# taz.de -- Neues Album von The Magnetic Fields: Lebenszwischenfazit in Songs | |
> Stephin Merritt hat seine Band wieder aktiviert. Er spendiert der Welt | |
> mit „50 Song Memoir“ ein fabelhaftes Konzeptalbum. | |
Bild: Cooler Kauz: Stephin Merritt | |
Gegen Ende dieses Albums, bei Lied Nummer 49 angekommen, stellt Stephin | |
Merritt fest, dass er doch lieber ein Maler geworden wäre, mit Kohlenstift | |
und Zeichenblock. Oder aber ein grotesker Dichter, wortgewandt und | |
stilsicher. Besser noch: ein Schauspieler! Denn dann hätte er sich selbst | |
spielen können. | |
Er aber, das erste und einzige dauerhafte Mitglied der Magnetic Fields, sei | |
ja nur ein gewöhnlicher Liedermacher, wie er in „I wish I had pictures“ | |
singt: „But I’m just a singer, it’s only a song / The things I remember a… | |
probably wrong“. | |
Wenn man bis zu diesem Punkt von „50 Song Memoir“, dem neuen Album der von | |
Merritt betriebenen New Yorker Popband vorgedrungen ist, kann man das nur | |
als schlecht getarntes Understatement abtun. Denn Mr Merritt hat seine | |
musikalische Biografie vorgelegt, die mit jedem Mal Hören ein bisschen | |
größer wird. | |
50 Songs für 50 Lebensjahre lautet die simple Rezeptur; die Idee kam dabei | |
gar nicht von dem Mann mit der unvergleichlich sonoren Bassstimme selbst, | |
sondern vom Boss seiner Plattenfirma Nonesuch Records, Robert Hurwitz. | |
Kurz, bevor Merritt die fünf Dekaden voll hatte, schlug Hurwitz ihm vor, | |
doch ein kleines Lebenszwischenfazit in Songs zu schreiben. Heute – gut | |
zwei Jahre nach dem runden Geburtstag – darf die Welt mit ihm auf die Jahre | |
1966 bis 2015 zurückblicken. Die Lieder sind nach den Jahreszahlen | |
durchnummeriert. | |
Und klar, denkt man sich, wer sollte so etwas draufhaben, wenn nicht Mr | |
Merritt? Denn mit The Magnetic Fields – deren Komponist, Vorsteher, | |
Mastermind er seit 1989 ist – hat er bereits für das epochale Mammutwerk | |
„69 Love Songs“ (1999) verantwortlich gezeichnet. | |
Außerdem ist der kleine, rundliche Musiker, der manchmal wie einem – guten | |
– Comic entsprungen scheint, wohl ein absoluter Workaholic. Anders ist | |
nicht zu erklären, dass er mit The 6ths, The Gothic Archies und den Future | |
Bible Heroes noch weitere Bands hat und nebenbei Kollaborationswerke, | |
Musical- und Filmkompositionen veröffentlicht. „50 Song Memoir“ ist nun | |
eines der ganz großen Werke des noch jungen Jahrgangs 2017. | |
## Stichworthäppchen im Sekundentakt | |
Merritt verwebt darin persönliche und Popgeschichte miteinander. Da ist die | |
Story dieses liebenswerten Außenseiters auf der einen, da ist die Blütezeit | |
der Popkultur auf der anderen Seite. Merritt erzählt diese Geschichten | |
parallel und wirft einem fast im Sekundentakt die Stichworthäppchen zu, | |
die man nur aufzuschnappen braucht, damit sich größere Referenzräume | |
öffnen: Judy Garland, Jefferson Airplane, Vietnam. Summer of ’69 und Hustle | |
’76. Neu! und Can. New Romantics und Tetris. Ganz viel Disco, ganz viel | |
Dancing. | |
Dies bleiben aber eben nicht bloß Worthülsen, die Popgeschichte | |
nacherzählen würden, sondern sie sind der Kosmos, innerhalb dessen sich der | |
Ich-Erzähler bewegt, das Gerüst, in dem er herumturnt. Dieser Ich-Erzähler | |
wird qua Hippiemutter in die 60er Counterculture hineingeboren, nicht | |
umsonst ist in der allerersten Zeile von „barefoot beatniks“ die Rede. | |
Er selbst offenbart sich als ein Kauz, nicht gerade gesegnet von den | |
Göttern: Ihm machen „Weird Diseases“ wie eine Gehörkrankheit (die | |
Schallüberempfindlichkeit Hyperakusis) sowie Fatigue- und Epilepsieanfälle | |
zu schaffen. Auch Asperger-Symptome erkennt er in Selbstdiagnose. Ende der | |
Neunziger – Disco Fever, Teenagerfrust und nicht bestandene Prüfungen | |
liegen hinter ihm – ist er niedergeschlagen, erfolglos, pleite. | |
Aber es geht weiter. Er schlägt sich durch. Die Liebe kommt (und geht) | |
wieder, der Sex kommt (und geht schneller) wieder. Die Popsongs und die | |
Filme aber, die bleiben, die rühren ihn ohnehin immer. Er ist übrigens | |
schwul, dieser Ich-Erzähler, und genauso nebensächlich kommt das bei | |
Merritt auch meist rüber – im Song „Judy Garland“ werden Sujets der Queer | |
Culture kurz abgefrühstückt. | |
All diese Leiden des nicht mehr ganz so jungen Mr Merritt, der bevorzugt | |
eine Schlägermütze trägt und sich in verschiedenen Brauntönen kleidet, sind | |
eigentlich kaum überzeichnet – denn so ist er, Stephin Merritt (der | |
übrigens eigentlich Stephen Raymond Merritt heißt). | |
Aber „50 Song Memoir“ zeigt eben auch, wie einen die Kunst und ein | |
wunderbarer, trockener Humor durchs Leben bringen kann. Es sind lustige | |
Geschichten, die einem hier erzählt werden: Man begegnet einer Katze namens | |
Dionysos, Antirockstar Merritt persifliert in „Rock ’n’ Roll will ruin yo… | |
life“ sich selbst und das Rock-Biz gleich mit, und auch mit seinem | |
Synthesizer-Nerdtum geht er selbstironisch um. | |
Dabei ist „50 Song Memoir“ musikalisch – wenn man es weit auslegt – ein | |
Songwriter-Album. Nur klingen die Stücke oft reicher, voller, rhythmischer | |
als konventionelle Songwriter-Arbeiten. Das liegt auch an den vielen | |
Instrumenten, die Merritt benutzt hat – Lauten und Gitarren, Glockenspiel, | |
Tamburin, Glocken, Becken und natürlich unzählige Synthesizer sind | |
darunter. | |
## Fragen an die eigene Popbiografie | |
Eineinhalb Jahre hat Merritt aufgenommen und getüftelt. Klanglich | |
orientieren sich die Lieder nur selten an dem angesagten Sound der | |
jeweiligen Jahre – der 2010er Song klingt hier etwa ganz schön | |
Beach-Boys-infiziert („20,000 Leagues Under the Sea“). Das 1981 | |
angesiedelte New-Wave-Stück „How to Play the Synthesizer“ wäre da eher die | |
Ausnahme. | |
Die Geschichte, die er auf diesem – mit einem tollen, fetten Booklet | |
ausgestatteten – Album erzählt, wirkt dagegen vom ersten bis zum letzten | |
Vers stringent: beginnend mit „I wonder where I’m from“ und endend mit den | |
Zeilen „Here at the end, I’ve written a song . . . for you“. Wenn es so | |
etwas wie erkenntnisgeleitete Fragen an die eigene Popbiografie gibt, so | |
kommen sie hier alle vor: Wo komme ich her? Wo will ich hin und was will | |
ich sein (oder, zunächst, wo will ich nicht hin und was will ich nicht | |
sein)? Wie und wen liebe ich? Wie finde ich zu meiner Sexualität? | |
Stephin Merritt beantwortet all diese Fragen für sich mit Witz und Lakonie. | |
Und mit Meisterschaft. | |
12 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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