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# taz.de -- Die Verteidigung Ungarns
> von Corentin Léotard
Bei den Wahlen vom 6. April hat die Regierung Orbán ihre
Zweidrittelmehrheit im Parlament knapp behauptet. Und die rechtsradikale
Jobbik hat sogar noch zugelegt. Damit bleibt Ungarn auf seinem waghalsigen
rechten Kurs – in und gegen Europa zugleich.
Bei einer Gedenkveranstaltung für den Volksaufstand von 1956 begeisterte
der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 23. Oktober 2013 auf dem
Heldenplatz in Budapest seine Anhänger mit Sätzen wie diesen: „Der Kampf
der Ungarn für die Freiheit hatte seine Helden, aber auch seine Verräter.
Alle unsere Kämpfe um Unabhängigkeit wurden vom Ausland niedergeschlagen.
Wir wissen, dass es immer Leute gab, die unseren Feinden halfen. […] Die
Kommunisten haben Ungarn und das ungarische Volk an internationale
Finanzhaie und Spekulanten verkauft. Wir wissen, dass sie immer noch bereit
sind, Ungarn an die Kolonisatoren zu verkaufen. […] Wir sehen, dass sie
sich wieder organisieren, dass sie sich wieder mit Ausländern gegen uns
verbünden, dass sie wieder Hass, Zwietracht und Gewalt säen. […] Wir müssen
unsere Truppen in Stellung bringen, wie wir es 2010 getan haben. Wir werden
vollenden, was wir 1956 begonnen haben. Wenn wir uns jetzt nicht befreien,
werden wir niemals frei sein.“
Der Fidesz-Vorsitzende,[1]der Ungarn seit 2010 regiert, betrachtet liberale
Linke in Ungarn und ganz Europa als Feinde – desgleichen die
internationalen Konzerne. Als Beleg dient ihm der im Juli 2013 vom
Europaparlament gebilligte Tavares-Bericht, der die rechtsstaatlichen
Defizite in Ungarn kritisiert. Fidesz hält das für einen Vorwand, um die
Souveränität Ungarns zu untergraben. Hinter diesem Plan stecken angeblich
mächtige Brüsseler Lobbygruppen und die Ungarische Sozialistische Partei
(Nachfolgerin der einstigen Sozialistischen Arbeiterpartei) mit ihren
neoliberalen Neigungen. Als Antwort auf den Tavares-Bericht verabschiedete
das ungarische Parlament eine Resolution, die es für „inakzeptabel“
erklärte, dass das Europaparlament versuche, „zugunsten der großen
Privatunternehmen Druck auf unser Land auszuüben“.
Ministerpräsident Orbán macht sich Feinde. Als Verfechter des Primats der
Politik über die Wirtschaft und des Staats über die Märkte hat der
autoritäre Regierungschef eine Reihe unorthodoxer Maßnahmen angeordnet:
Sondersteuern für Wirtschaftszweige, die von internationalen Konzernen
kontrolliert werden (Energie, Banken, Kommunikation, Großhandel),
Verstaatlichung privater Pensionsfonds mit einem Gesamtvermögen von 10
Milliarden Euro, De-facto-Verbot von Fremdwährungskrediten, Einschränkung
der Unabhängigkeit der Zentralbank. Das alles gilt in der EU als Frevel.
In seiner Rede an die Nation erklärte Orbán am 16. Februar: „Als wir die
Macht übernommen haben, war der Krieg zwischen den internationalen
Konzernen und den Konsumenten, zwischen den Banken und ihren Schuldnern in
ausländischen Währungen, zwischen den Monopolisten und den Familien schon
in vollem Gang. Wir waren an allen Fronten die Verlierer. Inzwischen hat
sich das Kräfteverhältnis grundlegend verändert. Wir haben mehrere Runden
gewonnen, aber der Kampf ist noch nicht vorbei.“
In seinem letzten Amtsjahr konzentrierte sich Orbán auf den Kampf gegen
Banken und Energieunternehmen. Nachdem der Staat seit den Privatisierungen
der 1990er Jahre quasi aus dem Spiel war, will er in beiden Bereichen, die
heute zu 80 Prozent von Tochterunternehmen westeuropäischer Konzerne
beherrscht werden, wieder Fuß fassen. Die Regierung hat Energiekonzerne wie
Eon, Eni, Electricité de France und GDF-Suez gezwungen, die Tarife für die
privaten Verbraucher um 20 Prozent zu senken. Auch strebt sie einen
gemeinnützigen Sektor unter staatlicher Kontrolle an, wofür sie die
juristischen Voraussetzungen schaffen will. Die Banken sollen zudem die
Folgekosten der Überschuldung Hunderttausender Familien übernehmen, die in
den Nullerjahren Kredite in Schweizer Franken aufgenommen hatten.
## Sozialhilfeempfänger müssen Straßen kehren
Die Auseinandersetzung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigt am
klarsten, wie weit der Wille zur nationalen Unabhängigkeit geht. 2010
lehnte Orbán die letzten Tranchen eines Kredits von insgesamt 20 Milliarden
Euro ab, den Ungarn im Oktober 2008 mit IWF, Weltbank und EU ausgehandelt
hatte. Nach zähen Verhandlungen wies er Ende 2012 auch ein zweites Angebot
zurück. In einer aufwendigen PR-Kampagne setzte er auf simple Parolen:
„Nein zu Streichungen in der Familienhilfe! Nein zur Rentenkürzung! Wir
unterwerfen uns nicht dem IWF! Ungarn bleibt unabhängig!“ Im Schutz solcher
Freiheitskampf-Rhetorik setzte die Regierung ihre Sparpolitik mit Kürzungen
im Gesundheits- und Bildungswesen und bei den Sozialleistungen fort.
Von seinen Gegnern wird Orbán wegen seines Antiliberalismus und seiner
populistischen Klientelpolitik mit Hugo Chávez verglichen, wegen seines
autoritären Führungsstils mit Wladimir Putin und angesichts des
ausgeprägten Personenkults mit dem früheren rumänischen Diktator Nicolae
Ceauşescu. Der Ökonom Zoltán Pogatsa charakterisiert den Orbanismus etwas
zurückhaltender als „eine Mischung aus Gaullismus und Reaganismus“.
Der Regierungschef hat keineswegs vor, die Überreste des Sozialstaats durch
höhere öffentliche Einnahmen zu finanzieren. Er sieht den „Ausweg aus der
Sackgasse des westeuropäischen Modells vom Wohlfahrtsstaat“ vielmehr in
einer Gesellschaft, deren Grundlage die Arbeit ist. Im Juli 2012 ließ er
ein Gesetz beschließen, das die Empfänger von Sozialhilfe zu gemeinnütziger
Tätigkeit verpflichtet.[2]Diese Politik soll vor allem die Gläubiger (IWF,
EU und Weltbank) befriedigen sowie das Haushaltsdefizit unter 3 Prozent des
BIPs senken und die Schulden bei 80 Prozent des BIPs stabilisieren (beides
entspricht den „Maastricht-Kriterien“ der Eurozone). Die progressive
Einkommensteuer wurde durch eine Einheitssteuer von 16 Prozent ersetzt.
Wirtschaftsminister Mihály Varga plant für 2015 sogar eine Senkung auf 9
Prozent.[3]
Diese Politik kommt vor allem der Mittelschicht zugute, während die Armut
weiter zunimmt. Die Zahl der Ungarn, die unter der Armutsgrenze (220 Euro
im Monat) leben, ist nach Angaben der Soziologin Zsuzsa Ferge seit 2001 von
etwa 3 auf 4 Millionen gestiegen – eine Zunahme (bei 10 Millionen
Einwohnern) um 33 Prozent.
Hinter dem Schleier vorgeblich nationaler Interessen zeichnen sich immer
klarer die Formen der neuen Pfründen ab, die sich die Parteigranden des
Fidesz und deren Freunde aus „der Wirtschaft“ gesichert haben: Lajos
Simicska, ehemals Parteischatzmeister und Chef der Steuerbehörde, kam wie
sein Geschäftspartner Zsolt Nyerges und andere Großunternehmer[4]bei den
einträglichsten öffentlichen Aufträgen zum Zuge. Die alte Oligarchie wurde
von einer neuen abgelöst. Und auch die stützt sich auf ein die ganze
Gesellschaft durchsetzendes Klientelsystem, das durch Angst genährt und
durch Gleichgültigkeit begünstigt wird. Für die Soziologin Mária Vásárhel…
hat der „Orbanismus“ eine „Renaissance des Homo Kadaricus“[5]bewirkt, a…
jener unterwürfigen Mentalität, wie sie unter der Regierung János Kádár
(KP-Chef von 1956 bis 1988) typisch war.
Die filmische Dokumentation „Krieg gegen die Nation“, die mehrfach im
staatlichen Sender Duna Televízió ausgestrahlt wurde, stellt Ungarn als ein
Land dar, dass sich praktisch im Belagerungszustand befindet. In dem Film
stehen ernsthafte Analysen über die Verschiebung des nationalen Reichtums
vom staatlichen zum privaten Sektor neben obskuren Behauptungen über die
Gier der Großmächte. István Jelenczki stellt seinen Film als Reaktion auf
die Intervention des IWF von 2008 dar: „Ich war der Ansicht, dass durch den
Kredit des IWF unser Staatsvermögen verschleudert wurde und dass es an der
Zeit war, die Ungarn über den Krieg aufzuklären, der seit Jahrhunderten um
dieses Vermögen geführt wird.“[6]
Der Soziologe Endre Sik erklärt, woher solche Ressentiments kommen: „Die
Bevölkerung glaubt, dass sie schon immer kolonialisiert und ausgebeutet
wurde: von den Türken, den Deutschen, den Russen und heute von der
Europäischen Union. Die Politiker neigten immer dazu, Ausländer als
Hintermänner einer internationalen Verschwörung zu sehen.“ Dass die
Volksmeinung für solche Verschwörungstheorien empfänglich ist, sieht Sik in
einem größeren Zusammenhang: „Ob Juden, Zigeuner oder die EU – alle müss…
als Sündenböcke herhalten. Und die Politiker spielen mal die eine, mal die
andere Karte.“ Und der US-amerikanische Historiker William M. Johnston
schreibt: „Ihre Fähigkeit zum Träumen hat die Ungarn zu herausragenden
Advokaten gemacht, stets bereit, Ungarn als Ausnahme unter den Nationen zu
verteidigen.“[7]
## Beschwerden in Brüssel gelten als nationaler Verrat
Der Ministerpräsident gibt zwar zu, dass gegen ihn kein Komplott ausgeheckt
wurde. Aber er habe Anfang 2012 durch die Mobilisierung seiner Gefolgschaft
einen „Putsch“ verhindert. Damals zogen Hunderttausende in einem
„Friedensmarsch“ nach Budapest; sie kamen aus ganz Ungarn, aber auch aus
vormals ungarischen Gebieten, die heute zu Rumänien oder zur Slowakei
gehören. Diese „Auslandsungarn“ haben seit 2011 den Anspruch auf ungarische
Pässe – und damit das Recht, an Wahlen in Ungarn teilzunehmen, was
natürlich der Rechten zugutekommt. Zumal die Auslandsungarn – anders als im
Ausland lebende „normale“ Ungarn – per Briefwahl abstimmen können.[8]
„Wir werden keine Kolonie!“, skandierten die Demonstranten und „Europäis…
Union gleich Sowjetunion“. Mit solchen Parolen feierte die Menge die seit
Anfang 2012 gültige neue Verfassung. Weil diese die Kompetenzen des
Verfassungsgerichts, die Autorität der Gerichte und die Unabhängigkeit der
Zentralbank beschränkt, wurde sie im Ausland als Wende zum autoritären
System wahrgenommen.[9]Damals ging auch das Gerücht um, der sozialistische
Oppositionsführer Mesterházy habe den Moment der Unsicherheit genutzt und
Orbán zum Rücktritt aufgefordert.
Die Behauptung, das Ausland versuche Ungarn zu destabilisieren, wird mit
großen Nachdruck in einem Buch verbreitet, das im Sommer 2012 erschien und
wochenlang mit großen Plakaten beworben wurde.[10]Der Titel „Wer greift
Ungarn an und warum?“ spricht für sich – ebenso das Bild auf dem Umschlag:
Jagdflugzeuge über dem Karpatenbecken, Urheimat und Zuflucht des
Magyarenvolks. Die Autoren erklären, der Angriff auf die Stabilität sei von
Diplomaten, von ungarischen und US-amerikanischen Politikern, von
Intellektuellen der liberalen Linken und vom IWF organisiert worden.
Da die ungarische Linke nicht in der Lage ist, die konservative Revolution
aufzuhalten, die der Fidesz im Eiltempo durchzieht, hat sie sich mehrfach
an Brüssel gewandt. Für die Regierung war dies ein Verrat, den sie auch
dadurch bewiesen sah, dass linke Ungarn sich kritisch in der ausländischen
Presse äußerten. Auch in Ungarn gibt sich die Rechte als Hort des
Nationalismus und Patriotismus, während die Linke als kosmopolitisch gilt.
Dabei versucht die Linke, „nicht allzu internationalistisch rüberzukommen“,
meint der Soziologe Sik, „aber das gelingt ihr nicht“.
Für viele hat der ausländische Feind das Gesicht von George Soros. Der New
Yorker Milliardär und Philanthrop ungarisch-jüdischer Abstammung ist
bevorzugte Zielscheibe für die regierungstreue und erst recht für die
rechtsextreme Presse. Seit 1989 hatte der Apostel der „offenen
Gesellschaft“[10]die Entwicklung demokratischer Bewegungen unterstützt, zu
denen auch der Fidesz (Bund Junger Demokraten) gehörte, der Vorläufer der
heutigen Regierungspartei. Drei führende Fidesz-Leute, Orbán selbst,
Parlamentspräsident László Kövér und Verfassungsrichter István Stumpf,
bezogen einst Stipendien von der Soros-Stiftung.
Heute fördert das Netzwerk Open Society Foundations in Ungarn zahlreiche
linke oder liberale NGOs, die Orbáns Gegner unterstützen. Und der Thinktank
Center for American Progress, dem Soros nahesteht, finanziert die Stiftung
Haza és Haladás (Vaterland und Fortschritt), die Basis des
Anti-Orbán-Kandidaten Gordon Bajnai. Die regierungsnahe Wochenzeitung Héti
Valasz behauptet, 2012 seien 1,7 Millionen Euro an die Opposition
geflossen.
Ausländische Kritik am Ministerpräsidenten war für dessen Anhänger im
Inland stets ein gefundenes Fressen. Dabei hat die internationale Presse
Orbáns Politik zu oft pauschal verurteilt, ohne danach zu fragen, warum die
Ungarn ihn gewählt haben. Sie stimmten gegen „Inkompetenz, interne
Zwistigkeiten und die Korruption der früheren Regierungen“ – so fasst es
der österreichische Journalist ungarischer Abstammung Paul Lendvai
zusammen, und der ist der heutigen Regierung wahrlich nicht wohlgesinnt.
Das in Westeuropa verbreitete Bild Ungarns – als ein Land hinter den
Bergen, mit Hang zu orientalischem Despotismus und zur Barbarei – hat die
historischen Komplexe, die Neigung zu Paranoia und Isolationismus noch
verstärkt.
Das fragile Parteibündnis von Sozialisten und Liberalen unter Führung der
ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und Gordon Bajnai kann
deren früheren Fehler nicht vergessen machen. Die kleine Ökologische Partei
(7,5 Prozent bei den Wahlen 2010) lehnt jede Allianz ab und setzt mit ihrem
Kampf gegen die Korruption ihr parlamentarisches Überleben aufs Spiel. Am
anderen Ende des Spektrums steht die rechtsextreme Jobbik-Partei (16,7
Prozent). Seitdem sie es 2010 ins Parlament schaffte, hat die
nationalistische Rhetorik des Fidesz der Jobbik allerdings den Wind aus den
Segeln genommen.
Das Misstrauen gegenüber dem Westen hat sich noch verstärkt, als westliche
Medien Ende 2012 den früheren technokratischen Ministerpräsidenten Bajnai
als Herausforderer Orbáns begrüßten. Die spektakulären makroökonomischen
Resultate, die der frühere Geschäftsmann während seiner kurzen Amtszeit von
April 2009 bis Mai 2010 erzielte, sind in Brüssel und Washington noch in
bester Erinnerung: Bajnai senkte das Haushaltsdefizit, das 2006 noch 9
Prozent des BIPs betragen hatte, bis 2010 auf 4 Prozent.
Diese „Erfolge“ beruhten allerdings auf einer rigorosen Sparpolitik, wie
sie Ungarn seit 1995 nicht mehr erlebt hatte: Kürzung der Sozialausgaben,
Abschaffung des 13. Monatsgehalts für Rentner und Angestellte, Einfrieren
der Gehälter im öffentlichen Dienst, Erhöhung des Renteneintrittsalters von
62 auf 65 Jahre und Erhöhung der Mehrwertsteuer von 20 auf 25 Prozent.
Wobei anzumerken ist, dass die Mehrwertsteuer unter Orbán mittlerweile auf
27 Prozent gestiegen ist – ein europäischer Rekord.
Im Ausland erfuhr das Krisenmanagement Bajnais viel Lob. In Ungarn hielt
sich die Begeisterung indes sehr in Grenzen. Damit war für Orbán der Weg zu
Macht geebnet. Vier Jahre später sieht es so aus, als hätten die Ungarn nur
noch die Wahl zwischen einer technokratischen Regierung, die sich den
Interessen der internationalen Konzerne unterordnet, und dem Rückzug in den
Nationalismus.
10 Apr 2014
## AUTOREN
Corentin Léotard
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