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# taz.de -- Jenseits von Schengen
> Die Ungarn in Transkarpatien leben nach Budapester Zeit von Laurent
> Geslin und Sébastien Gobert
Mein Großvater hat sein Leben lang in demselben Dorf gewohnt und dabei in
fünf verschiedenen Ländern gelebt.“ Tjatschiw liegt an der Theiß im
westlichen Karpatenvorland. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte der heutige
ukrainische Oblast[1]Transkarpatien zur Habsburger Doppelmonarchie
Österreich-Ungarn. Im Friedensvertrag von Trianon, der die faktische
Auflösung des Vielvölkerstaats am 4. Juni 1920 besiegelte, wurde die Region
der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik zugesprochen. Der
ehemalige Zöllner Sandor Igyarto, ukrainischer Staatsbürger ungarischer
Herkunft, zieht an seiner amerikanischen Zigarette. „1938 kehrten die
Ungarn zurück. Im Krieg wurde mein Großvater zur ungarischen Armee
eingezogen und an die Ostfront geschickt. Ende 1944, als wir sowjetisch
wurden, hat man ihn nach Sibirien deportiert. Er kam erst nach Stalins Tod
zurück.“
In Tjatschiw gibt es eine calvinistische, eine katholische, eine
griechisch-katholische und eine orthodoxe Gemeinde. Auf dem Hauptplatz
stehen Kriegerdenkmäler für die Gefallenen: die österreichisch-ungarischen
Soldaten des Ersten Weltkriegs, die Partisanen des Zweiten Weltkriegs und
die Sowjetsoldaten des Afghanistankriegs. Willkommen im Herzen Europas: So
errechneten es die k. u. k. Landvermesser und errichteten dem geografischen
Mittelpunkt Europas im Jahr 1887 ein paar Kilometer weiter östlich, im Dorf
Rachiw, ein Denkmal. Heute ist Transkarpatien eine vergessene Randregion an
der Ostgrenze der Europäischen Union, abgehängt hinter der
„Schengen-Linie“, die Ungarn, die Slowakei und Polen von Rumänien und der
Ukraine trennt. Für die Transkarpatier liegt „Europa“ nur einen Steinwurf
entfernt, und ist doch unerreichbar – jenseits der letzten „Mauer“ des
Kontinents hinter einer Grenze, die trennt und nährt zugleich.
Wie ganz Mitteleuropa war auch Transkarpatien lange Zeit ein multikulturell
geprägter Landstrich. Hier lebten Ungarn, Ruthenen, Ukrainer, Deutsche,
Roma und Juden zusammen. Anfang des 20. Jahrhunderts begann ein Prozess der
Homogenisierung, der sich vor allem seit 1991, mit der Unabhängigkeit der
Ukraine, beschleunigt hat. Laut der letzten Volkszählung von 2001 leben nur
noch 150 000 Ungarn in Transkarpatien, das sind 12 Prozent der
Gesamtbevölkerung der Region – 1921 waren es noch 17 Prozent.[2]„Jedes Jahr
wandern fünf- bis sechstausend Menschen nach Ungarn aus“, erzählt Igyarto,
„weil sie hier keine Perspektive haben. Die wirtschaftliche Lage ist
dramatisch.“
Dennoch sind in der Grenzstadt Tschop, dem für die Sowjetunion einst
wichtigen Eisenbahnknoten im ungarisch-slowakisch-ukrainischen
Dreiländereck, in den letzten Jahren viele neue Villen gebaut worden. „Es
ist kein Geheimnis: Wer hier ein schönes Haus hat, ist mit krummen
Geschäften reich geworden“, erzählt ein Lokalreporter. „In erster Linie
durch Zigaretten- und Menschenschmuggel.“ Von Kiew durch die Karpaten und
mehr als 800 Kilometer schlechte Straßen getrennt, wenden sich die
transkarpatischen Ungarn konsequent Richtung Westen: Sie sehen ungarisches
Fernsehen und leben nach Budapester Zeit, eine Stunde vor Kiew.
Das einstige Niemandsland zwischen der früheren Sowjetunion und der
Volksrepublik Ungarn wird heute von Polizisten mit Hunden und
Wärmesuchgeräten bewacht. Jedes Jahr versuchen Hunderte Migranten aus
Pakistan, Afghanistan und Somalia die Barriere zu überwinden. „Um über die
Grenze zu kommen, muss man etwa 5 000 Euro Schmiergeld für die Grenzbeamten
einkalkulieren. Anders kommt man praktisch nicht rüber“, erklärt Haruni,
ein Somalier, der seit zwei Jahren in Uschhorod, der Hauptstadt des
Oblasts, festsitzt.
Im Sommer 2012 wurden zwei Schmugglertunnel in die Slowakei entdeckt und 13
000 Zigarettenstangen beschlagnahmt – eine Beute im Wert von rund 130 000
Euro. „Ohne den kleinen Grenzschmuggel würden die meisten nicht überleben�…
erklärt der Soziologe Antal Örkeny. „Durch die Schengengrenze sind die
Menschen hier noch stärker von der Union abgeschnitten als früher.“
Rund fünfzig Kilometer weiter südlich scheint das Städtchen Berehowe schon
lange in einer Art Dornröschenschlaf zu liegen. Berehowe hat rund 25 000
Einwohner, die Hälfte bezeichnet sich als Ungarn. Ein Rudel Hunde streift
durch die Gassen der Altstadt, deren pastellfarbene Fassaden verwittern.
Auch hier gibt es kaum Jobs; Arbeit gibt es nur in den wenigen
italienischen Textilfabriken – für maximal 250 Euro im Monat. „Natürlich
versuchen wir die Jungen zu halten, aber viele wandern nach Ungarn aus,
sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben“, erzählt Ildiko Orosz, die
Leiterin des Ungarischen Hochschulinstituts in Transkarpatien „Ferenc II.
Rakoczi“. „Die Kinder der ungarischen Minderheit gehen auf ukrainische
Schulen und assimilieren sich. Früher hat hier niemand Ukrainisch
gesprochen.“ In dieser lange umkämpften Grenzregion war die Verkehrssprache
Ruthenisch, das von den ukrainischen Nationalisten nicht anerkannt wird
(siehe Text rechts). „Wir haben im 20. Jahrhundert viel gelitten und einen
Großteil unserer intellektuellen Elite verloren. Doch seit 1996 können an
unserem Institut die jungen transkarpatischen Ungarn wieder ein komplettes
Studium in ihrer Muttersprache abschließen. Das wäre an einer ukrainischen
Universität nicht möglich.“
An der Straße zwischen Berehowe und Uschhorod steht die Burg Palanok des
Fürsten Ferenc II. Rakoczi, der von 1703 bis 1711 einen Aufstand gegen die
Habsburger Zentralmacht anführte. „Hier haben schon immer Ungarn gelebt –
während die Ukraine gerade mal zwanzig Jahre alt ist“, erklärt Betty
Henkel, die seit ihrem Hochschulabschluss noch keine Arbeit gefunden hat.
„Heute stellt man uns ja gern als Ausnahmefall dar, dabei haben wir unsere
eigenen Schulen und eigene Vereine und Parteien. Natürlich leben wir hier
alle zusammen, und wir arrangieren uns mit der gegenwärtigen Regierung auch
so gut es geht. Aber wir erwarten nichts vom ukrainischen Staat.“
Roman Ofizynskij, der stellvertretende Rektor der Nationaluniversität
Uschhorod, hält nicht viel von der autonomen ungarischen Universität: „Der
Studiengang am Institut in Berehowe bietet keinerlei berufliche
Perspektive. Nicht nur nützt das Ungarische gar nichts, um in der Ukraine
eine Stelle zu finden, dazu kommt noch, dass sie den Schwerpunkt dort auf
Philologie und Geschichte legen und die praktischen Fächer vernachlässigen.
Wie viele Geschichtsprofessoren braucht man denn? An unserer Uni haben wir
einen Lehrstuhl für Ungaristik, und es gibt eigene Stipendien für
ungarischsprachige Studenten. Sie beklagen sich andauernd über
Diskriminierung, dabei sind sie sehr privilegiert.“
Die seit 1991 unabhängige Ukraine ist immer noch ein Land auf der Suche
nach sich selbst. Zwischen dem mehrheitlich russischsprachigen Osten und
dem Westen, wo neben dem Ukrainischen zahlreiche Minderheitensprachen
gesprochen werden, liegt eine Art linguistischer Graben, den die
verschiedenen Regime stets zu nivellieren versuchten. „Während der
Sowjetzeit wurden russische Beamte und Soldaten in Transkarpatien
angesiedelt, was eine massive Russifizierung zur Folge hatte. Deshalb
unterstützten die ukrainischen Ungarn 2004 die Orangene Revolution von
Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko“, sagt Istvan Csernicsko,
stellvertretender Rektor des Ungarischen Instituts Berehowe. „Aber die neue
Regierung hatte nicht das geringste Interesse daran, den Regionalismus in
Transkarpatien zu fördern, weil sie fürchtete, dass dies wiederum den Osten
autonomer machen würde. Deshalb wurde überall, wo es ging, das Ukrainische
zur Pflichtsprache erhoben – zum Leidwesen der Minderheiten.“
Wiktor Janukowitsch, Juschtschenkos alter Rivale, gegen den sich 2004 die
„Orangene Revolution“ gerichtet hatte, ist nach Timoschenkos Wahlniederlage
seit 2010 Präsident der Ukraine.[3]Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen
vom 28. Oktober 2012 unterzeichnete er im August ein Gesetz, das
Minderheitensprachen, die von mehr als 10 Prozent der Bevölkerung eines
Oblasts gesprochen werden, einen offiziellen Status einräumt. Das war keine
ungeschickte Strategie, um sich die Stimmen der Minderheiten zu sichern und
gleichzeitig die russischsprachigen Wähler zu mobilisieren. Am 24. Dezember
2012 wurde das Gesetz vom transkarpatischen Regionalparlament ratifiziert.
## Slowakische Volksmusik im Festsaal von Bükkszentkereszt
Istvan Gajdos ist Präsident der Ungarisch-Demokratischen Föderation in der
Ukraine (UMDSZ), einer der beiden politischen Parteien, die die Ungarn in
Transkarpatien repräsentieren,[4]und Bürgermeister von Berehowe; er wurde
auf der Liste von Janukowitsch’ Partei der Regionen (PR) in die Werchowna
Rada gewählt, das ukrainische Parlament. „Ungarisch ist jetzt die
offizielle Sprache des Oblast und der Gemeinde. Es war uns sehr wichtig,
dass wir in unserer Stadt unsere Muttersprache verwenden dürfen.
Verkehrsschilder und amtliche Mitteilungen können nun offiziell in zwei
Sprachen verfasst sein. Natürlich können nicht alle Verwaltungsangestellte
Ungarisch, aber in Zukunft wird die Kenntnis des Ungarischen ein
Einstellungskriterium sein.“
Die rechtsextreme Allukrainische Vereinigung „Swoboda“, die bei den
Parlamentswahlen im vergangenen Oktober erstmals 10 Prozent der
Wählerstimmen bekommen hat und 38 Abgeordnete ins Parlament schicken
konnte, will das Gesetz bekämpfen. Oleh Kuzin, der Chef der Regionalsektion
der Partei, sieht in der „Remagyarisierung“ („Re-Ungarisierung“) von
Berehowe einen Beweis für die separatistischen Bestrebungen der
transkarpatischen Ungarn und den Budapester Imperialismus. „Der ungarische
Staat gibt jährlich eine Million US-Dollar für die Unterstützung der
ukrainischen Ungarn aus, und das Konsulat verteilt großzügig ungarische
Pässe, was wirklich ein Unding ist – ein ukrainischer Staatsbürger darf nur
eine einzige Staatsangehörigkeit haben! Aber Budapest will um jeden Preis
die ungarischen Bezirke von der restlichen Ukraine isolieren – natürlich um
sie sich am Ende einzuverleiben.“ Darin sieht Kuzin ein „ernsthaftes
Problem für die Sicherheit unseres Landes“.
In Viktor Orbans erster Amtszeit als Ministerpräsident von Ungarn wurde
2001 für Auslandsungarn ein sogenannter Statusausweis eingeführt, der den
Zugang ins Land zum Studieren und Arbeiten erleichtert. Darüber hinaus
schlossen Kiew und Budapest ein Abkommen, nach dem die Bewohner aus
Ortschaften, die weniger als 50 Kilometer von der Grenze entfernt liegen,
ohne Schengen-Visum nach Ungarn einreisen können.
Nachdem Orban im Mai 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident geworden war,
können nun seit Januar 2011 die insgesamt 2,5 Millionen Auslandsungarn in
Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine sogar einen ungarischen
Pass beantragen, wobei die Ukraine eigentlich gar keine doppelte
Staatsbürgerschaft zulässt. „Die ukrainische Justiz bestraft niemanden, der
zwei Pässe besitzt – solange er es nicht an die große Glocke hängt“,
rechtfertigt sich Istvan Toth, der ungarische Generalkonsul in Berehowe,
vorsichtig. Er will zwar nicht sagen, wie viele Bürger der Ukraine
ungarische Pässe beantragt haben[5], räumt aber ein, dass viel Geld aus
Budapest nach Transkarpatien fließt, mit dem die Universität, die
Kulturvereine und Organisationen am Leben erhalten werden.
„Dass die Auslandsungarn von der ungarischen Regierung unterstützt werden,
ist doch ganz normal, aber es reicht leider nicht“, stellt Miklos Kovacs
resigniert fest. Kovacs ist der Vorsitzende der Kulturellen Föderation in
Transkarpatien (KMKSZ), die sich Viktor Orbans Partei Fidesz angeschlossen
hat. „Wir werden von Jahr zu Jahr weniger, und es wird immer schwieriger,
die ukrainischen Ungarn für die Verteidigung ihrer Interessen zu
mobilisieren.“ In der Kultur sehe es zwar besser aus, aber das sei
eigentlich auch nur Folklore. „In ein paar Jahren wird es uns nicht mehr
geben – vielleicht noch als Gemeinschaft, aber nicht mehr als politisch
aktive Kraft. Dann wird sich die ungarische Frage in der Ukraine endgültig
erledigt haben.“
Viele denken, dass Orban den ungarischen Nationalismus im Ausland vor allem
deshalb schürt, weil er gegen die Wirtschaftskrise im eigenen Land nichts
ausrichten kann. Seit Orban nach dem Fidesz-Wahlsieg von 2010 wieder an der
Macht ist, beobachtet man in den Nachbarländern mit ungarischen
Minderheiten voller Sorge, wie der Ministerpräsident die
Großungarn-Nostalgiker hofiert. Das „Grundgesetz Ungarns“, die neue
Verfassung, die am 25. April 2011 unterzeichnet wurde, beschwört die
christlichen Wurzeln und die „tausendjährige“ Geschichte des Landes und
übernimmt ausdrücklich „Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der
Landesgrenzen lebenden Ungarn“. Dieser „kollektive Narzissmus“, sagt die
ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky, „geht einher mit
einem ständig kommunizierten Opfermythos, das heißt, die Ungarn, die
Magyaren, sind Opfer der Geschichte, Opfer der äußeren Feinde und Opfer der
inneren Feinde, […] und das gehört im Moment vor allem zu der Rhetorik der
Regierung.“[6]
In Miskolc, dem größten Industriezentrum im Nordosten Ungarns, etwa 150
Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, zerfallen die letzten
Ruinen der einstigen Stahlfabriken. Noch Anfang der 1980er Jahre
beschäftigte die Lenin-Stahlhütte über 18 000 Arbeiter, und zwei Drittel
der 200 000 Einwohner der Stadt lebten von der Schwerindustrie. Diese Welt
ist mit der Einführung der Marktwirtschaft untergegangen. „In den neunziger
Jahren waren 30 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos“, erzählt György
Mike, der im Rathaus von Miskolc – seit 2010 ebenfalls fest in der Hand von
Fidesz – für die Staatsbetriebe zuständig ist. „Zwar entwickelten sich na…
und nach der Textil- und der Bankensektor, um die Schwerindustrie
abzulösen, aber die Leute häuften Schulden an; viele sind heute ruiniert.“
Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 schließen die Geschäfte in der
Innenstadt, und die EU-Subventionen, mit denen beispielsweise das Rathaus
renoviert wurde, reichen nicht mehr aus, um die Wirtschaft am Laufen zu
halten. „Der frühere sozialistische Bürgermeister hat die Schulden der
Stadt auf das Dreifache anwachsen lassen. Wir bekommen keine Kredite mehr“,
fährt Mike fort. Wegen der Krise, der allgemeinen und der persönlichen,
hätten die Leute daraufhin massenweise für Fidesz gestimmt.
In den 1990er Jahren war Miskolc noch eine Hochburg der „Roten“. Inzwischen
geht die rechtsextreme Jobbik-Partei („Bewegung für ein besseres Ungarn“)
hier erfolgreich auf Stimmenfang. Bei den letzten Wahlen im April 2010
errang Jobbik 16,7 Prozent der Stimmen und 47 Parlamentssitze. In einem
kleinen Büro in der Innenstadt betrachtet der Jobbik-Funktionär Miklos
Arpad nachdenklich die Karte von „Großungarn“. „Dass Transkarpatien der
Ukraine zugeschlagen wurde, ist einfach ungerecht. Auch die Ungarn in der
Slowakei oder Siebenbürgen wollten sicher nicht von ihrem Mutterland
abgeschnitten sein. Ungarn war tatsächlich das größte Opfer der
Friedensverträge“, erklärt er. „In diesen Regionen leben immer noch sehr
viele Ungarn. Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen.“
Mit den Pässen für Auslandsungarn will sich Viktor Orban in erster Linie
Wählerstimmen sichern, aber auch den demografischen Niedergang aufhalten:
Seit Anfang der 1990er Jahre hat Ungarn 350 000 Einwohner verloren, die
Geburtenrate bewegt sich um 1,3 Kinder pro Frau und liegt damit weit unter
der von Bevölkerungswissenschaftlern angenommenen „magischen Schwelle“ von
2,1 Kindern, bei der sich die Bevölkerung selbst reproduziert. Der
Soziologe Zoltan Kantor glaubt allerdings nicht an den demografischen Schub
durch die Auslandsungarn. Er betrachtet den „Trianon-Pass“ vielmehr als
eine „natürliche nationale Bestätigung“: „Vor dem EU-Beitritt, etwa Ende
der 1990er Jahre, hätte die Verteilung von Pässen die Auslandsungarn nach
Ungarn locken können, aber heute nicht mehr – die Grenzen sind schließlich
offen“, sagt er. „Allerdings hat Orban mit der Frage der ungarischen
Minderheiten in den Nachbarstaaten eines der wichtigsten Wahlkampfthemen
von Jobbik an sich gerissen.“ Vielleicht schaffe es Orban damit sogar,
diese Bewegung einzudämmen, meint Kantor.
In der Slowakei verfolgt man voller Sorge die nationalistischen
Wahlversprechen der Orban-Regierung, zumal es zwischen den beiden Ländern
häufig zu Unstimmigkeiten kommt. Robert Fico, der amtierende slowakische
Ministerpräsident, der während seiner ersten Amtszeit mit der
nationalistischen SNS, der Slowakischen Nationalpartei, koalierte,
vermutete bereits kurz nach Orbans Wahlsieg vor fast drei Jahren, dass
Fidesz ein neues Großungarn wie vor dem Trianon-Vertrag anstrebe, was für
die Sicherheit der Slowakei ein Risiko darstelle. „Stellen Sie sich vor,
was passiert, wenn Tausende Staatsbürger die ungarische Nationalität
annehmen: Die ungarischen Politiker würden sich aufführen, als gehörte der
Süden der Slowakei zu ihrem Staatsgebiet!“[7]
Bereits im Juli 2009 hatte die Slowakei den Gebrauch des Ungarischen aus
der Verwaltung und allen öffentlichen Räumen verbannt. Seit 2010 ist die
doppelte Staatsbürgerschaft verboten; andernfalls droht der Verlust des
slowakischen Passes. Die SNS, deren Vorsitzender Jan Slota die Ungarn als
„Krebs im Körper der slowakischen Nation“ bezeichnet hatte, begrüßte die
Entscheidung. „Die Maßnahme ist absolut legitim“, findet auch Cyril Lesko,
der SNS-Ortsvorsitzende im ostslowakischen Presov. „Sonst kommt die
ungarische Minderheit noch auf die Idee, sich abzuspalten.“
In der Slowakei leben etwa 500 000 Ungarn, vor allem im Süden, im
Grenzgebiet zu Ungarn. Hinter dem Dorf Velke Raskovce, nicht weit von
Kosice, beginnt eine sumpfige Ebene, die bis zum Horizont reicht. Die Sonne
geht langsam unter. Jakab Elemer blickt nach Süden, in Richtung der
ungarischen Grenze. „Wir sind Ungarn, aber slowakische Staatsbürger: Und
wir wollen beides sein. Wir lassen uns von Budapest keine Vorschriften
machen.“ Elemer ist einer von 14 Abgeordneten der Partei Most-Hid[8]in der
Narodna Rada, dem slowakischen Parlament. „2009 sind wir aus der Partei der
ungarischen Gemeinde (SMK) ausgetreten, um einen eigenen Verband zu
gründen, denn wir sehen uns nicht als ‚ethnische‘ Partei: Wir sind für die
Integration in die slowakische Gesellschaft, ohne dass wir darum unsere
Wurzeln und unsere Kultur verleugnen“, erklärt er. Das sind ganz neue Töne
– die meisten Parteien der Auslandsungarn halten tatsächlich enge
Verbindung mit Budapest –, doch sie kommen gut an: Bei den slowakischen
Parlamentswahlen erreichte die Partei immerhin 8,1 Prozent, die SMK
hingegen, die eine strengere nationalistische Linie vertritt, blieb unter
der Fünfprozenthürde.
„Im Gegensatz zur Ukraine oder zu Rumänien gibt es in der Slowakei viele
gemischte Ehen“, erzählt Antal Örkeny. „Die ungarischen Minderheiten haben
keinen großen sozialen Einfluss, und es liegt in ihrem ureigenen Interesse,
sich in die slowakische Gesellschaft zu integrieren.“ Für den Soziologen
hängt die Identitätspolitik der Minderheiten weitgehend von den
sozioökonomischen Gegebenheiten ab.
Im benachbarten Ungarn zeigt uns Istvanne Szöllösi, die Vertreterin des
slowakischen Nationalrats im Dorf Bükkszentkereszt, wenige Kilometer von
Miskolc entfernt, den Festsaal der Gemeinde, in dem slowakische
Volksmusikkonzerte veranstaltet werden. „Mitte des 18. Jahrhunderts kamen
unsere Vorfahren hierher, um in den Glasfabriken rund um Miskolc zu
arbeiten“, erzählt sie. „Die Fabriken gibt es nicht mehr, aber wir sind in
Ungarn sehr gut integriert. Niemand kommt auf die Idee, von hier
wegzugehen.“ Zwar gibt es nach wie vor eine slowakische Grundschule, doch
die Dorfbewohner, die noch die Sprache ihrer Eltern sprechen, sterben
langsam aus. Aber diese Situation kann sich schnell ändern. „Wenn sich die
wirtschaftliche Lage in Ungarn weiter verschlechtert und eine Auswanderung
in die Slowakei interessant wird, werden sich die Leute von
Bükkszentkereszt sicher ganz gern auf ihre Wurzeln besinnen“, prophezeit
Antal Örkeny.
Als die Slowakei und Ungarn zusammen mit acht weiteren Staaten 2004 der
Europäischen Union beitraten, war damit auch die Hoffnung verbunden, dass
sich die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Renaissance des
Nationalismus mit der allmählichen Aufhebung der Grenzen abschwächen würde.
In einer stark idealisierten Vorstellung malte man sich aus, dass die
Integration in die Europäische Union „Mitteleuropa“ wiederbeleben würde.
Doch dann kam die Wirtschaftskrise, in deren Gefolge eine europapolitische
Maßnahme nach der anderen missglückte, und die nationale Engstirnigkeit
rückte wieder in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass die 2008 ausgerufene
Unabhängigkeit des Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen hat: Sie zeigte,
dass zumindest zu diesem Zeitpunkt die Nationalstaatsbildung auf dem
europäischen Kontinent offensichtlich doch noch nicht abgeschlossen war.
Und dass sich Staatsgrenzen immer noch verschieben konnten.
12 Apr 2013
## AUTOREN
Laurent Geslin / Sébastien Gobert
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