# taz.de -- Holocaustüberlebende Margot Friedländer: „Seid Menschen“ | |
> Das wurde auch höchste Zeit: Die Freie Universtität Berlin verleiht der | |
> 100-jährigen Margot Friedländer die Ehrendoktorwürde. | |
Bild: Unermüdlich als Zeitzeugin unterwegs: die 100-jährige Margot Friedländ… | |
BERLIN taz | Margot Friedländer steht auf der Bühne des Hörsaals und schaut | |
mit ihrem stets aufmerksamen, leicht verschmitztem Blick in die vielen | |
Reihen vor ihr. Dort spenden die Zuhörer*innen zum wohl fünften Mal | |
stehende Ovationen, schließlich ist Friedländer seit wenigen Augenblicken | |
Frau Doktor Friedländer. Und das mit 100 Jahren. „Tief bewegt“ sei sie üb… | |
die „unglaubliche Ehre“, sagt Friedländer und packt dann ihre Botschaft, | |
die [1][sie seit 13 Jahren vor allem in Schulklassen vermittelt], in wenige | |
Worte: „Für Euch, für die Demokratie: Seid Menschen!“ | |
Die Ehrendoktorwürde der Freien Universität (FU) Berlin, die ihr an diesem | |
Mittwochabend im Henry-Ford-Bau in Dahlem verliehen wird, ist freilich nur | |
der Rahmen, um wieder einmal einen großen Auftritt von ihr erleben zu | |
können. Es stimmt ja, was Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zum Ende | |
ihrer Laudatio sagt: „Es ist nicht die Uni, die Margot Friedländer ehrt; | |
vielmehr ist es Margot Friedländer, die die Uni ehrt.“ | |
Gänsehaut hätten sie bisweilen gehabt, sagen einige Zuhörer*innen über | |
die Zeremonie. Denn in Friedländers Lebensgeschichte – und damit in der | |
zierlichen Person auf der Bühne – spiegeln sich die Verwerfungen und Folgen | |
des düstersten Kapitels der jüngeren deutschen Geschichte wider, genauso | |
wie die Spuren, die die Nazi-Zeit in Berlin hinterlassen hat. | |
Friedländer wird 1921 in Berlin geboren. Der jüdischen Familie gelingt die | |
Flucht aus Deutschland nicht; 1943 wird ihr jüngerer Bruder von der Gestapo | |
abgeholt, die Mutter stellt sich daraufhin und gibt ihrer Tochter den Satz | |
mit: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Es ist der Titel von Margot | |
Friedländer erst 2008 erschienen Buch – und das häufigste Zitat in den | |
Reden an diesem Abend an der FU. | |
## Im Untergrund | |
Friedländer taucht daraufhin unter, lebt 15 Monate als sogenanntes U-Boot | |
illegal in Berlin, bis sie 1944 doch geschnappt und nach Theresienstadt | |
deportiert wird. Doch sie überlebt die Nazizeit, anders als ihre Familie, | |
die in Auschwitz ermordet wird. Nach dem Krieg heiratet sie und zieht nach | |
New York. Ihre Geschichte wird Vergangenheit. | |
Doch ihre Erinnerungen holen sie ein nach dem Tod ihres Mannes, 2003 kommt | |
sie, schon über 80, erstmals für einen Kurztrip nach Berlin. Sie schreibt | |
ihre Geschichte auf Deutsch auf und zieht 2010 endgültig in ihre | |
Geburtsstadt zurück. Seitdem arbeitet Friedländer unermüdlich als | |
Zeitzeugin, „ihre Mission“, wie sie die Arbeit an diesem Abend nennt. | |
Inzwischen ist sie eine der letzten Holocaustüberlebenden; mit ihrer Arbeit | |
will sie junge Menschen zu „Zweitzeugen“ machen, die die Erinnerung an den | |
Holocaust durch ihre Erzählungen wach halten. | |
Friedländer hat für ihre eindrückliche Arbeit viele Auszeichnungen | |
bekommen, [2][sie ist Ehrenbürgerin Berlins] und Trägerin des | |
Bundesverdienstkreuzes. Aber eine Ehrendoktorwürde hatte sie bisher nicht. | |
Die Anregung sei aus der Bevölkerung gekommen, berichtet der FU-Historiker | |
Paul Nolte am Rande der Veranstaltung, und sei dann sowohl an die Leitung | |
der FU wie der Humboldt-Universität herangetragen worden. | |
Die FU setze schließlich eine Promotionskommission ein, die in der | |
Rekordzeit von vier Monaten zwei Gutachten erarbeitete, ob die Doktorwürde | |
des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften auch wirklich | |
angemessen sei. Und auch der Text der Urkunde muss am Mittwochabend in | |
vollem Umfang vorgetragen werden – sonst wäre die Verleihung nicht korrekt. | |
Ein bisschen förmlich verläuft der Abend daher, mit mehr Reden als nötig. | |
Und als Friedländer in einem kleinem, recht steifen Podiumsgespräch mit | |
Historiker Nolte auf einige Fragen antworten darf, wirkt sie tatsächlich | |
intellektuell unterfordert. Ob sie erschöpft sei, vielleicht inzwischen | |
genug habe von ihrer Arbeit als Zeitzeugin, will Nolte etwa wissen. | |
Überhaupt nicht, erwidert Frau Doktor Friedländer. „So lange es geht, | |
geht's!“ | |
Hoffentlich geht es noch lange. Das ist nicht nur ihr zu wünschen, sondern | |
auch all jenen, die sie noch nie live erlebt haben. | |
26 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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