# taz.de -- Album von Tony Conrad & Jennifer Walshe: Die Abgründe des harschen… | |
> Tony Conrad nahm 2015/16 mit der Komponistin Jennifer Walshe ein Duoalbum | |
> mit Drones und Gesang auf. Jetzt ist es erschienen. | |
Bild: So sah es aus, wenn Tony Conrad und Jennifer Walshe zusammen spielten | |
Geht los wie bei einem illegal aufgemotzten Föhn. Ist aber kein | |
elektrischer, sondern ein akustischer Sturm. Etwas bläst einem derart krass | |
und heftig – ja, nicht ins Gesicht, aber in die seelischen Eingeweide, dass | |
man ein paar Meter zurücktreten muss. Dann erst, wenn sich die Härchen | |
richtig eingestellt haben, genießt man es: Die überengagierte Stimme von | |
Jennifer Walshe, das einmalige, [1][durch Mark und Bein schießende und bis | |
ans Ende der Welt vibrierende Geigenkratzen von Tony Conrad]. Und ganz | |
langsam entfaltet sich ein Text, ja ein Song: „In The Merry Month of May“ �… | |
der Titeltrack dieses Albums braucht für die sieben Wörter, aus denen er | |
besteht, auch ungefähr sieben Minuten. | |
So intensiv geht es hier um jede Silbe, um jedes Phonem. Tony Oursler hat | |
sich bei seinem Video zu diesem Song auch gut ins psychedelische Zeug | |
gelegt. Nicht immer wird die Energie so frontal kanalisiert wie beim | |
Auftaktstück. Bei „He Had Only One Paw“, schrängeln und quengeln Steel- u… | |
akustische Gitarren (eine Alt-Gitarre, sagen die Credits), die mit allen | |
möglichen Hilfsmitteln Saiten verziehen und Slide- und andere Blueseffekte | |
im wild pulsierenden Überfluss produzieren. Bevor auch hier die traurige | |
Pointe zu Tage tritt: Dieser Bär hatte nur eine Pfote. | |
Wahrscheinlich ist dies das erste und einzige Album Songalbum, an dem Tony | |
Conrad je beteiligt war. Es entstand im Laufe der Jahre 15/16 bis kurz vor | |
seinem Tod im April 2016, gemeinsam mit Jennifer Walshe, die einerseits | |
seit Jahrzehnten in den offiziellen Kreisen der Neuen Musik (Darmstadt, | |
Donaueschingen etc.) eine originelle Berühmtheit ist, andererseits mit dem | |
US-Elektronikduo Matmos gearbeitet hat und sich immer für das Außen dieser | |
Welt interessiert. | |
## Musik, die „Pythagoras ins Gesicht schlagen“ wollte | |
Genau [2][wie eben auch Tony Conrad (1940–2016), der, wie in dieser Zeitung | |
schon öfters dargelegt], als erster psychedelischer Filmemacher („Flicker“) | |
Mitstreiter des ganz frühen musikalischen Minimalismus (Theatre of Eternal | |
Music / Dream Syndicate), Geburtshelfer von Velvet Underground, Partner | |
[3][der notorischen Kraut-Avantgardisten Faust], Betreiber von | |
Neighbourhood-TV-Stationen, bildender Künstler und vor allem auch | |
Kunstphilosoph und proto-konzeptualistischer Autor von Word Pieces, der | |
immer außerhalb der Genres und ihrer Infrastrukturen gearbeitet, aber auch | |
immer wieder einige mit subversiver Fantasie genutzt hat. | |
Seit den mittleren 1990ern, als ihn [4][die Chicagoer Szene um David Grubbs | |
und Jim O’Rourke], das Label Table of the Elements und diverse junge | |
Künstler_innen auch als Musiker wieder entdeckten, kam es zu zahlreichen | |
(musikalischen und nicht musikalischen) Zusammenarbeiten mit Leuten wie | |
Genesis P-Orridge, John Miller und Jutta Koether. Meistens waren dies | |
Forschungen und Exerzitien in einer Musik, die nicht nur das westliche | |
temperierte Stimmen von Instrumenten ablehnte, sondern auch die dagegen | |
entwickelte „just intonation“ überwinden wollte – hin zu einer Musik, die | |
„Pythagoras ins Gesicht schlagen“ wollte (wie ein Albumtitel andeutet), zu | |
einer Form von klanglicher Demokratie, die sich jenseits der | |
Mathematisierung von Musik und der Ideologie der Sphärenharmonie abspielen | |
müsse. | |
## Konzeptuelle Musik | |
Doch was in all diesen Projekten nie vorkam, waren Texte und Gesang. Fette, | |
schnurrende, kokette, direkte Expression. Beide, Walshe wie Conrad, haben | |
Bezüge zu einer Musik, die sich konzeptuell oder konzeptualistisch nennen | |
ließe – aber ganz verschiedene. Conrad war involviert, als Henry Flynt | |
lange vor der visuellen Concept Art schon 1963 eine Musik entwarf, die die | |
Mathematisierung des 1950er-Serialismus überbieten würde, aber nicht mehr | |
hörbar wäre – und plädierte im Bereich des Hörbaren für Drones und R&B. | |
Walshe, eine gute Generation jünger, argumentierte in einem Aufsatz für die | |
Zeitschrift MusikTexte (2015) eher für einen „anderen Konzeptualismus“, der | |
das Begriffliche an der Musik in fiktiven Szenarien und Versuchsanordnungen | |
rund um die Musiker und deren klangliche Spuren herum gezielt inszenieren | |
und/oder erweitern solle. | |
Tatsächlich arbeitet Walshe etwa mit fiktiven Archiven irischer | |
Avantgardemusik, betreibt Bands, die aus diversen Alter Egos ihrer selbst | |
bestehen (etwa Grúpat, deren Albumtitel „The Wasistas of Thereswhere“ | |
lautet), die sich dann wiederum für Solo-Projekte absentieren oder auch | |
Kunstausstellungen bestreiten. | |
## Man wird weggeblasen | |
Was bei dieser Kombination aus Fiktionalisierung und forciertem | |
Materialismus des Sounds herausgekommen ist, zeichnet sich zum einen durch | |
eine Wucht aus, die nichts mit den zahlreichen gewaltförmigen oder | |
gewaltigen musikalischen Gattungen und Gewohnheiten unserer Zeit zu tun | |
hat. Man wird weggeblasen – aber es ist keine Verstärkerwand in der Nähe, | |
kein überblasenes Saxophon. Und zum anderen wurde eine Songform erfunden, | |
deren textliche Seite nicht das Gedicht ist, sondern der einzelne Satz oder | |
auch nur eine Interjektion: wie in der von britzelnden „konkreten“ | |
Streichersounds voran getriebenen Panik-Studie „Oh My God“, in der Walshe | |
ihre vokalen Schauspieltalente auf die Spitze treibt. | |
Der Bass aber zerreißt uns in dem, nun ja, Rock-Hit „Well You Would“ und in | |
„Dance Dance“ – eine Bassgitarre kann das jedoch nicht gewesen sein. | |
Womöglich war es das „Long String Instrument“, das in den Credits erwähnt | |
wurde, vielleicht eine Leihgabe von Ellen Fullmann (die ein 21 Meter langes | |
Instrument dieses Namens gebaut hat)? „Day of The Fair“ gemahnt dann | |
turbulent an (irische) Volkstänze zu einem weiteren kaputten Instrument | |
(die Kastenzither?), dessen Saiten abwechselnd als Trampoline und | |
Würgeschlingen auftreten. | |
Tatsächlich fragt man sich während dieses Sturms die ganze Zeit, was einem | |
da einerseits vertraut und andererseits überwältigend unvertraut klanglich | |
um die Ohren fliegt, ähnlich wie bei der Musique concrète instrumental | |
eines Helmut Lachenmann. Dabei wird man stabilisierenderweise aber doch | |
immer sehr deutlich an ein Duo verwiesen und an die dialogischen, | |
antagonistischen, liebevollen Formen, die diese Besetzung so oft | |
hervorbringt. | |
## Nicht Angstlust, sondern Freude | |
Auf dem Cover sehen wir die Torsi der beiden in Rüstungen, verbunden durch | |
Saiten, die zwischen ihnen angebracht worden sind, während sie sich mit | |
Bögen duellieren, was auch im Video zu sehen ist. Zufall, dass der | |
Albumtitel fast das Anagramm „In Memory of A Rhythm“ ergibt? Jedenfalls | |
beruhigend, dass wir erfahren, dass keine Tiere gestorben sind. Bei der | |
Wucht konnte man sich nicht sicher sein. | |
„It’s something that we enjoy being afraid of“, hießt es am Ende des | |
wortreichsten, überwiegend gesprochenen und gestammelten Stücks „Wake Up“. | |
Fast genau das ist es, aber nicht Angstlust, sondern die Freude, dass die | |
anfangs einschüchternden Abgründe des neuen, nicht alltäglichen und doch so | |
naheliegenden harschen Klangs zwar durchaus zur Panik berechtigen, doch | |
sich dann als Auftrieb erweisen: Man kommt nicht nur darüber hinweg, man | |
fliegt. Wie die Haare unter einem starken Föhn. | |
Tony Conrad & Jennifer Walshe: „In the Merry Month of May“ (Blue | |
Chopsticks/Dragcity/Rough Trade) | |
28 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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