| # taz.de -- Jenseits von Schengen | |
| > Die Ungarn in Transkarpatien leben nach Budapester Zeit von Laurent | |
| > Geslin und Sébastien Gobert | |
| Mein Großvater hat sein Leben lang in demselben Dorf gewohnt und dabei in | |
| fünf verschiedenen Ländern gelebt.“ Tjatschiw liegt an der Theiß im | |
| westlichen Karpatenvorland. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte der heutige | |
| ukrainische Oblast[1]Transkarpatien zur Habsburger Doppelmonarchie | |
| Österreich-Ungarn. Im Friedensvertrag von Trianon, der die faktische | |
| Auflösung des Vielvölkerstaats am 4. Juni 1920 besiegelte, wurde die Region | |
| der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik zugesprochen. Der | |
| ehemalige Zöllner Sandor Igyarto, ukrainischer Staatsbürger ungarischer | |
| Herkunft, zieht an seiner amerikanischen Zigarette. „1938 kehrten die | |
| Ungarn zurück. Im Krieg wurde mein Großvater zur ungarischen Armee | |
| eingezogen und an die Ostfront geschickt. Ende 1944, als wir sowjetisch | |
| wurden, hat man ihn nach Sibirien deportiert. Er kam erst nach Stalins Tod | |
| zurück.“ | |
| In Tjatschiw gibt es eine calvinistische, eine katholische, eine | |
| griechisch-katholische und eine orthodoxe Gemeinde. Auf dem Hauptplatz | |
| stehen Kriegerdenkmäler für die Gefallenen: die österreichisch-ungarischen | |
| Soldaten des Ersten Weltkriegs, die Partisanen des Zweiten Weltkriegs und | |
| die Sowjetsoldaten des Afghanistankriegs. Willkommen im Herzen Europas: So | |
| errechneten es die k. u. k. Landvermesser und errichteten dem geografischen | |
| Mittelpunkt Europas im Jahr 1887 ein paar Kilometer weiter östlich, im Dorf | |
| Rachiw, ein Denkmal. Heute ist Transkarpatien eine vergessene Randregion an | |
| der Ostgrenze der Europäischen Union, abgehängt hinter der | |
| „Schengen-Linie“, die Ungarn, die Slowakei und Polen von Rumänien und der | |
| Ukraine trennt. Für die Transkarpatier liegt „Europa“ nur einen Steinwurf | |
| entfernt, und ist doch unerreichbar – jenseits der letzten „Mauer“ des | |
| Kontinents hinter einer Grenze, die trennt und nährt zugleich. | |
| Wie ganz Mitteleuropa war auch Transkarpatien lange Zeit ein multikulturell | |
| geprägter Landstrich. Hier lebten Ungarn, Ruthenen, Ukrainer, Deutsche, | |
| Roma und Juden zusammen. Anfang des 20. Jahrhunderts begann ein Prozess der | |
| Homogenisierung, der sich vor allem seit 1991, mit der Unabhängigkeit der | |
| Ukraine, beschleunigt hat. Laut der letzten Volkszählung von 2001 leben nur | |
| noch 150 000 Ungarn in Transkarpatien, das sind 12 Prozent der | |
| Gesamtbevölkerung der Region – 1921 waren es noch 17 Prozent.[2]„Jedes Jahr | |
| wandern fünf- bis sechstausend Menschen nach Ungarn aus“, erzählt Igyarto, | |
| „weil sie hier keine Perspektive haben. Die wirtschaftliche Lage ist | |
| dramatisch.“ | |
| Dennoch sind in der Grenzstadt Tschop, dem für die Sowjetunion einst | |
| wichtigen Eisenbahnknoten im ungarisch-slowakisch-ukrainischen | |
| Dreiländereck, in den letzten Jahren viele neue Villen gebaut worden. „Es | |
| ist kein Geheimnis: Wer hier ein schönes Haus hat, ist mit krummen | |
| Geschäften reich geworden“, erzählt ein Lokalreporter. „In erster Linie | |
| durch Zigaretten- und Menschenschmuggel.“ Von Kiew durch die Karpaten und | |
| mehr als 800 Kilometer schlechte Straßen getrennt, wenden sich die | |
| transkarpatischen Ungarn konsequent Richtung Westen: Sie sehen ungarisches | |
| Fernsehen und leben nach Budapester Zeit, eine Stunde vor Kiew. | |
| Das einstige Niemandsland zwischen der früheren Sowjetunion und der | |
| Volksrepublik Ungarn wird heute von Polizisten mit Hunden und | |
| Wärmesuchgeräten bewacht. Jedes Jahr versuchen Hunderte Migranten aus | |
| Pakistan, Afghanistan und Somalia die Barriere zu überwinden. „Um über die | |
| Grenze zu kommen, muss man etwa 5 000 Euro Schmiergeld für die Grenzbeamten | |
| einkalkulieren. Anders kommt man praktisch nicht rüber“, erklärt Haruni, | |
| ein Somalier, der seit zwei Jahren in Uschhorod, der Hauptstadt des | |
| Oblasts, festsitzt. | |
| Im Sommer 2012 wurden zwei Schmugglertunnel in die Slowakei entdeckt und 13 | |
| 000 Zigarettenstangen beschlagnahmt – eine Beute im Wert von rund 130 000 | |
| Euro. „Ohne den kleinen Grenzschmuggel würden die meisten nicht überleben�… | |
| erklärt der Soziologe Antal Örkeny. „Durch die Schengengrenze sind die | |
| Menschen hier noch stärker von der Union abgeschnitten als früher.“ | |
| Rund fünfzig Kilometer weiter südlich scheint das Städtchen Berehowe schon | |
| lange in einer Art Dornröschenschlaf zu liegen. Berehowe hat rund 25 000 | |
| Einwohner, die Hälfte bezeichnet sich als Ungarn. Ein Rudel Hunde streift | |
| durch die Gassen der Altstadt, deren pastellfarbene Fassaden verwittern. | |
| Auch hier gibt es kaum Jobs; Arbeit gibt es nur in den wenigen | |
| italienischen Textilfabriken – für maximal 250 Euro im Monat. „Natürlich | |
| versuchen wir die Jungen zu halten, aber viele wandern nach Ungarn aus, | |
| sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben“, erzählt Ildiko Orosz, die | |
| Leiterin des Ungarischen Hochschulinstituts in Transkarpatien „Ferenc II. | |
| Rakoczi“. „Die Kinder der ungarischen Minderheit gehen auf ukrainische | |
| Schulen und assimilieren sich. Früher hat hier niemand Ukrainisch | |
| gesprochen.“ In dieser lange umkämpften Grenzregion war die Verkehrssprache | |
| Ruthenisch, das von den ukrainischen Nationalisten nicht anerkannt wird | |
| (siehe Text rechts). „Wir haben im 20. Jahrhundert viel gelitten und einen | |
| Großteil unserer intellektuellen Elite verloren. Doch seit 1996 können an | |
| unserem Institut die jungen transkarpatischen Ungarn wieder ein komplettes | |
| Studium in ihrer Muttersprache abschließen. Das wäre an einer ukrainischen | |
| Universität nicht möglich.“ | |
| An der Straße zwischen Berehowe und Uschhorod steht die Burg Palanok des | |
| Fürsten Ferenc II. Rakoczi, der von 1703 bis 1711 einen Aufstand gegen die | |
| Habsburger Zentralmacht anführte. „Hier haben schon immer Ungarn gelebt – | |
| während die Ukraine gerade mal zwanzig Jahre alt ist“, erklärt Betty | |
| Henkel, die seit ihrem Hochschulabschluss noch keine Arbeit gefunden hat. | |
| „Heute stellt man uns ja gern als Ausnahmefall dar, dabei haben wir unsere | |
| eigenen Schulen und eigene Vereine und Parteien. Natürlich leben wir hier | |
| alle zusammen, und wir arrangieren uns mit der gegenwärtigen Regierung auch | |
| so gut es geht. Aber wir erwarten nichts vom ukrainischen Staat.“ | |
| Roman Ofizynskij, der stellvertretende Rektor der Nationaluniversität | |
| Uschhorod, hält nicht viel von der autonomen ungarischen Universität: „Der | |
| Studiengang am Institut in Berehowe bietet keinerlei berufliche | |
| Perspektive. Nicht nur nützt das Ungarische gar nichts, um in der Ukraine | |
| eine Stelle zu finden, dazu kommt noch, dass sie den Schwerpunkt dort auf | |
| Philologie und Geschichte legen und die praktischen Fächer vernachlässigen. | |
| Wie viele Geschichtsprofessoren braucht man denn? An unserer Uni haben wir | |
| einen Lehrstuhl für Ungaristik, und es gibt eigene Stipendien für | |
| ungarischsprachige Studenten. Sie beklagen sich andauernd über | |
| Diskriminierung, dabei sind sie sehr privilegiert.“ | |
| Die seit 1991 unabhängige Ukraine ist immer noch ein Land auf der Suche | |
| nach sich selbst. Zwischen dem mehrheitlich russischsprachigen Osten und | |
| dem Westen, wo neben dem Ukrainischen zahlreiche Minderheitensprachen | |
| gesprochen werden, liegt eine Art linguistischer Graben, den die | |
| verschiedenen Regime stets zu nivellieren versuchten. „Während der | |
| Sowjetzeit wurden russische Beamte und Soldaten in Transkarpatien | |
| angesiedelt, was eine massive Russifizierung zur Folge hatte. Deshalb | |
| unterstützten die ukrainischen Ungarn 2004 die Orangene Revolution von | |
| Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko“, sagt Istvan Csernicsko, | |
| stellvertretender Rektor des Ungarischen Instituts Berehowe. „Aber die neue | |
| Regierung hatte nicht das geringste Interesse daran, den Regionalismus in | |
| Transkarpatien zu fördern, weil sie fürchtete, dass dies wiederum den Osten | |
| autonomer machen würde. Deshalb wurde überall, wo es ging, das Ukrainische | |
| zur Pflichtsprache erhoben – zum Leidwesen der Minderheiten.“ | |
| Wiktor Janukowitsch, Juschtschenkos alter Rivale, gegen den sich 2004 die | |
| „Orangene Revolution“ gerichtet hatte, ist nach Timoschenkos Wahlniederlage | |
| seit 2010 Präsident der Ukraine.[3]Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen | |
| vom 28. Oktober 2012 unterzeichnete er im August ein Gesetz, das | |
| Minderheitensprachen, die von mehr als 10 Prozent der Bevölkerung eines | |
| Oblasts gesprochen werden, einen offiziellen Status einräumt. Das war keine | |
| ungeschickte Strategie, um sich die Stimmen der Minderheiten zu sichern und | |
| gleichzeitig die russischsprachigen Wähler zu mobilisieren. Am 24. Dezember | |
| 2012 wurde das Gesetz vom transkarpatischen Regionalparlament ratifiziert. | |
| ## Slowakische Volksmusik im Festsaal von Bükkszentkereszt | |
| Istvan Gajdos ist Präsident der Ungarisch-Demokratischen Föderation in der | |
| Ukraine (UMDSZ), einer der beiden politischen Parteien, die die Ungarn in | |
| Transkarpatien repräsentieren,[4]und Bürgermeister von Berehowe; er wurde | |
| auf der Liste von Janukowitsch’ Partei der Regionen (PR) in die Werchowna | |
| Rada gewählt, das ukrainische Parlament. „Ungarisch ist jetzt die | |
| offizielle Sprache des Oblast und der Gemeinde. Es war uns sehr wichtig, | |
| dass wir in unserer Stadt unsere Muttersprache verwenden dürfen. | |
| Verkehrsschilder und amtliche Mitteilungen können nun offiziell in zwei | |
| Sprachen verfasst sein. Natürlich können nicht alle Verwaltungsangestellte | |
| Ungarisch, aber in Zukunft wird die Kenntnis des Ungarischen ein | |
| Einstellungskriterium sein.“ | |
| Die rechtsextreme Allukrainische Vereinigung „Swoboda“, die bei den | |
| Parlamentswahlen im vergangenen Oktober erstmals 10 Prozent der | |
| Wählerstimmen bekommen hat und 38 Abgeordnete ins Parlament schicken | |
| konnte, will das Gesetz bekämpfen. Oleh Kuzin, der Chef der Regionalsektion | |
| der Partei, sieht in der „Remagyarisierung“ („Re-Ungarisierung“) von | |
| Berehowe einen Beweis für die separatistischen Bestrebungen der | |
| transkarpatischen Ungarn und den Budapester Imperialismus. „Der ungarische | |
| Staat gibt jährlich eine Million US-Dollar für die Unterstützung der | |
| ukrainischen Ungarn aus, und das Konsulat verteilt großzügig ungarische | |
| Pässe, was wirklich ein Unding ist – ein ukrainischer Staatsbürger darf nur | |
| eine einzige Staatsangehörigkeit haben! Aber Budapest will um jeden Preis | |
| die ungarischen Bezirke von der restlichen Ukraine isolieren – natürlich um | |
| sie sich am Ende einzuverleiben.“ Darin sieht Kuzin ein „ernsthaftes | |
| Problem für die Sicherheit unseres Landes“. | |
| In Viktor Orbans erster Amtszeit als Ministerpräsident von Ungarn wurde | |
| 2001 für Auslandsungarn ein sogenannter Statusausweis eingeführt, der den | |
| Zugang ins Land zum Studieren und Arbeiten erleichtert. Darüber hinaus | |
| schlossen Kiew und Budapest ein Abkommen, nach dem die Bewohner aus | |
| Ortschaften, die weniger als 50 Kilometer von der Grenze entfernt liegen, | |
| ohne Schengen-Visum nach Ungarn einreisen können. | |
| Nachdem Orban im Mai 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident geworden war, | |
| können nun seit Januar 2011 die insgesamt 2,5 Millionen Auslandsungarn in | |
| Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine sogar einen ungarischen | |
| Pass beantragen, wobei die Ukraine eigentlich gar keine doppelte | |
| Staatsbürgerschaft zulässt. „Die ukrainische Justiz bestraft niemanden, der | |
| zwei Pässe besitzt – solange er es nicht an die große Glocke hängt“, | |
| rechtfertigt sich Istvan Toth, der ungarische Generalkonsul in Berehowe, | |
| vorsichtig. Er will zwar nicht sagen, wie viele Bürger der Ukraine | |
| ungarische Pässe beantragt haben[5], räumt aber ein, dass viel Geld aus | |
| Budapest nach Transkarpatien fließt, mit dem die Universität, die | |
| Kulturvereine und Organisationen am Leben erhalten werden. | |
| „Dass die Auslandsungarn von der ungarischen Regierung unterstützt werden, | |
| ist doch ganz normal, aber es reicht leider nicht“, stellt Miklos Kovacs | |
| resigniert fest. Kovacs ist der Vorsitzende der Kulturellen Föderation in | |
| Transkarpatien (KMKSZ), die sich Viktor Orbans Partei Fidesz angeschlossen | |
| hat. „Wir werden von Jahr zu Jahr weniger, und es wird immer schwieriger, | |
| die ukrainischen Ungarn für die Verteidigung ihrer Interessen zu | |
| mobilisieren.“ In der Kultur sehe es zwar besser aus, aber das sei | |
| eigentlich auch nur Folklore. „In ein paar Jahren wird es uns nicht mehr | |
| geben – vielleicht noch als Gemeinschaft, aber nicht mehr als politisch | |
| aktive Kraft. Dann wird sich die ungarische Frage in der Ukraine endgültig | |
| erledigt haben.“ | |
| Viele denken, dass Orban den ungarischen Nationalismus im Ausland vor allem | |
| deshalb schürt, weil er gegen die Wirtschaftskrise im eigenen Land nichts | |
| ausrichten kann. Seit Orban nach dem Fidesz-Wahlsieg von 2010 wieder an der | |
| Macht ist, beobachtet man in den Nachbarländern mit ungarischen | |
| Minderheiten voller Sorge, wie der Ministerpräsident die | |
| Großungarn-Nostalgiker hofiert. Das „Grundgesetz Ungarns“, die neue | |
| Verfassung, die am 25. April 2011 unterzeichnet wurde, beschwört die | |
| christlichen Wurzeln und die „tausendjährige“ Geschichte des Landes und | |
| übernimmt ausdrücklich „Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der | |
| Landesgrenzen lebenden Ungarn“. Dieser „kollektive Narzissmus“, sagt die | |
| ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky, „geht einher mit | |
| einem ständig kommunizierten Opfermythos, das heißt, die Ungarn, die | |
| Magyaren, sind Opfer der Geschichte, Opfer der äußeren Feinde und Opfer der | |
| inneren Feinde, […] und das gehört im Moment vor allem zu der Rhetorik der | |
| Regierung.“[6] | |
| In Miskolc, dem größten Industriezentrum im Nordosten Ungarns, etwa 150 | |
| Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, zerfallen die letzten | |
| Ruinen der einstigen Stahlfabriken. Noch Anfang der 1980er Jahre | |
| beschäftigte die Lenin-Stahlhütte über 18 000 Arbeiter, und zwei Drittel | |
| der 200 000 Einwohner der Stadt lebten von der Schwerindustrie. Diese Welt | |
| ist mit der Einführung der Marktwirtschaft untergegangen. „In den neunziger | |
| Jahren waren 30 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos“, erzählt György | |
| Mike, der im Rathaus von Miskolc – seit 2010 ebenfalls fest in der Hand von | |
| Fidesz – für die Staatsbetriebe zuständig ist. „Zwar entwickelten sich na… | |
| und nach der Textil- und der Bankensektor, um die Schwerindustrie | |
| abzulösen, aber die Leute häuften Schulden an; viele sind heute ruiniert.“ | |
| Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 schließen die Geschäfte in der | |
| Innenstadt, und die EU-Subventionen, mit denen beispielsweise das Rathaus | |
| renoviert wurde, reichen nicht mehr aus, um die Wirtschaft am Laufen zu | |
| halten. „Der frühere sozialistische Bürgermeister hat die Schulden der | |
| Stadt auf das Dreifache anwachsen lassen. Wir bekommen keine Kredite mehr“, | |
| fährt Mike fort. Wegen der Krise, der allgemeinen und der persönlichen, | |
| hätten die Leute daraufhin massenweise für Fidesz gestimmt. | |
| In den 1990er Jahren war Miskolc noch eine Hochburg der „Roten“. Inzwischen | |
| geht die rechtsextreme Jobbik-Partei („Bewegung für ein besseres Ungarn“) | |
| hier erfolgreich auf Stimmenfang. Bei den letzten Wahlen im April 2010 | |
| errang Jobbik 16,7 Prozent der Stimmen und 47 Parlamentssitze. In einem | |
| kleinen Büro in der Innenstadt betrachtet der Jobbik-Funktionär Miklos | |
| Arpad nachdenklich die Karte von „Großungarn“. „Dass Transkarpatien der | |
| Ukraine zugeschlagen wurde, ist einfach ungerecht. Auch die Ungarn in der | |
| Slowakei oder Siebenbürgen wollten sicher nicht von ihrem Mutterland | |
| abgeschnitten sein. Ungarn war tatsächlich das größte Opfer der | |
| Friedensverträge“, erklärt er. „In diesen Regionen leben immer noch sehr | |
| viele Ungarn. Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen.“ | |
| Mit den Pässen für Auslandsungarn will sich Viktor Orban in erster Linie | |
| Wählerstimmen sichern, aber auch den demografischen Niedergang aufhalten: | |
| Seit Anfang der 1990er Jahre hat Ungarn 350 000 Einwohner verloren, die | |
| Geburtenrate bewegt sich um 1,3 Kinder pro Frau und liegt damit weit unter | |
| der von Bevölkerungswissenschaftlern angenommenen „magischen Schwelle“ von | |
| 2,1 Kindern, bei der sich die Bevölkerung selbst reproduziert. Der | |
| Soziologe Zoltan Kantor glaubt allerdings nicht an den demografischen Schub | |
| durch die Auslandsungarn. Er betrachtet den „Trianon-Pass“ vielmehr als | |
| eine „natürliche nationale Bestätigung“: „Vor dem EU-Beitritt, etwa Ende | |
| der 1990er Jahre, hätte die Verteilung von Pässen die Auslandsungarn nach | |
| Ungarn locken können, aber heute nicht mehr – die Grenzen sind schließlich | |
| offen“, sagt er. „Allerdings hat Orban mit der Frage der ungarischen | |
| Minderheiten in den Nachbarstaaten eines der wichtigsten Wahlkampfthemen | |
| von Jobbik an sich gerissen.“ Vielleicht schaffe es Orban damit sogar, | |
| diese Bewegung einzudämmen, meint Kantor. | |
| In der Slowakei verfolgt man voller Sorge die nationalistischen | |
| Wahlversprechen der Orban-Regierung, zumal es zwischen den beiden Ländern | |
| häufig zu Unstimmigkeiten kommt. Robert Fico, der amtierende slowakische | |
| Ministerpräsident, der während seiner ersten Amtszeit mit der | |
| nationalistischen SNS, der Slowakischen Nationalpartei, koalierte, | |
| vermutete bereits kurz nach Orbans Wahlsieg vor fast drei Jahren, dass | |
| Fidesz ein neues Großungarn wie vor dem Trianon-Vertrag anstrebe, was für | |
| die Sicherheit der Slowakei ein Risiko darstelle. „Stellen Sie sich vor, | |
| was passiert, wenn Tausende Staatsbürger die ungarische Nationalität | |
| annehmen: Die ungarischen Politiker würden sich aufführen, als gehörte der | |
| Süden der Slowakei zu ihrem Staatsgebiet!“[7] | |
| Bereits im Juli 2009 hatte die Slowakei den Gebrauch des Ungarischen aus | |
| der Verwaltung und allen öffentlichen Räumen verbannt. Seit 2010 ist die | |
| doppelte Staatsbürgerschaft verboten; andernfalls droht der Verlust des | |
| slowakischen Passes. Die SNS, deren Vorsitzender Jan Slota die Ungarn als | |
| „Krebs im Körper der slowakischen Nation“ bezeichnet hatte, begrüßte die | |
| Entscheidung. „Die Maßnahme ist absolut legitim“, findet auch Cyril Lesko, | |
| der SNS-Ortsvorsitzende im ostslowakischen Presov. „Sonst kommt die | |
| ungarische Minderheit noch auf die Idee, sich abzuspalten.“ | |
| In der Slowakei leben etwa 500 000 Ungarn, vor allem im Süden, im | |
| Grenzgebiet zu Ungarn. Hinter dem Dorf Velke Raskovce, nicht weit von | |
| Kosice, beginnt eine sumpfige Ebene, die bis zum Horizont reicht. Die Sonne | |
| geht langsam unter. Jakab Elemer blickt nach Süden, in Richtung der | |
| ungarischen Grenze. „Wir sind Ungarn, aber slowakische Staatsbürger: Und | |
| wir wollen beides sein. Wir lassen uns von Budapest keine Vorschriften | |
| machen.“ Elemer ist einer von 14 Abgeordneten der Partei Most-Hid[8]in der | |
| Narodna Rada, dem slowakischen Parlament. „2009 sind wir aus der Partei der | |
| ungarischen Gemeinde (SMK) ausgetreten, um einen eigenen Verband zu | |
| gründen, denn wir sehen uns nicht als ‚ethnische‘ Partei: Wir sind für die | |
| Integration in die slowakische Gesellschaft, ohne dass wir darum unsere | |
| Wurzeln und unsere Kultur verleugnen“, erklärt er. Das sind ganz neue Töne | |
| – die meisten Parteien der Auslandsungarn halten tatsächlich enge | |
| Verbindung mit Budapest –, doch sie kommen gut an: Bei den slowakischen | |
| Parlamentswahlen erreichte die Partei immerhin 8,1 Prozent, die SMK | |
| hingegen, die eine strengere nationalistische Linie vertritt, blieb unter | |
| der Fünfprozenthürde. | |
| „Im Gegensatz zur Ukraine oder zu Rumänien gibt es in der Slowakei viele | |
| gemischte Ehen“, erzählt Antal Örkeny. „Die ungarischen Minderheiten haben | |
| keinen großen sozialen Einfluss, und es liegt in ihrem ureigenen Interesse, | |
| sich in die slowakische Gesellschaft zu integrieren.“ Für den Soziologen | |
| hängt die Identitätspolitik der Minderheiten weitgehend von den | |
| sozioökonomischen Gegebenheiten ab. | |
| Im benachbarten Ungarn zeigt uns Istvanne Szöllösi, die Vertreterin des | |
| slowakischen Nationalrats im Dorf Bükkszentkereszt, wenige Kilometer von | |
| Miskolc entfernt, den Festsaal der Gemeinde, in dem slowakische | |
| Volksmusikkonzerte veranstaltet werden. „Mitte des 18. Jahrhunderts kamen | |
| unsere Vorfahren hierher, um in den Glasfabriken rund um Miskolc zu | |
| arbeiten“, erzählt sie. „Die Fabriken gibt es nicht mehr, aber wir sind in | |
| Ungarn sehr gut integriert. Niemand kommt auf die Idee, von hier | |
| wegzugehen.“ Zwar gibt es nach wie vor eine slowakische Grundschule, doch | |
| die Dorfbewohner, die noch die Sprache ihrer Eltern sprechen, sterben | |
| langsam aus. Aber diese Situation kann sich schnell ändern. „Wenn sich die | |
| wirtschaftliche Lage in Ungarn weiter verschlechtert und eine Auswanderung | |
| in die Slowakei interessant wird, werden sich die Leute von | |
| Bükkszentkereszt sicher ganz gern auf ihre Wurzeln besinnen“, prophezeit | |
| Antal Örkeny. | |
| Als die Slowakei und Ungarn zusammen mit acht weiteren Staaten 2004 der | |
| Europäischen Union beitraten, war damit auch die Hoffnung verbunden, dass | |
| sich die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Renaissance des | |
| Nationalismus mit der allmählichen Aufhebung der Grenzen abschwächen würde. | |
| In einer stark idealisierten Vorstellung malte man sich aus, dass die | |
| Integration in die Europäische Union „Mitteleuropa“ wiederbeleben würde. | |
| Doch dann kam die Wirtschaftskrise, in deren Gefolge eine europapolitische | |
| Maßnahme nach der anderen missglückte, und die nationale Engstirnigkeit | |
| rückte wieder in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass die 2008 ausgerufene | |
| Unabhängigkeit des Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen hat: Sie zeigte, | |
| dass zumindest zu diesem Zeitpunkt die Nationalstaatsbildung auf dem | |
| europäischen Kontinent offensichtlich doch noch nicht abgeschlossen war. | |
| Und dass sich Staatsgrenzen immer noch verschieben konnten. | |
| 12 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Laurent Geslin / Sébastien Gobert | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |