Doch der leidenschaftliche musikalische Nationalismus
scheint in der Tat von einem Ideal getragen: In modernen Worten ist die
Rede von der nostalgischen Sehnsucht nach Heldentum und Virilität, einer
zusammengeschweißten brüderlichen Gemeinschaft, für die man bereit ist, in
den (ideologischen) Kampf zu ziehen.
Auffallend ist, dass bei all diesen Reden und Gesängen soziale Fragen
komplett ausgeklammert bleiben. Auch der Begriff Besetzung wird gewöhnlich
nur im Hinblick auf die Zeit der Sozialistischen Volksrepublik Ungarn
verwendet und nicht im Zusammenhang mit der Besetzung Ungarns durch
Nazideutschland oder die langen Zeiträume unter osmanischer und
habsburgischer Herrschaft.
## Der Traum von Großungarn
Das Trauma von Trianon lässt sich auch deshalb leicht abrufen, weil es mit
den zahlreichen Widersprüchen der jüngeren Geschichte verbunden ist. Der
nationalistische, autokratische „Reichsverweser“ Miklós Horthy, der Ungarn
zwischen 1920 und 1944 regierte, schloss sich den Achsenmächten an und
revidierte zusammen mit Hitler und Mussolini in Teilen den Trianon-Vertrag.
Auf diese Weise konnte er das Territorium, das 1924 Rumänien zugesprochen
worden war, wieder in das ungarische Staatsgebiet integrieren. Nach dem
Krieg musste Ungarn diese Gebiete dann wieder abtreten, und in der
sozialistischen Ära war Trianon kein Thema.
Aber die Großungarnaufkleber, die das Land in den Grenzen von 1867 bis 1918
zeigen und viele Autoheckscheiben zieren, bedeuten nicht automatisch, dass
die Autobesitzer eine rechtsextreme Gesinnung hegen. Hinter solchen Gesten
verbirgt sich manchmal auch die Ablehnung einer anderen Besetzung, nämlich
der kapitalistischen.
Seit der Westöffnung hat Ungarn enorm gelitten. Die Koalition aus
Sozialisten und Liberalen, die das Land in den 1990er Jahren regierte,
erfüllte ohne Murren die Forderungen des IWF und setzte knallharte
Sparmaßnahmen um. Die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Als Ungarn 2004
der EU beitrat, gehörten 80 Prozent aller großen Unternehmen und Banken
ausländischen Investoren. Der Privatisierungsprozess war so haarsträubend
korrupt vonstatten gegangen, dass es nicht verwunderlich ist, wenn viele
Ungarn sowohl für die linke Elite als auch die Glücksversprechen des freien
Marktes nur Misstrauen und Verachtung übrig haben.
Dass die Fidesz, die Partei von Ministerpräsident Orbán, an dieselbe
Symbolik anknüpft wie Kárpátia, [1][hat ebenfalls mit dieser Ablehnung zu
tun]. Als Orbán 2010 nach acht Jahren erneut an die Macht kam, begnügte er
sich nicht nur damit, den 4. Juni, also den Jahrestag der Unterzeichnung
des Trianon-Vertrags, zum „Tag des nationalen Zusammenhalts“ zu erklären.
Er bot den insgesamt 2,5 Millionen Auslandsungarn in Rumänien, Serbien, der
Slowakei und der Ukraine sogar an, [2][einen ungarischen Pass beantragen zu
können]. Orbán verfolgt das Ziel einer Ethnisierung der Staatsangehörigkeit
und träumt von einer „ungarischen Euroregion“ – was unweigerlich an das
Pfeilkreuzlermodell von den „Vereinigten Ländern von Ungarn“ erinnert. In
Orbáns Ideologie vermischt sich die Begeisterung für das Ungarntum mit der
Ablehnung „ausländischer“ (also europäischer) Gesetze,
Wirtschaftspatriotismus und Antiliberalismus. Hinzu kommt, dass Orbán,
dessen politische Karriere einst als Vorsitzender der Jugendorganisation
der Kommunistischen Partei begann, heute die „Märtyrer“ des Volksaufstands
von 1956 glühend verehrt.
## Großes Hunnentreffen in der Puszta
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass János Petrás von der
Regierung Orbán ausgezeichnet wurde. Petrás hat auch die Hymne der
paramilitärischen Miliz Magyar Gárda (Ungarische Garde) komponiert, die
zwar offiziell verboten ist, aber eigentlich überall toleriert wird. Diese
Miliz, die 2007 von Gábor Vona, dem Vorsitzenden der rechtsextremen
Jobbik-Partei, gegründet, 2009 gerichtlich verboten und als Neue Ungarische
Garde wiedererweckt wurde, hat es sich ihrem Statut zufolge zur Aufgabe
gemacht, „physisch, spirituell und intellektuell das wehrlose Ungarn zu
verteidigen“.
Der an Petrás verliehene Orden illustriert bestens, wie nahe sich Fidesz
und Jobbik stehen – auch wenn es durchaus einige Unterschiede in der
Definition der ungarischen Identität gibt. „Liebe Nachfahren von Attila“ �…
mit diesen Worten begrüßte Vona nach den Parlamentswahlen 2014, bei denen
seine Partei 20,5 Prozent der Stimmen erhielt, seine Anhänger. Das
Kurultáj-Festival, das erstmalig 2010 in Kasachstan stattfand, will
ebenjene Nachfahren der Hunnen zusammenbringen. Das „Stammestreffen“ – so
die Übersetzung des Festivalnamens – findet inzwischen jedes Jahr im August
in der Nähe von Bugac (etwa 120 Kilometer von Budapest entfernt) in der
Puszta statt. Drei Tage lang kommen dort insgesamt 250.000 Menschen aus
zwölf Ländern und 27 ethnischen Gruppen zur „größten traditionellen
Veranstaltung Europas“ zusammen. Der Vizepräsident des ungarischen
Parlaments ist Schirmherr des Festivals, das ihm zufolge dazu dienen soll,
die Brüderlichkeit unter den türkisch-hunnischen Nationen zu fördern.
Eine schmale Waldstraße führt zu dem Festivalgelände. In der Nähe des
Eingangs stehen mehrere Harleys – gut möglich also, dass die
Gój-Motorosok-Biker mit von der Partie sind. Die Bezeichnung Gój sei nur
ein Scherz, behauptet der Gründer des Motorradklubs, der gewöhnlich eine
Großungarnhalskette trägt sowie eine Jacke, auf der die „Heilige Krone“ v…
Stephan I. prangt. Die Gój Motorosok bieten Rundfahrten an, auch eine
Trianon-Gedenkfahrt haben sie im Programm, und nicht zuletzt dienen sie
manchen Politikern als Begleiteskorte.
Der Zugang zum Festivalgelände ist gratis. Begrüßt wird man von Attila,
dessen grimmiges Porträt auf einer riesigen Esplanade aufgestellt wurde.
Die Luft ist staubig und heiß – im Sommer klettert das Thermometer hier auf
bis zu 40 Grad. Überall zwischen den halb offenen Jurten mit ihren bunten
Teppichen und den Ständen, an denen mongolische Souvenirs und traditionelle
Flitzbogen verkauft werden, laufen mit Kettchen, Armbändern, Talismanen und
prunkvollen Kopfbedeckungen geschmückte Männer herum. Sie tragen bestickte
Westen und Kosakenhemden, weite weiße Hosen und lange Ledermäntel. Einige
haben sogar Rüstungen angelegt, bei anderen bedecken Tierfelle die nackte
Brust. Abgerundet wird der neonomadische Erobererlook mit langen Haaren,
Ohrringen, Tattoos und Schnauzbärten. Nur wenige Besucher sind „in Zivil“
da. Die Frauen tragen folkloristische Röcke oder sind im Bocskai-Stil
gekleidet. Bocskai hieß der siebenbürgische Fürst, der Anfang des 17.
Jahrhunderts den ungarischen Aufstand gegen die Habsburger anführte.
## Das Schnalzen von Peitschen
Ein wiederkehrendes Geräusch, das wie Gewehrfeuer klingt, lässt mich
regelmäßig zusammenzucken. Es ist das Schnalzen von Peitschen, die eher wie
Waffen denn wie Instrumente wirken und deren Handhabung schwierig aussieht.
Vielerorts sind sie in rhythmischen Abständen zu hören. Begleitet werden
sie von Schlaginstrumenten – vor allem Trommeln.
Die Jurte, vor der ein großes Foto von Atatürk steht, sieht aus, als sei
sie geschlossen. In einer anderen werden die größten Hunde der Welt (aus
Irland) gezeigt. Nicht überall erhalten Fremde Einlass. Als ich von einem
Türsteher gefragt werde, was genau ich suche, und ich erwidere, dass ich
nur neugierig bin, erhalte ich die schroffe Antwort, dass man mich aus
ebendiesem Grund nicht hereinlassen werde.
Zahlreiche Polizisten und, abgesehen vom rot-weiß-grünen Saum ihrer Jacken,
ganz in Schwarz gekleidete Männer drehen auf dem Gelände ihre Runden. Sie
sehen den Männern der Magyar Gárda verblüffend ähnlich. Und überall wehen
Fahnen. Es sind Uiguren da, Turkmenen, Tschuwaschen, Türken, Kirgisen und
Jakuten.
Doch sind die Menschen auch wegen des Festivalprogramms gekommen, das
zwischen der Hauptbühne und dem „Schlachtfeld“ stattfindet: ein trommelnder
Schamanenkreis, Dudelsackpfeifer, die ungarische Volksmusik spielen,
Säbelduelle, Pferdeshows … und natürlich die Vorträge über nomadische
Zivilisationen in Eurasien.
## Die Nachfahren von König Attila
Das Kurultáj ist nämlich eine verdichtete Version des Turanismus. Der
Begriff bezeichnet die Familie der ural-altaischen Sprachen (die
Turksprachen, Ungarisch, Mongolisch, Finno-Ugrisch und Estnisch) sowie eine
Ideologie, die eine besondere Beziehung zwischen zentralasiatischen Völkern
postuliert. In ihrer Blütezeit zwischen den beiden Weltkriegen beförderte
die Bewegung auch den Hungarismus der Pfeilkreuzler. Heute ist die Jobbik
die Hauptvertreterin des Turanismus. Zwei ihrer Parteiführer haben ein
Unternehmen, das traditionalistische Bekleidung und Accessoires vertreibt.
Die Jobbik ist übrigens auch mit einem Stand am Festival vertreten.
König Attila, dessen Reich sich im 5. Jahrhundert vom Schwarzen Meer bis
Mitteleuropa erstreckte, wurde angeblich im Kampf gegen die Römer getötet
(andere Quellen behaupten, er starb in einer seiner vielen
Hochzeitsnächte). Wer sich als sein Nachfahre betrachtet, grenzt sich damit
automatisch von der Fidesz ab. Die 2011 von Orbán durchgesetzte neue
Verfassung basiert auch auf einer kulturalistischen Definition von Nation.
Doch der Bezugspunkt dieser Nation ist die Stephanskrone, ihre Pfeiler sind
das Christentum und die Familie.
Die Jobbik („Bewegung für ein besseres Ungarn“), die sich ihrem
Abgeordneten György Szilágyi zufolge nicht als Partei, sondern als
„Gemeinschaft“ versteht, beruft sich zwar ebenfalls auf das Christentum.
Doch ihre Wähler sind ebenso wie die Parteikultur allem Anschein nach
neuheidnisch und empfänglich für eine naturverbundene, magische
Spiritualität. Außerdem lehnt die Partei „den Westen“ ab, der Ungarn mit
dem Vertrag von Trianon verraten habe. Stattdessen orientiert sie sich an
Asien, wo sie die nationalen Wurzeln Ungarns und seiner „natürlichen“
Verbündeten wähnt.
Einer der drei Jobbik-Abgeordneten im EU-Parlament propagiert in diesem
Zusammenhang eine „große turanische Allianz“ zwischen Ungarn und den „ro…
Khanaten“ Zentralasiens. Kein Wunder also, dass Präsident Erdoğan die
Partei 2014 in die Türkei einlud – anlässlich der Bekanntgabe der
Ergebnisse nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Die Jobbik hat
vor allem ein Problem mit „Zigeunern“– jedoch nicht mit dem Volk an sich,
wie die Jobbik-Website versichert. Sinti und Roma seien vielmehr Opfer
schlechter soziokultureller Verhältnisse und dadurch schädlich für die
Gemeinschaft. [3][Den Islam hingegen betrachtet der Parteivorsitzende Vona]
als „letzte Hoffnung der Menschheit in der Finsternis des Globalismus und
Liberalismus“.
## Turanische Räuberpistolen
Ein „besseres Ungarn“ erfordere demnach die Rückkehr zu Traditionen. Mehr
oder weniger stark umgedeutet, werden diese mit der Ablehnung der
„westlichen“ Moderne verknüpft und mit Mittelalterfantasien genährt. So
sitzen im Trubel des Kurultáj-Festivals zwei stark tätowierte Ungarn an
einem Biertisch im Freien und ergehen sich in Lobpreisungen auf die Betyár,
die romantischen Räuber der ungarischen Folklore: Sie stahlen von den
Reichen und entführten deren Frauen, die sich von den unwiderstehlichen
Männern zu Pferde gern verführen ließen. Ehrenwerte Banditen waren sie,
Gesetzlose aus freiem Willen, schneidig, gerecht und stark. Aus solchem
Stoff werden turanische Helden gemacht.
Der Jobbik-Slogan „Zu 100 Prozent ungarisch“ impliziert eine Ablehnung des
Westens und des Liberalismus, vor allem der Unterwerfung unter die EU,
zugunsten einer Identität, die natürlich ungarisch sein und auf einem
starken, solidarischen und spirituellen Eurasismus beruhen soll. Auch darin
spiegelt sich ein romantisches Authentizitäts- und Werteideal wider. „Die
Zukunft lässt sich nicht aufhalten“, verkündet Jobbik auf ihrer
Facebook-Seite, die vor allem bei den Jungen beliebt ist – 33 Prozent der
Studierenden wählen die Jobbik oder sympathisieren mit ihr. Jobbik
verspricht, staatliche Dienstleistungen wie „die Versorgung mit Trinkwasser
und den öffentlichen Nahverkehr“ sowie den Begriff des Gemeinguts
wiederbeleben zu wollen und die „nationalen Ressourcen“ auszubauen – wie
„die körperliche und mentale Verfassung der Nation, Patriotismus und
Solidarität“.
Die Mittelalterbegeisterung scheint in diesem Zusammenhang weniger einem
historisch geleiteten Interesse zu entspringen als einer symbolischen Suche
nach individueller und kollektiver Selbstverwirklichung. Die Suche nach
einem Sinn jenseits von Geld und Marktgeschehen, dieses Bedürfnis nach
einem Platz in einer stabilen und zugleich irgendwie „transzendenten“ Welt
erklärt vielleicht auch den Erfolg einschlägiger Videospiele, Fantasybücher
und Themenparks. So wie die Zugehörigkeit zum Christentum einst darauf
abzielte, alle anderen Zugehörigkeiten in sich aufzunehmen, so bettet der
Turanismus, wie er sich auf dem Kurultáj-Festival präsentiert, das
„Vaterland“ in etwas Größeres ein, wo Grenzen weniger wichtig sind als die
Gemeinschaft.
Diese Patrioten identifizieren sich mit einem supranationalen Volkstum, in
dem sie sich verlieren wollen. Zu einer solchen Vorstellung gehört die
Tendenz, die Zukunft in der Vergangenheit zu sehen – und im Namen höherer
Werte wie Spiritualität, Verteidigung der Schwachen oder Uneigennützigkeit,
die in der Moderne, insbesondere in der Demokratie und im Kapitalismus,
verloren gegangen seien. Einige dieser Tendenzen sind nicht auf die
identitäre, reaktionäre und konservative Rechte beschränkt. Sie können
durchaus auch Teil der Vorstellungswelt von anderen Gruppen sein: solchen
auf der Suche nach einer alternativen Lebensweise, Verteidigern einer mehr
oder weniger bedrohten Subkultur, Verfechtern einer künstlerischen Moral im
Gegensatz zum Narzissmus oder zum Kapitalismus des Kunstmarkts.
## Ein Lied für Orbán
In Ungarn geht der Appell zur Besinnung auf die Vergangenheit als Quell
einer glücklichen Zukunft von mehreren Parteien aus. Und am Ende scheint
diese Gemeinsamkeit eine größere Rolle zu spielen als alle Unterschiede:
Als sich Orbán zum 60. Jahrestag des Volksaufstands ein eigenes Lied
wünschte, um der „Märtyrer von 1956“ zu gedenken, engagierte er den
Komponisten und Produzenten Desmond Child, der als Sohn ungarischer Eltern
in den USA aufgewachsen ist.
Früher schrieb dieser Musiker, der inzwischen auch einen ungarischen Pass
besitzt, Songs für Alice Cooper und die Band Kiss – und weckte damit gewiss
andere Sehnsüchte als „Hand in Hand auf den Spuren unserer Helden zu
wandeln“. Überraschend war aber vor allem der Umstand, dass die Fidesz, die
ein starres heterosexuelles Familienideal vertritt, einen Aktivisten der
Schwulenbewegung beauftragte, der mit einem Mann verheiratet ist.
Fast zeitgleich mit dem Kurultáj-Festival fand auf der Budapester
Donauinsel Sziget zum 24. Mal ein anderes großes internationales Festival
statt, das bereits mehrfach zum besten Pop-Event dieser Art in Europa
gekürt wurde. Die Eintrittspreise sind aberwitzig hoch. Nur sehr wenige
Ungarn gehen dorthin.
Aus dem Französischen von Richard Siegert
17 Nov 2016
## LINKS
[1] http://monde-diplomatique.de/artikel/!618443
[2] http://monde-diplomatique.de/artikel/!498524
[3] http://monde-diplomatique.de/artikel/!366268
## AUTOREN
Evelyne Pieillier
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