# taz.de -- 100 Jahre Tuli Kupferberg: Wellen im Underground | |
> Tuli Kupferberg ging radikale Wege, um ohne Arbeit zu leben. Nun wäre der | |
> Beatnik, Rockstar, YouTuber, Anarcho und Pazifist 100 Jahre alt geworden. | |
Bild: Tuli Kupferberg, circa 1971 im Film „Mysteries of the Organism“ | |
New York, Lower East Side: Wiege des Underground, wie es ihn nicht mehr | |
gibt. Hier kamen sie ab Anfang der 1950er zusammen: Folksänger*innen, | |
Jazzfans, Künstler*innen, Filmemacher*innen, Dichter*innen, Linke und viele | |
andere, die auf der Suche nach alternativen Kunstentwürfen oder einfach nur | |
einem Lebensstil jenseits des bedrückenden Konservatismus jener Zeit waren. | |
Nicht nur künstlerisch wurde experimentiert, auch mit Sex und Drogen wurde | |
kreativ herumprobiert. Mittendrin und an allen Fronten tätig: [1][Tuli | |
Kupferberg, der am 28. September hundert Jahre] alt geworden wäre. | |
Wer war Tuli Kupferberg? Was war Tuli Kupferberg? Fast alles: [2][Beatnik, | |
Dichter, Rockstar, YouTuber, Jude, New Yorker, Trotzkist, Pazifist, | |
Psychologe, Bibliothekar, Bohemian und „Luftmensch“] – ein jiddischer | |
Ausdruck für Menschen, die sich nur mit Gedanken, nicht mit praktischen | |
Dingen beschäftigen. | |
Naphtali Kupferberg wuchs in einem Jiddisch sprechenden Haushalt in | |
Brooklyn und an der Lower East Side auf. „Ich politisierte mich während der | |
Großen Depression und während ich am College war, interessierte ich mich | |
für die Trotzkistische Partei, wurde aber nie Mitglied“, erinnert er sich | |
2007 in einem biografischen Comic, den sein zwei Generationen jüngerer | |
Kollege Jeffrey Lewis zeichnete. | |
## Gedichte und politische Manifeste | |
Kupferberg studierte Psychologie und Englisch, graduierte „cum laude“ und | |
arbeitete für eine Weile als Bibliothekar, während er in seiner Freizeit | |
Gedichte und politische Manifeste schrieb, die in den zahlreichen in | |
kleiner Auflage publizierten Underground-Blättern erschienen, nicht zuletzt | |
in dem von ihm Ende der 1950er herausgegebenen Magazin „Birth“. 1961 | |
veröffentlichte Kupferberg „1001 Ways To Live Without Working“, das erste | |
einer Reihe von „1001 Ways …“-Mini-Ratgebern, in denen die Kunst der Liste | |
zu Poesie wird: | |
„51 – invent gunpowder | |
52 – print the Gutenberg bible | |
53 – print money | |
54 – steal money | |
55 – have money | |
56 – get along without money | |
57 – eat shit“ | |
1962 lernte Kupferberg am Rande eines von Jonas Mekas veranstalteten | |
mitternächtlichen Avantgarde-Filmfestivals den 16 Jahre jüngeren Ed Sanders | |
kennen, der ebenfalls als Dichter und radikaler Pazifist schon eine gewisse | |
Underground-Berühmtheit erlangt hatte. Die beiden freundeten sich an und | |
verwirklichten einige gemeinsame Projekte, etwa das Periodikum „Fuck You! A | |
magazine of the arts“. Und wenn es nichts zu tun gab, hing Kupferberg in | |
Sanders’ Buchhandlung „Peace Eye“ ab. | |
## Sex, Drogen, Vietnamkrieg | |
Ermuntert durch den Erfolg der Beatles, beschlossen die beiden 1964, ihre | |
Aktivitäten auf Musik auszudehnen. Als dritten im Bunde nahmen sie den | |
Texaner Ken Weaver dazu, der immerhin in einer Militärkapelle getrommelt | |
hatte und somit gewisse musikalische Kompetenz mitbrachte. Musikalische | |
Inkompetenz war aber genauso Programm wie die Radikalität der Texte über | |
Sex, Drogen, den Vietnamkrieg und die politische Situation in den USA. | |
Dazu kamen Vertonungen von Versen älterer und jüngerer Kollegen, darunter | |
William Blake, Matthew Arnold und Allen Ginsberg. Den ursprünglichen Plan, | |
die Band The Fucks zu nennen, modifizierten sie aus praktischen Erwägungen | |
und griffen stattdessen eine Idee Norman Mailers auf: In seinem Kriegsroman | |
„The Naked and the Dead“ machte Mailer aus „fuck“ jedesmal „fug“, u… | |
der Zensur vorbei zu bekommen. Kupferberg, Sanders und Weaver wurden The | |
Fugs. | |
Fürs Debütalbum, „The Village Fugs Sing Ballads Of Contemporary Protest, | |
Point Of Views, And General Dissatisfaction,“ holten sie sich die | |
Unterstützung der Holy Modal Rounders, eines geistesverwandten Trios, das | |
dem Gekrähe, Genöle und Gequake der drei Fugs und dem Gerassel, Gedengel | |
und Geschepper ihrer Bongos und Tambourine Folk-musikalische Souveränität | |
hinzufügte. Das 1965 veröffentlichte Werk nahm vieles vorweg, was in der | |
Folgezeit etwa von Bob Dylan, The Velvet Underground und Frank Zappa | |
genauer ausgearbeitet wurde. | |
## Die Fugs schlugen Wellen im Underground | |
Weder hatte es bis dahin die Idee von LoFi oder konzeptionellem | |
Dilettantismus in der Popmusik gegeben, noch gab es Songs, in denen | |
explizit über Sex gesungen wurde – und im nächsten Moment über die CIA und | |
die Freuden des LSD-Konsums. Die Musik der Fugs schlug Wellen im | |
Underground und erregte Aufmerksamkeit selbst in höchsten Kreisen: Paul | |
McCartney outete sich als Fan und fand es eine Weile amüsant, Autogramme | |
als „Tuli Kupferberg“ zu geben. | |
Nach zwei weiteren Alben in diesem Stil kam 1967 eine konzeptionelle Wende: | |
Die drei Kern-Fugs verabschiedeten sich vom LoFi-Geschepper, verstärkten | |
sich mit Profis aus der New Yorker Rock- und Jazz-Szene und unterzeichneten | |
einen Vertrag bei Frank Sinatras Label Reprise. Auf den dort | |
veröffentlichten Alben klangen The Fugs nun wie eine psychedelische | |
Rockband der Ersten Liga, die es von der musikalischen Finesse her mit | |
jeder Konkurrenz aufnehmen konnte, zusätzlich aber weiterhin in den Texten | |
dieselben kontroversen Themen beackerte. | |
Zugunsten der Durchhörbarkeit (wie man heute sagen würde) trat Ed Sanders | |
mit seiner charakteristischen Country-esken Stimme als Leadsänger in den | |
Vordergrund, während sich Kupferberg und Weaver mit ihren etwas knarzigen | |
Baritonen mehr zurückhielten. | |
1969 war Schluss, das zum Abschied veröffentlichte Live-Album „Golden | |
Filth“ zeigt, zu welcher kabarettistischen Brillanz es die Band zuletzt | |
gebracht hatte. Die drei Fugs schlugen danach völlig unterschiedliche Wege | |
ein: Sanders machte Karriere als Journalist und ging vor allem mit seiner | |
Charles-Manson-Biografie „The Family“ über die finsteren Seiten des | |
Hippietums in die Geschichtsbücher ein. Zusätzlich konnte er auf kleiner | |
Flamme seine Performer-Karriere am Leben erhalten. | |
Ken Weaver entwickelte sich zum Schwerstalkoholiker, der sich mühsam mit | |
unterschiedlichsten Jobs über Wasser hielt, bis er, nunmehr abstinent, in | |
eine Seniorenresidenz in Florida zog. | |
## Fugs-Reunion 1984 | |
Kupferberg machte einfach weiter. Er blieb in New York, wohnte weiter in | |
der Lower East Side und veröffentlichte weiterhin Poesie und politische | |
Texte, nahm an Lesungen und Performances teil und zog durchs Viertel mit | |
selbstverlegten Printprodukten. 1984 kam es zur Fugs-Reunion (ohne Weaver) | |
und bis 2010 veröffentlichte die neue Besetzung einige Alben, die aber | |
nicht mehr die Tiefenschärfe der Sixties-Produktionen besaßen. | |
Spannender und besser gealtert sind [3][die Videos, die Kupferberg mit | |
Jeffrey Lewis produzierte] und die man auf YouTube findet: quasi | |
Fortsetzungen seiner Magazine im zeitgemäßen Format. Ebenfalls großartig: | |
das Album „Works By Tuli Kupferberg (1923-2010)“, das Lewis 2018 zusammen | |
mit dem ehemaligen Holy Modal Rounder Peter Stampfel einspielte. | |
In seinen letzten Lebensjahren ging es Kupferberg gesundheitlich nicht mehr | |
gut und er konnte nicht mal mehr dem Tributkonzert beiwohnen, an dem kurz | |
vor seinem Tod unter anderem Sonic Youth, Lou Reed und Philip Glass | |
auftraten. Am 12. Juli 2010 starb der „älteste Rockstar der Welt“ | |
(Kupferberg über Kupferberg 1965), natürlich in New York. | |
25 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Album-von-US-Folkie-Jeffrey-Lewis/!5495865 | |
[2] /Nachruf-auf-Westberliner-Plattenhaendler/!5931471 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=kEcRpvWUXyc | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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