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# taz.de -- Unveröffentlichte Songs von Lou Reed: Demotape aus den Flegeljahren
> Das Album „Words & Music, May 1965“ enthält Songs von Lou Reed, aus der
> Phase vor Gründung von Velvet Underground. Taugen sie was?
Bild: The Primitives u.a.: Tony Conrad, Lou Reed, Walter De Maria und John Cale
Eines hat sich Lou Reed zum Glück abgewöhnt: das Mundharmonikasolo vor der
jeweils letzten Strophe. Diesen Manierismus des (vor allem) frühen Dylan
scheint er in seinen Pre-Velvet-Tagen noch fest im Programm gehabt zu
haben. „Words & Music, May 1965“ ist ein Fund aus seinem Nachlass,
aufgenommen sechs Monate vor dem ersten Velvet-Underground-Auftritt, sieben
Monate vor der Begegnung mit Andy Warhol.
In jenem Mai hat er Songs, die er damals für fertig hielt, mit seinem
Freund John Cale als Begleiter und zweite Stimme auf Band aufgenommen und
sich anschließend das Tape selbst per Post zugeschickt – das ließ er dann
ungeöffnet. Wäre es mal zu Streitigkeiten gekommen, hätte er qua
Poststempel beweisen können, schon im Mai 1965 „I am Waiting for the Man“
aufgenommen zu haben.
Dabei sind gut die Hälfte der Songs dieser Session nie auch nur in die Nähe
eines solchen Disputs geraten – anders als andere aus dem Katalog von
Velvet Underground, bei denen die Anteile von John Cale und Sterling
Morrison immer mal wieder zu Unrecht runtergestuft oder getilgt worden
waren – [1][Reed] hat sie nie wieder verwendet. „I am Waiting for the Man“
und „Heroin“ sind die einzigen, die es auf ein (das erste)
Velvet-Underground-Album geschafft haben, auch wenn sie in ihrer
lagerfeurig-präpotenten Aufgeregtheit noch wenig von der Coolness
abstrahlen, für die sie später berühmt werden sollten.
Dass „Pale Blue Eyes“ in einer, bis auf den Refrain mit der später auf dem
dritten Album veröffentlichten Fassung unidentischen Version immerhin als
Projekt schon rumorte, verursacht zumindest eine Augenbrauenbewegung bei
Velvet-Philologen. Die rührende, nahezu feministische Ballade „Men of Good
Fortune“ hat hingegen mit dem gleichnamigen Track auf „Berlin“ gar nichts
zu tun.
## „Pale Blue Eyes“ rumorte schon
Der „Buttercup Song“ wär noch zu erwähnen: eine gewitztes, erwachsenes
Kinderlied, das vor emotionalen Beziehungen mit Männern, Frauen, Tieren und
Dingen warnt – der Rest musste sich noch nie vor irgendwelchen
Copyrightdieben in Sicherheit bringen. Fragt sich, was gestandene
Velvetologen und die durch Todd Haynes’ famose Doku vom letzten Jahr neu
hinzu rekrutierten Fans aus diesem Tape lernen können.
Wie und wann kam es zu dem Schritt vom um Understatement allenfalls
bemühten, durchweg eher aufgekratzten und viel zu frischen
Greenwich-Folk-Style zu jener grandios zelebrierten Passivität, zu
tausendjähriger Müdigkeit, Lob des Masochismus, zum Aufstieg von Noise und
Rhythmusgitarre und antikalifornisch-nihilistischer
Ungesundheitsperformance?
## Angewidert näselnd
Im Mai 65 gibt es davon gerade mal exakt zwei, eher winzige Spuren: Zum
einen ist es der Ton der Ansage, die Lou Reed vor jeder Aufnahme macht. Er
spricht den Titel und sagt dann „Words and music by Lou Reed“, dabei
prononciert er so näselnd, arrogant und angewidert, dass man sein späteres,
öffentliches Ego schon ahnen kann. Oder er überspielt die Peinlichkeit der
Inbesitznahme dieser Lieder in Anwesenheit des seit einem halben Jahr
besten Freundes John Cale, mit dem er seit Kurzem auch als Nachfolger Tony
Conrads in einer WG lebt.
Die andere Spur sind die beiden trotz wacker klampfender Begleitung
inhaltlich aus dem rotwangigen Folk-Abend herausfallenden Heroin-Lieder,
„Waiting for the Man“ und „Heroin“. Den Entschluss, diese, bereits ein
Primat des Wartens, Geschehen-Lassens, Sich-Hingebens, das Genießen von
Machtlosigkeit und Überwältigung feiernden Songs zu schreiben, weist auf
die neue Bandidee hin, für die Cale und Reed im Mai 1965 nur noch keine
passende Soundidee hatten.
Was aber all die Rezensent:Innen und Pressestatements, die sich über
die seinerzeitige Folk- und Dylan-Nähe Reeds wundern, vergessen zu haben
scheinen: Zwei Monate später wird schon wieder eine Session in der Ludlow
Street aufgezeichnet, diesmal ist noch Sterling Morrison dabei.
## Die Sacher-Masoch-Paraphrase
Doch was da im Juli 65 entstand, ist seit fast 30 Jahren bekannt; die
zahllosen Takes von wieder „Waiting“, „Heroin“, nun aber auch schon die
Sacher-Masoch-Paraphrase „Venus in Furs“ (gesungen von Cale), „All
Tomorrows Parties“ und einem weiteren Protestsongnachzügler namens
„Prominent Men“ erschienen als erste der fünf CDs der „philologischen“
Velvet-Gesamtausgabe-Box „Peel Slowly and See“.
Ich hatte vor knapp 27 Jahren die Ehre, diese Box für die taz unter dem
Titel „Banane mit Fußnote“ zu rezensieren und schrieb schon damals über d…
ganz frühen Aufnahmen, sie klängen „folkig-klimprig“ und wie „Simon &
Garfunkel mit einem dekadenten Stich“. Dabei verhalten sich die Juli-Songs
zu den jetzt aufgetauchten zwei Monate älteren Takes schon wie Oscar Wilde
zum Fähnlein Fieselschweif.
Ein Beispiel für das Entwicklungstempo und die produktive Intensität
zwischen Reed, Cale und Morrison ist das dritte Lied, das auf beiden
Session-Tapes dokumentiert ist: „Wrap Your Troubles in Dreams“ – John Cale
singt es, das heißt er rezitiert es im Mai relativ hilflos zum
italowesternhaft „bedrohlichen“ Klopfen auf dem Gitarrenkorpus in Zeitlupe:
eine achtminütige Quälerei.
## Schöngeistig, etwas dekadent
Zwei Monate später hat Cale dann eine Idee, wie man den Song singen kann,
theatralisch, schöngeistig und etwas dekadent. Zwei weitere Jahre später
kriegt Nico das Lied für ihr Debütsoloalbum, wo es richtig strahlen kann,
umschmeichelt von einem plüschig-luftfeuchten Streich- und
Flötenarrangement von Larry Fallon. Cale singt dann auch mit viel Ausdruck
in der Juli-Session „Venus in Furs“ in mehreren Takes – vielleicht zu
alteuropäisch für Lous Geschmack.
Für das erste Velvet-Werk holt der sich den Song zwar zurück, doch Cale
übersetzt nun so nachdrücklich wie in keinem anderen Arrangement seine
Minimal-Drone-Viola in den neuen Kontext. Sterling Morrison erklärt, dass
man mit „Venus in Furs“ den paradigmatischen Velvet-Sound, die perfekte
Mischung gefunden hat, die Formel, die im Mai noch fehlte – von da aus
konnte man auch ganz andere Sachen machen.
In musikalischen Begriffen ist dieser Schritt nur schwer in seiner
Tragweite zu beschreiben. Die Akkordwechsel bleiben die gleichen oder von
der gleichen Sorte. Man hätte das immer noch alles so auch im Village
vortragen können. Eigentlich lässt die kleine Männertruppe also nur das
Dylanisieren sein und das Klampfen hinter sich, weiß aber nicht gleich, was
stattdessen hilft.
## Velvet Underground: Mehr als zwei Mentalitäten
Brandon Joseph hat in seiner Tony-Conrad-Biografie plausibel argumentiert,
dass man Velvet Underground nicht einfach nur linear als die Addition
zweier Mentalitäten, des walisisch-US-Avantgarde/Minimal-Komponisten John
Cale und des trocken scharfen, sarkastisch straßenrealistischen
New-York-Literaten Lou Reed beschreiben kann.
Als vor den Lagerfeuersessions Reed noch im Jahre 64 als Haussongwriter für
Pickwick Records trashige Party-Rock-Singles schreiben und teils auch
einspielen musste, wurde für einen dieser Songs eine Band gesucht, die den
Novelty-Aggro-Dance-Craze-Song „The Ostrich“ live repräsentieren musste:
Für The Primitives wurden dann die drei Freunde Tony Conrad, der später
weltberühmte Land-Art-Künstler Walter De Maria und John Cale, den Reed
dabei kennenlernte, rekrutiert, weil sie auf einer Party die einzigen
Langhaarigen waren.
Sie hatten alle wenig Investments in diese Band: Cale und Conrad machten
noch hauptberuflich siebenstündige Drone-Sessions mit La Monte Young, De
Maria war eher amüsiert. Der Job war ja auch eher lässig – ultrasimple
Party-Songs, die man nicht kannte und nicht übte, auf Schulfesten und
Mall-Eröffnungen zum Besten zu geben.
## Wie der Name schon sagt
Doch eines entwickelten The Primitives: Die Band nahm ihren Namen ernst,
die alle auf eine Note gestimmten Gitarren erinnerten sie an La Montes
Minimalismus und sie ließen ihre Gigs immer häufiger in wilde Schrei- und
Hampelorgien auslaufen – man hört das auch auf der überlieferten Aufnahme
von „The Ostrich“ oder auf einer leider unveröffentlichten Übungssession,
die [2][Walter De Maria] mitgeschnitten hat. An der Westküste nannte man
das zwei Jahre später „Freak Out“.
Joseph argumentiert, dass hier ein anderer Wohngenosse der legendären
Ludlow-Street-Kommune einflussreich war: [3][Jack Smith], dessen queerer
Underground-Klassiker „Flaming Creatures“ mit seinem wilden Gequieke und
Gekreische als Orgiensoundtrack im selben Jahr (1964) rauskam – und
unmittelbar unter Conrads und Cales Augen entstand.
Meine These wäre: So wie unverhofft am lustvollen unteren Ende des
Rock-’n’-Roll-Biz angekommen zu sein, den Vieren eine Art wahren Kern der
Stumpfheit offenbart hat, eine komabesoffene Transzendenz, eine queere
Essenz des Trash-Party-Rock, so ist Reed und Cale auf ähnliche Weise die
Chance zu einer anderen Wahrheit im zur maskulinistischen
Selbstgerechtigkeit tendierenden Protest-Folk klar geworden: Den
narzisstischen Kern des politischen Rechthabens isolieren und als näselnde,
[4][passive Pose] freilegen, der die großen Einsichten der Poesie einfach
widerfahren, die sie nicht blöde wollen und aktiv hervorbringen muss.
Es mag geholfen haben, dass Dylan damals genau denselben Prozess
durchmachte: vom Protestsänger zu der Figur, der etwas Poetisches
widerfährt, die nicht will, sondern geschehen lässt. Auf der CD-Fassung von
„Words & Music, May 1965“ gibt es noch ein- bis zweiminütige
Bonus-Schnipsel bis zurück ins Jahr 58, darunter auch zwei Dylan-Fragmente,
eine Instrumentalversion von „Baby, Let Me Follow You Down“ und eine
Strophe von „Don’t Think Twice (It’s Alright)“. Der Schritt von
Mundharmonika zu verspiegelter Sonnenbrille war an der Zeit.
26 Aug 2022
## LINKS
[1] /Fuck-Andy-Fuck-Nico-Fuck-Cale/!5056175
[2] https://kicktokill.blogspot.com/2009/01/walter-de-maria-drums-and-nature-se…
[3] /Underground-Film/!5078616
[4] /Lou-Reed-Konzert-in-Berlin/!5090879
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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