# taz.de -- Klänge fühlen: „Eine tiefe Verbindung zur Musik“ | |
> Ohne Hörgeräte ist Mischa Gohlke fast taub. Gerade deswegen ist er | |
> Musiker geworden. Seine Erfahrungen gibt er in Workshops weiter. | |
Bild: Für Mischa Gohlke sind beim Umgang mit Musik auch metaphysische Prozesse… | |
taz: Herr Gohlke, Sie nennen Ihre Besonderheit „Höreigenschaft“. Wie kamen | |
Sie mit Ihrer „Höreigenschaft“ auf die Idee, Musik machen zu wollen? | |
Mischa Gohlke: Mit 16 habe ich den Bluesrockgitarristen Stevie Ray Vaughan | |
gehört, spürte sofort eine tiefe Verbindung zu seiner Musik und musste | |
einfach anfangen Gitarre zu spielen. Musik hat in mir einfach Leidenschaft, | |
Begeisterung und Liebe geweckt. Das Gitarrespielen ist mir auf | |
verschiedensten Ebenen schwergefallen – bezüglich Hören, Motorik, Rhythmus | |
und Technik. Ich fand es damals einfach spannend, gerade das zu tun, was | |
ich scheinbar am wenigsten kann. Grenzen zu spüren, mit ihnen im Prozess zu | |
sein und daran zu wachsen. | |
Wie nehmen Sie Musik denn wahr? | |
Generell ist die Hörwahrnehmung nicht statisch, sondern stets im Wandel. | |
Ohne Hörgeräte bin ich fast taub. Mit Hörgeräten höre ich ca. 50/60 Prozent | |
von der Grundlautstärke, wobei Hören nicht gleich differenziertes Verstehen | |
ist. Gerade im Mitten- und Hochtonbereich fehlen bei mir auch mit | |
Hörgeräten viele Frequenzbereiche und normalerweise nehme ich Musik und | |
Sprache als Klangbrei wahr. Somit werden andere Kommunikationsebenen wie | |
Lippenlesen, nonverbale Kommunikation, in Szenarien denken, Kombinieren und | |
manchmal auch Telepathie gefördert. | |
Sie sind Initiator von „Grenzen sind relativ e. V.“ Wie ist die Idee für | |
diese Plattform entstanden? | |
Nach vielen Jahren durcharbeiten habe ich mich im Sommer 2011 ein wenig | |
zurückgezogen, mein Leben reflektiert und mir die Frage gestellt, wie ich | |
die verschiedensten Facetten des Seins und des Tuns für mich persönlich | |
stimmig inkludieren kann. Dazu wollte ich mich gesellschaftspolitisch | |
positionieren und einbringen. Diese Prozesse habe ich schriftlich | |
manifestiert und so ist mehr und mehr das strategische Konzept von „Grenzen | |
sind relativ e. V.“ entstanden. Wir engagieren uns für eine grundlegende | |
gesamtgesellschaftliche Weiterentwicklung. | |
Und was machen Sie dafür? | |
Konkret machen wir unter anderem spartenübergreifende Festivals und | |
Veranstaltungen, Aktionstage für Inklusion in Schulen und Universitäten, | |
Netzwerkarbeit, Musikunterricht für Hörgeschädigte, Workshops, Bandcamps | |
sowie diverse Kooperationsprojekte. | |
Wie funktioniert Ihr Projekt Musikunterricht für schwerhörige und gehörlose | |
Menschen? | |
Seit sieben Jahren biete ich, unter anderem in Kooperation mit der Rock & | |
Pop Schule Kiel, Gitarrenunterricht und Bandtraining für Hörgeschädigte und | |
hörende Menschen an. Zusammenfassend kann ich sagen, dass Musikunterricht | |
für Hörgeschädigte zwar auf einer Ebene paradox und spektakulär klingt, es | |
aber letztlich ganz normaler Musikunterricht ist. | |
Und was unterscheidet ihn vom regulärem Musikunterricht? | |
Unsere Wahrnehmungen und Empfindungen sind multisensorisch und wir erleben | |
Musik auf verschiedensten Ebenen zugleich: Auge, Gehör, Emotion, | |
Körpergefühl, Verstand, Intuition, metaphysische Prozesse und vieles mehr. | |
Alles bedingt einander und läuft parallel. Die große Aufgabe ist es also, | |
sich immer wieder aufs Neue der möglichst wertfreien und ergebnisoffenen | |
Vielfalt an Möglichkeiten hinzugeben. | |
Wie kamen Sie auf die Idee zur Kampagne „Anderssein vereint“ und welche | |
Hoffnungen setzen Sie in diesen Song? | |
Bei dem aufwendig produzierten Musikvideo „Anderssein vereint – | |
Inklusionssong für Deutschland“ singen, rappen, tanzen, grooven und | |
gebärden über 80 Protagonisten für die ganzheitlich gelebte Inklusion. | |
Warum das Ganze? In der aktuellen öffentlichen Debatte wird Inklusion | |
überwiegend auf die Integration von Menschen mit formal anerkannter | |
Behinderung runtergebrochen. | |
Ist das falsch? | |
Inklusion kann, soll und muss wesentlich mehr sein. Inklusion ist keine | |
Spezialkonvention, sondern die Konkretisierung der universellen | |
Menschenrechte. Das beinhaltet alle Themen und Prozesse, die unser Leben in | |
einer komplexen, heterogenen Gesellschaft ausmachen. Darüber hinaus: Sind | |
wir nicht alle behindert? Egal, ob körperlich, mental, sozial, emotional, | |
finanziell oder/und strukturell? Viele Barrieren finden in den Köpfen | |
statt. | |
2 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Sandra Hertzke | |
## TAGS | |
Musik | |
Inklusion | |
Popmusik | |
Pop | |
Daniel Barenboim | |
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