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# taz.de -- Neues Album von US-Gitarristin Eisenberg: Schärfer als ein Laser
> Die New Yorker Freejazz-Gitarristin Wendy Eisenberg verarbeitet auf dem
> Album „Viewfinder“ eine Augen-OP – psychedelisch und elegant.
Bild: Ikonoklastin an der Gitarre: Wendy Eisenberg mit Axt
Auch wenn sie inzwischen alltäglich sein mag, eine Augenoperation bleibt
ein hochkomplexer medizinischer Eingriff. Da vergisst man leicht, dass es
bis vor wenigen Jahrzehnten für manche Augenerkrankungen noch gar keine
Behandlungsmöglichkeiten gab oder wenn, dann nur mit lebensgefährlichen
Folgen.
[1][So erging es etwa Johann Sebastian Bach,] als er im April 1750 am
Grauen Star operiert wurde. Die Behandlung schlug katastrophal fehl: Der
Komponist verlor sein Augenlicht und verstarb kurze Zeit später an den
Komplikationen. Nur zwei Jahre später erblindete sein ebenso berühmter
Kollege Georg Friedrich Händel – ebenfalls durch eine fehlerhafte
Augenoperation.
Nun muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass beide
Barockkomponisten wohl vom gleichen Arzt behandelt wurden – dem
mittlerweile als Scharlatan verrufenen Briten John Taylor. Ein Trost:
Heutzutage wird die Augenerkrankung Grauer Star immerhin nicht mehr von
Quacksalbern mit einer Nadel aufgestochen.
Stattdessen kann sogar eine leichte Hornhautkrümmung per Laser operativ
ausgeglichen werden. Solch eine Lasik-OP ist nicht nur Realität gewordene
Science-Fiction – sondern auch eine überaus psychedelische Angelegenheit.
So beschreibt es zumindest die US-Gitarristin Wendy Eisenberg, die 2021
selbst einen solchen Eingriff durchlebte.
## Abstrakt und anschaulich
Eisenberg blieb bei vollem Bewusstsein, während der Excimerlaser das Gewebe
an ihrer Hornhaut abtrug. Die Künstlerin spricht von einem „nicht
wiederholbaren Film“, der sich dabei vor ihrem Auge abspielte: Von
ab-strakten Formen und Farben, vom seltsamen Heiligenschein des Lasers,
eingerahmt durch das grelle Weiß und die Neonlampen im OP-Saal. Eine
komplett unwirkliche und gleichzeitig unmittelbar fühlbare Erfahrung, die
Eisenberg zum Glück nicht erblinden ließ – sondern sie stattdessen zu ihrem
neuen [2][Album] „Viewfinder“ (Lupe) inspirierte.
Das Abstrakte anschaulich klingen zu lassen ist schon lange eine der
Spezialitäten der 33-jährigen Gitarristin. Im Sound ihrer Band Editrix
erweckt die studierte Jazzmusikerin komplizierte Akkordfolgen mit der
manischen Spielfreude von Punk- und Noise-Rock zum Swingen.
Als Teil des Bill Orcutt Quartetts lässt sie komplex auskomponierte
Klangskulpturen leicht und zugänglich wirken. Ihre Soloalben sind ein Mix
aus Songwriting und Improvisation. Manchmal spielt sie minimalistischen
Banjo-Folk, bisweilen elektrischen Impressionismus.
Und nun mit „Viewfinder“ macht sie konzeptuelle Musik über das Verlieren
und Wiedererlangen des Augenlichts, Vorgänge, die sie in ihrem Sound
erlebbar macht. Im Auftakt „Lasik“ schafft sie das explizit und singt: „I
went to get my eyes fixed“, über ein Postrock-Fundament, [3][das hörbar in
der Tradition von Bands wie Tortoise steht.] Trompete und Posaune steuern
seltsame Farbtupfer bei. Und anstatt eines Lasers ist es ein konstanter
Gitarrendrone, der sanft den Klangraum durchschneidet.
Deutlicher noch als andere Eisenberg-Projekte entspricht „Viewfinder“ dem
Idiom „Jazz-Album“. Es ist ein 79 Minuten schwerer „Song-Zyklus für
Improvisierende“. Und keine Sekunde ist verschwendet. Immer und immer
wieder geben sich Eisenberg und ihre fünfköpfige Band ganz der Exploration
hin, verlieren sich in langen Instrumentals, verschwimmen in der
Improvisation – nur um in scharfen Fokus zurückzufinden.
## Schwereloser Vokaljazz
Der zweiteilige Titeltrack beginnt als schwereloser Vokaljazz und
verwandelt sich nahtlos in kantigen Artrock. Das 22-minütige „Afterimage“
startet mit finsterer Loungemusik, driftet für eine formlose Ewigkeit in
den Freejazz ab und endet in komponierter Einheit – in einer sich höher und
höher schraubenden Noise-Spirale.
Alle Bandmitglieder bekommen Raum für Soli. Außer Eisenberg! Die feinen
Klangkaskaden, die aus ihrem Instrument fließen, sind das Bindeglied, das
diese ausdehnenden Stücke zusammenhält. Genau wie mit ihrem Gesang, – eine
unaufdringliche, klare Sopranstimme –, spielt sie sich auch als
Instrumentalistin auf „Viewfinder“ nie unnötig in den Vordergrund.
Bei Wendy Eisenberg geht es nie um musikalisches Mackertum. Sondern immer
um maximale Klarheit, die schärfer schneidet als jeder Laser.
27 Sep 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Marius Magaard
## TAGS
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