# taz.de -- Retrospektive von Krautrockband Faust: The great cosmic Krautmusic | |
> Das Hippierockkollektiv Faust war Anfang der 70er Kult im | |
> angloamerikanischen Raum. Eine Box bündelt nun alle Alben – bisher | |
> Unveröffentlichtes inklusive. | |
Bild: Faust 1973 in London mit Peter Blegvad und Uli Trepte | |
Vielleicht ist Julian Cope an allem schuld: Der exzentrische englische | |
Musiker (und Gründer der Postpunkband Teardrop Explodes) veröffentlichte | |
1995 im Selbstverlag sein Büchlein „Krautrocksampler“. Es war ein | |
idiosynkratischer, so der Untertitel, „Guide to the Great Kosmische Musik“, | |
dessen immenser Enthusiasmus für obskurste westdeutsche Experimentalmusik | |
der Ära 1968 ff. die Falschinformationen und Fehleinschätzungen seiner | |
Fanfibel leicht aufwiegt. | |
Copes Kompendium zeitigte sofortige Wirkung: Veritable Krautrock-Manie | |
brach erst im Vereinigten Königreich, dann in den USA und Japan aus und | |
bald schon waren in vielen Plattenläden über lange Zeit keine Alben mehr | |
von Künstler:innen wie [1][Tangerine Dream], Can, Amon Düül und Neu! | |
mehr erhältlich. | |
Weit jenseits der Bezeichnung Krautrock aber stach für Cope, und keineswegs | |
nur für ihn, eine Gruppe besonders hervor: Faust! Kein Wunder, denn die | |
wilde Hamburger Truppe war durchaus anders als viele jener Bands, die im | |
Gefolge der Studentenrevolte daran gingen, mit den Mittel von Musik ein | |
besseres Deutschland für sich und ihre Generationsgenossen zu erkämpfen. | |
## Produktive Dissonanzen | |
Das lag bei Faust an zwei Gründen: Einerseits war [2][ihr querköpfiger, | |
widerspenstiger Sound] weit entfernt von der Motorik des Düsseldorfer Duos | |
Neu! und den kosmisch-kitschigen Synthie-Klangwelten der Westberliner | |
Tangerine Dream. Stattdessen war Faust-Musik viel deutlicher geprägt von | |
avantgardistischen Cut-up-Methoden: Industrieller Lärm, elektronische | |
Dissonanzen, improvisierte Klangelemente und experimenteller Unfug (wie | |
Tonaufnahmen vom Geschirrabspülen) wurden als Gegenentwurf zur | |
Soundästhetik von angloamerikanischem Rock ’n’ Roll positioniert. | |
Zum anderen waren Faust zunächst das Produkt ihres Managers: [3][der | |
Produzent und geniale Zampano Uwe Nettelbeck]. Ohne sein umsichtiges | |
Management hätte sich die chaotisch agierenden Musiker wohl nie zur | |
künstlerisch zentralen Band des Krautrock zusammenraufen können. Insofern | |
bewahrheitete sich auf verquere Weise, was an aller Anfang stand: 1969 | |
beauftragte das Label Polydor den Journalisten Uwe Nettelbeck, ein | |
bundesdeutsches Gegenstück zu den Beatles zu finden. | |
Aus zwei zuvor bestehenden Hamburger Bands rekrutierte er den Bassisten | |
Jean Hervé Péron, den Gitarristen Rudolf Sosna und den Saxofonisten Gunter | |
Wüsthoff; zu diesem Trio stießen die beiden Drummer Arnulf Meifert und | |
Werner „Zappi“ Diermaier sowie der Keyboarder Hans Joachim Irmler. | |
## Evokativer Bandname | |
Den evokativen Namen Faust kann man wahlweise auf Goethes Inbegriff der | |
Hochkultur und den aggressiven Gestus der revoltierenden Jugend beziehen. | |
Oder auf beides, denn bezeichnenderweise war der 2007 verstorbene | |
Nettelbeck ein schillernder Grenzgänger zwischen Kultur und Politik, | |
Mainstream und Revolte. Er begann Anfang der 1960er Jahre als | |
Radiojournalist, Filmkritiker sowie Gerichtsreporter für die Zeit, verließ | |
das Blatt aber 1969 nach Konflikten mit der Chefredaktion, um zur linken | |
Zeitschrift Konkret zu wechseln. | |
Dort wurde er wiederum nach wenigen Monaten entlassen, aufgrund politischer | |
Differenzen. Dass er nach seinem Aus als Journalist sich auf das damals in | |
Westdeutschland echte Abenteuer Musikmanagement stürzte, darf man als | |
praktische Umsetzung seiner zuvor in Artikeln über Trivialkultur und | |
Popmusik zum Ausdruck gebrachten Ablehnung eines bürgerlichen | |
Kulturbegriffs verstehen. | |
Nettelbecks Kreation Faust darf man als eigensinnigen Irrläufer der | |
westdeutschen Popmusikgeschichte betrachten: Ein veritables | |
Gegenkulturdenkmal, das erst ein halbes Jahrhundert später seine verdiente | |
Würdigung in Form des nun veröffentlichten opulenten Boxsets „Faust | |
1971–1974“ erhält. | |
## Zwergschule in Wümme | |
Sein Kernstück sind die vier regulären Alben, denen Faust ihre Reputation | |
als experimentelle Erneuerer des Rock verdanken. Zunächst also das Debüt | |
„Faust“ (1971) und „So far“ (1972), beide Alben waren im bandeigenen St… | |
entstanden, das sich in einem ehemaligen Schulgebäude im niedersächsischen | |
Wümme befand, das Nettelbeck mit dem üppigen Vorschuss von Polydor gemietet | |
hatte. | |
Das unter den anarchistischen Bedingungen des Kommunelebens entstandene | |
Debüt war ein akustisches Manifest des Dilettantismus; ein so chaotischer | |
wie konzessionsloser Widerspruch zum angloamerikanischen Modell von | |
Rockmusik. Daher geriet das von Polydor erhoffte kommerzielle Äquivalent | |
zum Beatles-Meisterwerk „Sgt. Pepper“ zu einem im Experimentiergeist kaum | |
weniger fulminanten Gegenentwurf: Dada, Fluxus, Beach Boys, Karl-Heinz | |
Stockhausen, [4][Sun Ra], Frank Zappa und [5][Velvet Underground] lieferten | |
Referenzpunkte, an denen Faust sich orientierten. | |
Die drei Stücke des Albums waren ausufernde Klangcollagen, in denen die | |
Grenzen zwischen Musik, Sound und Lärm verschwammen. Kunst mithin, kein | |
Kommerz. Entsprechend gering war die Resonanz bei deutschen Kritikern wie | |
zeitgenössischen Plattenkäufern. „So far“ stellte sich als zugänglicher | |
heraus, zumal was den Hit „It’s a Rainy Day, Sunshine Girl“ betrifft. | |
## First Genuine Example | |
Ansonsten aber prägten wieder Avantgardismen wie Atonalität, Dada-Lyrik, | |
Tape-Manipulationen, polyrhythmischer Free Jazz und dergleichen mehr den | |
Sound des Albums. Britische Musikkritiker:innen, darunter John Peel, waren | |
erneut begeistert: Faust, so schrieb etwa Ian MacDonald, seien „the first | |
genuine example of rock that Britain and America could not only never have | |
conceived“. | |
Insofern war es nur konsequent, dass Faust vom britischen Manager Richard | |
Branson und seinem 1972 gegründeten Virgin Label abgeworben wurden: Das | |
Marketinggenie Nettelbeck fertigte kurzerhand aus Überresten alter, im | |
niedersächsischen Dorf Wümme entstandener Sessions einen Zusammenschnitt | |
auf Albumlänge: „The Faust Tapes“ (1973) wurde von Virgin zum Preis einer | |
Single (49 Pence) veröffentlicht. | |
Die Rechnung ging auf. Das wieder eng an den Collagen- und | |
Musique-concrète-Techniken des Debüts orientierte Billigalbum kam mit über | |
50.000 verkaufen Exemplaren vorne in die britischen Charts. Der dann in | |
England aufgenommene Nachfolger „Faust IV“ markierte erneut eine Rückkehr | |
zu mehr kommensurablen Sounds, zumal dank des groovy Tracks „Krautrock“, | |
der öfters fälschlich als Namensgeber für die gesamte Musikrichtung | |
bezeichnet wird. | |
## Transnationale Qualität | |
Dass bei Faust mit dem Franzosen Péron und dem Österreicher Diermeier zwei | |
Gründungsmitglieder gar keine „Krauts“ waren, wirft ein bezeichnendes Licht | |
auf die transnationale Qualität jener als urdeutsch gelesenen | |
Experimentalmusik der 1970er Jahre. Dementsprechend verzichteten Faust auf | |
deutsche Texte, sondern sangen mal auf Französisch, mal auf Englisch, oder | |
gleich in unverständlichem Kauderwelsch. | |
Gerade weil sich [6][Krautrock] von jeder Anrüchigkeit, „deutsch“ zu sein, | |
so vehement zu befreien suchte, indem die Künstler:Innen unbekanntes | |
Territorium betraten, vermochte ihr Sound eine derart starke und | |
langanhaltende Wirkung auszuüben auf so unterschiedliche, später | |
einflussreiche Bands wie Sonic Youth, Throbbing Gristle und [7][Tortoise]. | |
Das musikalische Nachleben von Faust ist eine faszinierende Geschichte von | |
Irrungen und Wirrungen. Nachdem sich Nettelbeck 1975 als Manager zurückzog, | |
um bis zu seinem Lebensende die bibliophile Kulturzeitschrift Die Republik | |
herauszugeben, verschwand die Band zunächst in der Versenkung. In | |
unterschiedlichen Besetzungen begann man ab den 1990ern wieder, live | |
aufzutreten, sowie bis heute mithilfe von jüngeren Musikern wie dem | |
US-Künstler Jim O’Rourke bemerkenswerte neue Alben zu veröffentlichen. | |
## Explodierender Fernseher | |
Mein einziges Faust-Konzerterlebnis vom Oktober 1998 in der Londoner | |
„Highbury Garage“, begann damit, dass Diermeier einen Fernseher zu Boden | |
warf, damit die resultierende Explosion den musikalischen Auftakt bildete; | |
zum krönenden Ende der Vorstellung pumpten Faust Unmengen Tränengas ins | |
Auditorium. Beim fluchtartigen Verlassen der Garage entstand folglich eine | |
kleine Panik, Feuerwehr und Polizei rückten an. | |
Die fabelhafte Box „Faust 1971–1974“ vom Hamburger Indie-Label Bureau B | |
enthält neben den vier Kernalben noch zwei weitere Werke mit allerlei | |
interessantem Archivmaterial, sinnig als „Momentaufnahmen“ betitelt. | |
Highlight aber ist das bislang unveröffentlichte, sagenumwobene fünfte | |
Album, welches hier den Titel „Punkt“ trägt. Es entstand 1974 in | |
[8][Giorgio Moroders Münchner Musicland Studio], wo sich Faust unter dem | |
Vorwand, Virgin würde die Aufnahmen bezahlen, eingeschmuggelt hatten. Als | |
die Lüge ans Licht kam, floh die Band kurzerhand; die Bänder durften nicht | |
veröffentlicht werden, finden so aber am Ende dennoch Gehör. | |
Fausts Radikalität war und bleibt ein störrischer Stachel, dem auch die | |
Historisierung von Krautrock, welche sich angesichts der derzeitigen | |
50-Jahres-Jubiläen allenthalben vollzieht, nichts anhaben kann. „Faust | |
1971–1974“ liefert eine höchst willkommene Gelegenheit, ein Monument der | |
westdeutschen Gegenkultur zu besichtigen. Die widerspenstige Energien der | |
Band kann die gegenwärtige Popkultur nämlich sehr gebrauchen. | |
8 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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